Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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haben sollte, so verzeiht mir. Es war nicht meine Absicht."

      Mit diesen Worten wandte er sich ab. Marc rief ihm einen Gruß nach. Da blickte der Mann zurück und lächelte.

      „Er geht einen schweren Gang“, sagte der Große leise, der unbemerkt zu ihnen getreten war. „Wo wollt ihr hin?"

      „Nach Osten."

      „Kann ich etwas für euch tun?" Dabei blickte der Mann auf den Koch, der bei den Satteltaschen kauerte.

      „Nein", sagte Marc schnell, „es ist alles in Ordnung."

      „Geht eurer Wege in Frieden und mit Glück! Vielleicht treffen wir uns einmal wieder? Ich würde mich freuen."

      Dann ritt auch er davon und ließ die jungen Leute und den Erpresser allein.

      Marc hatte sich in der Nacht eine lange Rede zurechtgelegt. Aber er kam nicht dazu, sie loszuwerden. Der Dürre sagte nämlich, als sie allein waren: „Ich habe es mir überlegt. Ich nehme doch alles. Ihr habt die Schätze sicher gestohlen. Weit würdet ihr damit nicht kommen. Und bevor euch jemand all das Gold und Silber abnimmt und euch vielleicht dafür umbringt, befreie ich euch lieber davon. Das bin ich euch schuldig. Die Zeiten sind schlecht und die Straßen gefährlich. Junge Erits, auch wenn sie Diebe sind, muss man vor sich selbst schützen. So und nachdem dies alles klar ist, vertraut mir an, wo ihr diese Schätze herhabt? Ich habe noch nie so viele herrliche Münzen auf einem Haufen gesehen."

      Plötzlich sprudelte es aus Marc heraus: „Ihr könnt das Geld nicht haben! Wir brauchen es für einen wichtigen Zweck. Wir haben noch eine weite Reise vor uns. Die können wir ohne Geld nicht machen. Wir geben euch etwas ab, aber ihr dürft nicht alles nehmen."

      „So, ihr habt eine große Reise vor euch? Wo soll es denn hingehen?"

      „Das kann ich euch nicht sagen. Aber wir brauchen das Geld wirklich! Es geht um eine große Sache!"

      „Da bin ich gespannt. Ich bleibe zwar bei meinem Wort und erlöse euch von der schweren Last. Aber du hast mich neugierig gemacht."

      „Er redet dummes Zeug“, schaltete sich Akandra ein. „Wir sind lediglich von zu Hause durchgebrannt."

      „Halte dich 'raus, wenn sich Männer unterhalten“, schnauzte sie der Fremde an. „Also los, Kleiner, raus mit der Sprache, sonst setzt es was!"

      Er ging auf Marc zu und schlug ihm ohne Vorwarnung so heftig ins Gesicht, dass dieser betäubt liegen blieb. Bis der Junge wieder zu sich kam, holte der Fremde die Erit-Ponys und sein Pferd. Er sattelte die Tiere und lud das Gepäck von Marc und Akandra auf.

      „Da ich euch um den Ballast erleichtert habe, braucht ihr die Tiere nicht mehr. Ich nehme sie mit."

      Marc stand ächzend auf und wollte sich auf den gemeinen Kerl stürzen, aber bevor er sich versah, hatte dieser schon wieder zugeschlagen. Auf dem Boden liegend erhielt er noch einen Fußtritt. Der dürre Mensch wollte sich gerade in den Sattel schwingen, als Akandra auf ihn zu trat.

      „Darf ich Euch helfen?" fragte sie freundlich.

      Der Große schaute sie erstaunt an. Er lächelte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

      „Du willst wohl einen richtigen Mann kennen lernen? Hast gemerkt, dass mit deinem Kleinen nicht viel los ist? Soll ich es dir besorgen?"

      Das Mädchen war nun ganz nahe bei ihm.

      „Ja, ich will einen Mann erleben“, sagte sie ruhig und rammte ihm ihr Messer bis zum Heft schräg von unten in den Unterleib.

      Der Dürre schrie auf und presste seine Hände auf die Wunde. Er wollte sich auf die Erit-Frau stürzen, ging ein paar Schritte auf sie zu und fiel dann zu Boden. Dabei schrie er markerschütternd. Marc war nun wieder auf den Beinen.

      „Komm“, rief Akandra. „Wir müssen hier weg. Weiß der Teufel, wen dieser Schuft alles zusammen schreit, und in welche Schwierigkeiten wir dadurch kommen."

      Sie drängte ihren Begleiter zu den gesattelten Pferden. Noch immer sprachlos stieg dieser auf, und gemeinsam jagten sie los. Das große Pferd ließen sie stehen. Das Brüllen des tödlich Verwundeten hallte durch den Wald und begleitete sie auf der Straße. Es klang wie der Schrei eines gemarterten Tieres und hatte nichts Menschliches mehr an sich. Es war nur noch Ausdruck der gequälten Kreatur. Im Schmerz sind sich Mensch und Tier gleich. Beim Leiden spielt die Fähigkeit des Denkens keine Rolle. In der Pein kehrt alles Leben zu seinen Anfängen zurück. Sie ist die große Gleichmacherin. Sie verwischt die Unterschiede zwischen allen Wesen. Nur vor dem Tod gibt es noch mehr Gleichheit.

      Akandra peitschte auf ihr Pony ein, und Marc musste es ihr gleichtun, wollte er den Anschluss an sie nicht verlieren. Endlich wurde das Geschrei des Verletzten schwächer.

      „Du bist mir ein schöner Held“, sagte Akandra als sie die Pferde langsamer traben ließen und sich im Sattel entspannten. „Du lässt dich vom ersten Wegelagerer, den wir treffen, ausrauben."

      „Was hätte ich denn tun sollen?" Marc war ganz unglücklich.

      „Kämpfen, mein Freund, kämpfen. Dafür wurden wir losgeschickt."

      „Ob er wohl sterben wird?" fragte Marc zaghaft.

      „Das hoffe ich doch. Er soll verrecken, bevor er uns weitere Gauner auf die Fährte schicken kann."

      „Hast du denn gar keine Gewissensbisse oder wenigstens Mitleid?"

      „Mit wem? Mit Schurken, die uns erledigen wollen? Gewissensbisse habe ich höchstens, weil ich ihn nicht völlig abgestochen habe. Dadurch habe ich ihm die Möglichkeit gelassen, andere Gauner auf unsere Spur zu hetzen. Du hast es immer noch nicht begriffen. Es ist Krieg, und wir sind in einer wichtigen Mission unterwegs. Von uns kann es abhängen, wie der Krieg ausgeht, und wie viele anständige Leute sterben müssen. Du trägst eine große Verantwortung! Ist dir das denn nicht klar!"

      Die letzten Sätze hatte sie gebrüllt, und Marc starrte sie erschrocken an. Ihr Gesicht war wild verzerrt und ihre Hände zu Fäusten geballt. Vor kurzem hatte sie einem Mann ihr Messer in den Unterleib gejagt und ihn so tödlich verwundet, dass er wahrscheinlich elend krepieren würde. Ratlos fragte er sich, was wohl in ihr vorginge, und ob sie keine Gewissensbisse habe.

      „Warum hast du die Waffen, die du bekommen hast, nicht eingesetzt? Meinst du etwa die Älteren haben uns diese wertvollen Gaben nur zum Spaß mitgegeben? In den Satteltaschen waren im Übrigen auch die Karten. Dieses Schwein hätte nichts Eiligeres getan, als sie unseren Feinden auszuliefern. Beinahe wäre unsere Mission schon zu Beginn gescheitert! Du gefährdest mit deinem Eigensinn die Welt, und ich muss die schmutzige Arbeit übernehmen." Akandra war wütend.

      „Schmutzige Arbeit“, schnaubte Marc empört, „das war keine schmutzige Arbeit. Du hast einen Mann getötet, ihn ohne Erbarmen umgebracht."

      „Er hatte auch kein Erbarmen mit uns. Er wollte uns ausrauben, und ich weiß nicht, ob er uns am Leben gelassen hätte."

      „Wenn du nur gewartet hättest. Sicher hätte sich eine Gelegenheit ergeben, bei der wir ihn hätten überwinden können, ohne ihn gleich umzubringen. Mein Gott, mit etwas Geduld und Einsatz unseres Geistes können wir die Probleme, denen wir begegnen, auch auf friedliche Art lösen! Ich hasse deine Rücksichtslosigkeit!"

      „Du bist eben nur ein Gärtnerjunge und wirst es immer bleiben!"

      „Ja, ich bin der Sohn eines Gärtners, und ich bin stolz darauf. Ich bin stolz, dass wir Gärtner um Regen und Sonne zittern, dass wir uns um Pflanzen sorgen, dass wir uns freuen, wenn etwas wächst, blüht und Früchte trägt. Ich bin stolz darauf, dass wir Leben schaffen und es nicht vernichten!"

      „So, ihr Gärtner vernichtet kein Leben? Und reißt dein Vater etwa kein Unkraut aus? Wer gibt euch das Recht, die eine Pflanze zu hegen und die andere zu vernichten?"

      Gerade als Marc antworten wollte, unterbrach sie ihn mit einer unwilligen Handbewegung und sagte: „Pst!"

      Dabei deutete sie zurück. Dort am Himmel, etwa in der Gegend wo