Rudolf Jedele

Shandra el Guerrero


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die Schleuse in die Außenwelt verschwunden war, gab es keinerlei Hindernis mehr für ihn selbst um sich mit Falsett zusammen zu tun. Doch auch Nurmigo kam Shaktar nicht näher als zehn Schritte.

      Shaktar stand vor der Schleusentür und nun fühlte er zum ersten Mal Panik in sich aufsteigen. Mit jedem Schritt den er getan hatte, war er dem Abgrund näher gekommen. Jetzt aber war er am Abgrund angekommen, es bedurfte nur noch eines einzigen Schrittes und dieser Abgrund würde Shaktar verschlingen, ohne jemals wieder etwas von ihm auszuscheiden.

       „Delinquent! Bist bereit? Dann öffne die Tür, tritt in die Schleuse. Trage dein Schicksal wie es dem Mann gebührt, der du so viele Jahre lang innerhalb des Schutzes von Ninive gewesen bist.“

      Shaktar kannte die Stimme, er musste sich dazu nicht umdrehen. Magranell, der Älteste Weise und Historiker der Stadt hatte zu ihm gesprochen. Mit seiner mild klingenden Greisenstimme hatte er schon zahllosen Delinquenten auf ihrem letzten Gang Mut zugesprochen und Trost, doch Shaktar wusste nur zu genau, dass Magranells Stimme ein angeborenes Talent war und nichts mit dem zu tun hatte, was dieser Mann tatsächlich fühlte und empfand. Magranell war tatsächlich härter als der härteste Kerastahl. Shaktar streckte seine rechte Hand aus und legte sie wiederum auf die für seine Funktion vorgesehene Stelle, worauf erneut ein sanftes Zischen erklang, die Schleuse wurde geflutet und im nächsten Augenblick würde sich die schmale Tür öffnen, damit er Ninive für immer verlassen konnte. Shaktars Magen zog sich zusammen, seine Eingeweide schienen zu einem eisigen Knoten zu werden, doch dann plötzlich wurde es ihm ganz leicht, denn er hörte Nurmigos Stimme in seinem Rücken und diese Stimme troff nur so von Häme und Schadenfreude und Genugtuung über die eigene, so deutlich verbesserte Situation.

       „So wie dir ergeht es einem Bürger, der im Laufe seines Lebens zu mächtig geworden ist und dabei nicht einmal mehr gemerkt hat, wenn er andere Menschen in den Dreck getreten hat. Du Shaktar, warst viel zu mächtig. Du hattest Privilegien wie kein anderer in der Geschichte der Stadt, du warst an höchster Stelle, umso tiefer wird dein Fall nun dafür sein.

       Geh jetzt, tritt hinaus in die Außenwelt, füge dich deinem Schicksal und verrecke dort draußen. Aber bis zu deinem letzten Atemzug erinnere dich an alles, was du heute verloren hast, weil du der Meinung warst, dich über alles und jeden hinweg setzen zu können. Geh und wisse, dass ich deine Frau für mich nehmen werde, dein Haus, sogar dein Magmobil, alles was du besessen hast, wird in Zukunft mir gehören.

       Geh und verrecke.“

      Shaktars Rücken versteifte sich bei diesen Worten, es hätte nicht viel gefehlt und Shaktar wäre herum gewirbelt und mit gezogenem Schwert auf Nurmigo losgegangen. Erst im letzten Augenblick gelang es ihm, sich zur Ordnung zu rufen, in dem Bewusstsein, dass selbst er nicht fähig gewesen wäre, einen Abwehrschlag der vereinten geistigen Kräfte des Rates der Stadt zu überleben. Stattdessen aber reifte in atemberaubender Geschwindigkeit ein ganz anderer Entschluss in ihm heran. Er trat noch einmal einen Schritt zurück und zur Seite zu dem Tableau hin, an dem man sich durch Fingerscan zum Benutzen dieses Durchganges legitimieren musste. Er war mit drei Identitäten gespeichert und alle drei Identitäten hatten höchste Prioritätsstufe. Mit einer dieser drei Stufen war er bereits abgemeldet, wenn er dem Sicherheitssystem auch noch mitteilte, dass die beiden anderen Identitäten ebenfalls die Stadt verlassen hatten, mochte das etwas auslösen, was sich noch keines der Ratsmitglieder auszumalen fähig war.

      Er führte die Abmelderoutinen in aller Gelassenheit durch und grinste dabei nur stillvergnügt vor sich hin, als die Räte in seinem Rücken zwar darüber tuschelten, was er da wohl tat, doch keiner von ihnen schenkte seinem Tun mehr als die minimale Beachtung.

      Als Shaktar fertig war und das System wieder im Ruhezustand befand, trat er erneut in die offene Tür und blieb dann so stehen, dass die Lichtschranke den Schließmechanismus nicht auslösen konnte. Nun drehte er sich um, wandte sich an die Gruppe der dreizehn Menschen in seinem Rücken und sprach Nurmigo mit leiser, ein wenig zynisch klingender Stimme direkt an:

       „Ja, mein aufstrebender und ehrgeiziger junger Freund und Nachfolger in so manchen Bereichen, ich gehe. Ob ich dort draußen verrecke, wird sich noch zeigen, doch bevor ich gehe, will ich dich und die anderen des Rates doch noch etwas wissen lassen.

       Du versuchst in meine Fußstapfen zu treten? Nun, bei Falsett mag dir das vielleicht sogar gelingen, doch das spielt keine Rolle. Du wirst wohl wissen, dass wir seit mehr als fünfhundert Jahren nur noch auf dem Papier Gefährten waren.

       Aber wo willst du noch mein Nachfolger werden?

       Du willst mein Magmobil fahren? Geh und versuch es, aber mach dir Gedanken darüber, mit welchen Mitteln du dem Fahrzeug erklären willst, dass du ich bist.

       Du willst in meinem Haus wohnen? Tu es, wenn du es schaffst durch die Tür zu kommen.

       Und du willst mein Amt als Erster Krieger übernehmen?

       Dann sag mir, von wem du die Zugriffsrechte auf die Arsenale, auf die Waffenkammern und Waffensysteme übernehmen willst, wenn ich dort draußen bin. Du wirst ein Problem haben.

       Und euch alle meine ehemaligen Kollegen im Rat der Zwölf frage ich:

       Wer wird wohl in meine Rolle als Oberster Techniker schlüpfen? Habt ihr euch schon einen Nachfolger für mich ausgesucht? Dann seht mal schön zu, dass er alle meine System – Legitimationen für die Antriebe, die Sicherheits- und Lebenserhaltungssysteme übernimmt und so wenigsten die kleine Chance erhält, die Betriebsweise der Systeme zu verstehen und zu begreifen, welche wichtigen Pflege- und Wartungsarbeiten durchzuführen sind. Wie er – oder sie - das allerdings bewerkstelligen will, ohne meine Abmelderoutinen zu kennen, wird wohl euer Geheimnis bleiben. Ich werde es aber sehen, denn ich werde von dort draußen beobachten können, wie ihr vergeblich versucht, das Dach der Welt wieder zu verlassen. Ich werde euch beobachten und wissen, dass euch in wenig mehr als zehn Tagen der Sauerstoff ausgeht, wie in sieben Tagen die Wassergewinnung und schon in drei Tagen die Lebensmittelrecycler ihren Dienst quittieren.

       Ich glaube, eure Chance zu verrecken ist nicht wesentlich kleiner als meine.

       Ich gehe jetzt, meine ehemaligen Freunde. Ich gehe und ihr könnt nichts tun, um mich aufzuhalten.“

      Mit einem entschlossenen Schwung warf Shaktar seinen schwarzen Ledersack quer durch die Schleuse, bis hin zu der Tür, die sich gleich öffnen und ihn hinaus in die Außenwelt lassen würde, dann tat er selbst den entscheidenden Schritt, trat aus der Lichtschranke heraus und in die Schleuse hinein. Erneut ertönte das leise, sanfte Zischen, als sich die Schleuse zur Stadt hin schloss, dann war er allein.

      Für einen Moment befand er sich in einem Raum der absoluten Stille, dann ertönte ein weiteres Geräusch und das war sehr viel lauter, als das Verschlussgeräusch einen Augenblick zuvor. Ein seltsames Knistern, ein lautes Knacken, dann ein schabendes Schleifen und dann kam die Kälte. Die Schleuse füllte sich wabernd mit weißem Nebel, denn die hereindringende Kälte ließ jedes Molekül an Feuchtigkeit, das in der Schleusenluft enthalten war sofort kondensieren und zu Raureif werden. Shaktar trat neben seinen Sack, starrte kurz hinaus und jetzt erst wurde ihm bewusst, zu was er vom Rat der Zwölf verurteilt worden war.

      Er starrte in die feindlichste Form einer Außenwelt, die nur vorstellbar war. Er sah seinen Tod und das einzige, was daran erfreulich war, mochte die Tatsache sein, dass es ein schneller Tod sein würde, der sein Leben beendete. ES war dunkel dort draußen, doch Shaktar wusste, dass sich in Außenwelt die Nacht ihrem Ende zu neigte und in wenigen Stunden die Sonne aufgehen musste. Wobei er sich absolut nicht sicher war, ob er diesen historischen Augenblick noch erleben würde.

      Shaktar nahm sein Schicksal an.

      Ein kräftiger Tritt mit dem Fuß und sein Sack flog durch die Schleusentür hinaus und landete mit einem dumpfen Geräusch in der weißen Masse, die den Gipfel des Mount Everest umhüllte, einer scheinbar weichen Masse, in der sein Sack sofort beinahe zur Hälfte einsank. Shaktar zögerte dennoch nicht mehr, es gab keinen Grund zu zögern, er sprang