Rudolf Jedele

Shandra el Guerrero


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dicht neben seinen Habseligkeiten. Allerdings stak er sofort bis fast zu den Hüften in dieser weißen Masse – er kannte den Begriff dafür, er wusste dass es sich um kristallisiertes Wasser, um Schnee handelte – und wurde nun körperlich mit der schier unvorstellbaren Kälte konfrontiert, die in Außenwelt herrschte.

      Ein spontan aufsteigendes Gefühl befahl ihm, sich einfach fallen zu lassen, in der weißen Kälte zu versinken, die Augen zu schließen und zu sterben.

      Doch ein Erster Krieger gibt nicht einfach auf, er kämpft.

      Shaktar begann zunächst, sich durch mentale Manipulationen so gut es ging vor der immensen Kälte zu schützen. Er erhöhte seine Blutzirkulation und sorgte so dafür, dass der bösartige Biss des Frostes sofort soweit nachließ, dass die Mutlosigkeit und Angst in ihm zu schwinden begannen. Dann sah sich rasch um und stellte fest, dass der Landeplatz der Stadt von einem vergleichbar winzigen Gipfelplateau gebildet wurde, von dem aus es in alle Richtungen steil bergab ging.

      Er vermochte nicht zu sagen, weshalb er tat, was er nun tat, ab er schnappte sich seinen Sack, zerrte ihn zum südlichen Rand des Plateaus, setzte sich rittlings auf den Sack und stieß sich über die Kante. Sofort nahm er Fahrt auf, der Sack schoss nur so unter ihm dahin und in wenigen Augenblicken entstanden neue, unbekannte Gefühle in Shaktar:

      Freiheit, absolute Freiheit, süße, sauerstoffreiche wenn auch bitterkalte Luft füllte seine Lungen und der unbedingte Wille zu überleben übernahm die Herrschaft in seinem Denken. Noch einmal stieg ein Bild vor seinem geistigen Auge auf. Er sah die Gesichter der Räte, als er ihnen die Dummheit ihrer Handlung vor Augen geführt hatte, er sah die Erkenntnis in ihren Gesichtern aufsteigen und gleich darauf das blanke Entsetzen. Ein triumphierender Schrei kam wie eine Erlösung aus seiner Brust, stieg auf und verklang, während sein schwarzer Ledersack wie ein wild bockendes Pferd durch Eis, Schnee, Fels und Geröll glitt und Shaktar zu Tal und einem ungewissen Schicksal entgegen trug.

      Visionen

      Der Rat der Zwölf war erneut zusammen gekommen.

      Shaktars Verbannung und die dabei begangenen, eklatanten Fehler der verbliebenen Räte hatten die größte Krise ausgelöst, in der sich die fliegende Stadt Ninive jemals befunden hatte. Es war gekommen, wie Shaktar es vorher gesagt hatte. Nicht in der ganzen katastrophalen Bandbreite, aber bei weitem schlimm genug.

      Die für die Lebenserhaltung notwendigen System funktionierten weiter, denn Falsett, Shaktars ehemalige legale Frau hatte doch so viel über Shaktar gewusst, dass sie zusammen mit den Künstlichen Intelligenzen des Zentralcomputers einige seiner Passworte und Anmelderoutinen hatten herausfinden können. Ein paar andere hatten sie überbrücken können. So funktionierten alle Systeme und Ninive konnte weiter leben. Alle Systeme bis auf eines:

      Niemand war in der Lage, die Fusionsreaktoren weiter hochzufahren und die Stadt zum Fliegen zu bringen. Was immer sie versucht hatten, war ergebnislos geblieben. Die Steuereinheiten der Reaktoren reagierten auf keinen wie auch immer gearteten Zugriff und Ninive blieb auf der Spitze des Mount Everest sitzen, wie eine Glucke, die auf ihrem Nest sitzt und etwas ausbrüten will.

      Die Räte waren entsetzt gewesen, als sie erkannten, welche haarsträubenden Fehler sie begangen hatten. Sie hatten sich vollkommen von ihren Antipathien gegen den Ratsherr Shaktar und seine überlegenen Fähigkeiten leiten lassen und ihn ohne jede Weitsicht eliminiert.

      Magranell hatte die zweite Sitzung innerhalb weniger Tage einberufen, weil besprochen werden musste, wie man sich auf oberster Ebene weiter verhalten sollte. Er hatte persönliches Erscheinen aller Räte angeordnet und die Räte hielten sich an die Forderungen des Ältesten im Rat. Dies umso mehr, als Magranell die volle Unterstützung des neuen mächtigsten Mannes im Rat besaß. Lordkanzler Mordegay war in vielen Bereichen in die Rolle Shaktars geschlüpft und verstand es sogar halbwegs mit diesem Erbe zu Recht zu kommen.

      Nun saßen sie also in ihren komfortablen Sesseln vor ihren Konsolen und warteten auf die Ansprache des Lordkanzlers. Mordegay hatte tiefe Sorgenfalten auf seiner sonst so sorgfältig glatt gehaltenen Stirn und aus seiner Stimme war tatsächlich so etwas wie Bedrückung zu entnehmen, als er nun zu sprechen begann.

       „Schwestern, Brüder, Mitglieder des hohen Rates der fliegenden Stadt Ninive. Eine Serie schlimmer Ereignisse hat uns am heutigen Tag erneut zu einer Zusammenkunft gezwungen, obwohl die letzte erst wenige Tage zurück liegt.

       Wir haben unseren Bruder Shaktar aus der Stadt verstoßen, weil wir der Meinung waren, er vereinige zu viel Macht und zu großes Wissen in sich. Wir haben ihn mit einem mehr als fragwürdigen Prozess alle Macht genommen und ihn vermutlich in den Tod geschickt und uns zuvor doch keine Gedanken gemacht, wer ihn aus unseren Reihen ersetzen wird. Und wir haben versäumt uns seine Zugriffsrechte auf die Systeme der Stadt zu eigen zu machen.

       Shaktar ist spurlos vom Dach der Welt verschwunden, wir müssen davon ausgehen, dass er bereits tot ist, denn selbst ein Mann mit seinen Fähigkeiten kann in einer Todeszone wie dem Himalaja nicht am Leben bleiben.

       Was hat er uns aber hinterlassen?

       Ich fordere euch der Reihe nach auf, von den Problemen zu berichten, die seit seinem Verschwinden in der Stadt entstanden sind.

       Falsett magst du beginnen?“

       „Ich danke dir für dieses Privileg. Noch nie hat eine Rätin mit meiner geringen Erfahrung die Gelegenheit erhalten, als erste im Rat zu sprechen. Nun aber zur Sache:

       Shaktar hat seinen gesamten Privatbereich mit für uns nicht zu öffnenden Sperrcodierungen versehen. Wir können sein Haus nicht öffnen und wir sind nicht in der Lage, sein Magmobil zu benutzen. Ich habe zusammen mit den Künstlichen Intelligenzen sämtliche mir plausibel erscheinenden Zahlen-, Wort- und Zahlen-Wort- Kombinationen versucht ohne auch nur in die Nähe eines Erfolges zu geraten. Beide wichtigen Ressourcen sind für uns verloren.“

      Diese Nachricht war nicht mehr brandneu gewesen, die Räte waren auf den internen Kanälen bereits informiert gewesen und hatten sich mit dem Problem vertraut gemacht. Sie hatte sich auch schon eine Meinung gebildet.

      Natürlich, es fehlten wichtige Ressourcen, doch wie wichtig waren sie denn tatsächlich? Shaktars Haus und das Magmobil wären ohnehin nicht an seine ehemalige Frau Falsett sondern an seinen Nachfolger als erstem Krieger, an Nurmigo übergegangen. Es wäre also dessen Aufgabe gewesen, sich die erforderlichen Codierungen von Shaktar geben zu lassen.

      Hatte er dies getan?

      Nein.

      War durch den Ausfall dieser Ressourcen das Gemeinwohl der Stadt gefährdet?

      Nein.

      Damit war klar, wie der Rat entscheiden würde und als Sprecher des Rates verkündete Nestor auch gleich die getroffene Entscheidung.

       „Die beiden Ressourcen werden aus den Beständen gestrichen und stehen damit nicht mehr zur Verfügung. Nurmigo wird allerdings in seiner bisherigen Wohnung bleiben müssen und die üblichen Verkehrswege und Verkehrsmittel benutzen müssen, denn es gibt derzeit weder ein freies Haus noch ein ungenutztes Magmobil in der Stadt. Der Rat hat entschieden.“

      Nurmigo sah zu Falsett hinüber und beiden war die Enttäuschung über diese Entscheidung anzusehen. Doch eine einmal getroffene Ratsentscheidung wurde nur selten revidiert. Nicht jedenfalls, wenn die Revisionsgründe von so untergeordneter Bedeutung waren, wie das Wohlergehen eines einzelnen Ratsmitgliedes. Allerdings blieb ihm nicht viel Zeit, dem entgangenen Luxus nachzutrauern, denn er war der nächste, der berichten musste.

       „Die Tore der Shuttleschleusen lassen sich nicht mehr öffnen, wir können nur noch die kleinen, unbewaffneten Stratogleiter aus der Stadt schicken, denn ihre Schleusen sind auch mit den einfachen Codes der Räte zu öffnen. Bewaffnete Expeditionen können wir nicht mehr absetzen, ebenso wenig sind wir im Augenblick in der Lage, Agenten zu Aktionen mit Luftunterstützung zu entsenden. Das letzte Shuttle, das Ninive verlassen konnte, diente der Exilierung der