Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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Dieser war inzwischen ein großer und angesehener Herrscher geworden. Viele Könige in der Nachbarschaft hatten versucht, ihn mit ihren Töchtern zu vermählen, aber er hatte stets abgelehnt. Er konnte das Bild von Illumina nicht aus seinem Herzen verdrängen. Und als die Zeit gekommen war, machte er sich auf, ihr entgegen zu gehen. Beinahe zur gleichen Zeit nahmen sie ihre goldene Kugel in die Hand, ganz so, wie der Zauberer sie es gelehrt hatte. Dann stellte sich Allandoran Illumina vor und Illumina Allandoran. Aber das Bild, nach dem sie sich jeweils sehnten und wonach zu suchen sie die Rapulios beauftragten, war das, wie sie beim Abschied ausgesehen hatten. Inzwischen waren sie älter geworden, hatten sich verändert. Sie entsprachen gegenseitig nicht mehr dem Bild, das sie von einander im Herzen trugen. Die Rapulios aber erfüllten getreu ihre Wünsche. Sie suchten nach den Personen der Vorstellung. Da sie die aber nicht finden konnten, suchten sie nach Menschen, die dem gewünschten Bild nahekamen.

      Ich will die Geschichte nicht in die Länge ziehen. Ihr könnt euch schon denken, was geschehen ist. Voller Liebe ersehnten beide Liebenden den Partner, den sie vor Jahren verlassen hatten, und sie fanden einen Mann und eine Frau, die der Jugendliebe zwar ähnlich sahen, aber es nicht waren. Allandoran reichte seine Hand nicht Illumina und Illumina umarmte nicht Allandoran. Natürlich bemerkten beide rasch, dass sie sich getäuscht hatten. Enttäuscht stieß Illumina den Mann zurück, den ihr der Rapulio zugeführt hatte. Sie wollte den verlassenen Geliebten umarmen, aber nicht irgendeinen Mann. Doch um den zu finden, hätte sie wissen müssen, wie der geliebte Partner jetzt aussah. Nur dann hätte die goldene Kugel Erfolg gehabt. Ebenso erging es Allandoran. Als die Liebenden erkannten, dass die Rapulios für sie nutzlos waren, verzichteten sie auf die Werkzeuge des Zauberers und machten sich in der ganzen Welt auf die Suche. Doch als der Mann in der Heimat des Mädchens ankam, war sie auf dem Weg in sein Land, und als er dorthin zurückkehrte, durchstreifte sie längst andere Gebiete. Sie trafen sich nie wieder.

      Manchmal, wenn sie ganz verzweifelt waren, begnügten sie sich mit einem Liebhaber oder einer Geliebten, die ihnen die Rapulios zuführten. Doch sie schämten sich nach kurzer Zeit ihres Verrates und trennten sich wieder. Als Illumina älter wurde, ärgerte sie sich über die Versuchung durch ihren Rapulio und warf ihn weg. Dies dürfte der von Horsa sein. Allandoran allerdings benutzte die goldene Kugel immer wieder, um bis an sein Lebensende nach einem Ebenbild seiner Jugendliebe zu rufen.

      Horsa, du hast mir noch nicht erzählt, wo du zu dem Rapulio gekommen bist. Aber du weißt nun, was du in deiner Tasche verborgen hältst. Es ist ein zauberhafter Schatz, mit dem ich sehr vorsichtig umgehen würde“.

      Der alte Hüter des Berges hatte lange gesprochen und schwieg nun, während die Morgendämmerung hinter den Gipfeln der Berge im Osten aufzog.

      Die Taks hatten sich nicht mehr sehen lassen. Werhan war in einen unruhigen Schlaf gefallen.

      „Wir wollen uns umsehen“, sagte Montini zu Marga. „Horsa, du bleibst hier und wachst über Werhan“.

      „Was soll ich tun, wenn die Taks wiederkommen?"

      „Wir gehen nicht weit. Wirf mit Steinen und rufe nach uns. Aber schlafe nicht ein, das könnte tödlich sein“.

      Nicht weit von der Höhle erstreckte sich eine kleine Schlucht nach Süden. Dorthin führte Montini die Frau. Vorsichtig stiegen sie über Felsbrocken, hinter jeder Biegung konnten Feinde lauern. Endlich wichen die Felswände zurück und vor ihnen fiel der Boden steil ab. Sie standen auf einem Felsvorsprung und ein überwältigender Blick tat sich ihnen auf. Im Morgennebel lag das Heimland vor ihnen. Ganz klein und verschwommen sahen sie Wälder, Felder und Dörfer. Über den Flussläufen war der Nebel besonders dicht. Da lagen ganz nahe, beinahe zu ihren Füßen, die Ortschaften Eichelhain und Lindendorf, und die roten Dächer in der Ferne mussten Nadelhohl sein. Trotz der frühen Morgenstunde waren Kolonnen von kleinen Gestalten unterwegs. Sie marschierten in Reih und Glied über die Straßen und in die Felder. Dort schienen sie wie Ameisen emsig zu arbeiten.

      „Die Erits sind ein fleißiges Volk“, sagte Marga bewundernd zu ihrem Begleiter.

      „Ich glaube nicht, dass sie dies freiwillig tun. Sieh genauer hin!" antwortete dieser.

      Da erschrak die Frau, denn nun entdeckte sie, dass die Erits von großen dunklen Gestalten eskortiert wurden. Sie schwangen dunkle Gegenstände, in denen Marga Peitschen vermutete.

      „Mein Gott“, rief sie aus, „wer hat dieses arme Volk versklavt?"

      „Es sind Orokòr, die du da siehst“, sagte Montini. „Sie haben die Herrschaft im ganzen Heimland übernommen und zwingen alle Einwohner zu Fronarbeit. Ich beobachte die Entwicklung schon seit Tagen“.

      „Warum wehren sich die Erits nicht?"

      „Gegen diese Übermacht haben sie keine Chancen. Zudem sind die meisten ihrer Soldaten zum Feind übergelaufen oder wurden außer Gefecht gesetzt. So wie ich die Lage beurteile, ist das Heimland verloren. Was wollt ihr jetzt tun?"

      „Das muss ich mit den anderen besprechen“.

      Horsa saß im Eingang der Höhle und hatte vor sich einen Haufen Steine aufgeschichtet. Auch Werhan war inzwischen aufgewacht. Seine Schmerzen hatten etwas nachgelassen. Marga erzählte, was sie gesehen hatte. Horsa sprang entsetzt auf.

      „Das ist noch schlimmer, als ich befürchtet habe. Ich muss mein Land befreien“.

      Da lachte Montini: „Gestern wärst du beinahe von den Taks umgebracht worden, und die Taks sind vergleichsweise harmlos im Vergleich mit den Orokòr. Wie willst du dich mit diesen Heeren anlegen?"

      „Ich will nicht, ich muss!" sagte Horsa feierlich.

      Danach herrschte Schweigen in der Höhle.

      Endlich fragte Werhan mit gepresster Stimme: „Was wollt ihr mit mir machen? Ich bin verwundet und nur eine Last für euch“.

      „Wir kriegen dich schon wieder hin“, sagte Montini und ging aus der Höhle.

      Als er zurückkehrte, hatte er Moose und Farne bei sich, die er um Werhans Wunde wickelte. Dann schiente er das Bein und sagte: „Steh' auf!"

      „Das geht doch nicht. Die Wunde fängt sofort wieder an zu bluten, und ich bin froh, dass die Schmerzen etwas nachgelassen haben“.

      „Steh' auf!"

      „Lasst mich doch einfach hier in der Höhle liegen und geht eurer Wege“, sagte Werhan gepresst.

      „Ich bleibe bei dir“, mischte sich Marga ein.

      Doch der Alte kümmerte sich nicht um sie, sondern wiederholte: „Steh' auf!"

      „Aber so seht es doch ein, er kann nicht aufstehen“, empörte sich Marga.

      Unbeirrt sagte Montini noch einmal: „Steh' auf!"

      „Nun gut, ich will beweisen, dass es wirklich nicht geht“.

      Werhan knirschte mit den Zähnen und versuchte sich hoch zu stemmen. Der Alte fasste ihn unter der Schulter und zog, und plötzlich stand der junge Mann und machte, bevor er sich selbst versah, einige Schritte.

      „Es schmerzt gar nicht so sehr, wie ich erwartet habe“, sagte er erstaunt. „Nur die Beinschiene stört ein wenig“.

      „Dann ist dieses Problem also auch gelöst“, sagte Montini, „und wir können endlich aufbrechen“.

      Bald verließen sie den Weg und bogen ab nach Norden. Nun hatten sie nicht einmal mehr einen Pfad, sondern stolperten über Steinbrocken und zwängten sich durch Gestrüpp. Das Fortkommen war schwierig. Horsa sah zu Werhan zurück, der sich mit seinem kaputten Bein redlich abmühte. Er tat ihm leid, und an besonders schwierigen Stellen griff er ihm kräftig unter die Schultern und half ihm beim Klettern. Bald hatten sie die letzten größeren Pflanzen hinter sich gelassen und waren von nacktem Fels umgeben. Hier wuchsen nur noch Flechten und Moose. Je weiter sie noch oben stiegen, desto kälter wurde es, deshalb zogen sie ihre Mäntel fester um sich.

      Montini schien der Weg nichts auszumachen, denn er schritt zielstrebig aus. Als die jungen Leute eine Pause verlangten, murmelte er etwas