Rudolf Jedele

Shandra el Guerrero


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Ninives, dazu auch der Oberste Techniker und damit zugleich der Erste unter den Zwölf hatte gegen eines der strengsten Gesetze der Stadt Ninive verstoßen und darüber war zu reden und abzustimmen.

      Als Erster Krieger war Shaktar für die gesamte Kampfmaschinerie Ninives und natürlich auch deren Einsatzbereitschaft zuständig, ebenso wie für die Ausbildung sämtlicher Agenten der Stadt.

      Die Aufgaben des Ersten Krieger für sich betrachtet, verlangten dem Amtsinhaber eine ganze Menge ab. Doch da war ja noch mehr, denn als Oberster Techniker überwachte er mit einem Stab von mehr als tausend Bürgern ersten Grades nicht nur die Einsatzbereitschaft der mächtigen Fusionsgeneratoren und damit sämtlicher Antriebs- und Versorgungssysteme der Stadt, er war auch für die Betreuung und Instandhaltung der Schleusensysteme nach Außenwelt und für alle Sicherheitssysteme innerhalb der Stadt zuständig. Damit nicht genug, unterstand ihm auch noch der gesamte Bestand an städtischen Flugmaschinen.

      Eine weitere, mehr als beachtliche Aufgabe.

      Niemals in der dreieinhalb Jahrtausende währenden Geschichte der Stadt hatte ein Mensch derart viele Funktionen und damit auch derart viel Macht auf sich vereint. Diese Bündelung wäre sicherlich auch niemals zustande gekommen, hätte es wenigstens in einem der beiden Sektoren der Macht auch nur eine halbwegs vertretbare Alternative zu Shaktar gegeben. Doch das war eben nicht der Fall.

      So war Shaktar zu dem geworden, was er war und ausgerechnet er hatte nun gegen eines der schärfsten Tabus der Stadt verstoßen?

      So war es und er bestritt es noch nicht einmal…

      Wie immer in all den Jahrtausenden, seit die fliegende Stadt Ninive gebaut und ihrer Bestimmung übergeben worden war, traf man sich in der gewaltigen, transparenten Kuppel, die unter dem höchsten Punkt des Schutzschirmes lag, denn nirgendwo in der Stadt stellte sich das Gefühl der Macht schneller und intensiver ein, als dann, wenn man sich im großen Ratssaal aufhielt.

      Die Atmosphäre des Saals war imponierend. Ein riesiger, runder Tisch aus silbern glänzendem Chromat, in dessen Tischfläche verschiedene Geräte und Bedienkonsolen eingelassen waren. Auch die Monitore am Platz eines jeden Ratsmitgliedes waren eingelassen, doch sie konnten je nach Lust hochgeklappt werden. Die Sessel bestanden aus einem halborganischen Material, das sich automatisch und in kürzester Zeit der Körperform und der Körpertemperatur des darin Sitzenden exakt anpasste und höchste Bequemlichkeit auch während der manchmal schier endlosen Sitzungen garantierte. Die stets auf gleich bleibende und optimal verträgliche Temperatur und Feuchtigkeit konditionierte Luft im Saal, vor allem aber der phänomenale Ausblick über die gesamte Stadt Ninive, all das zusammen schuf ein Bewusstsein der Macht, der Unangreifbarkeit, der überirdischen Fähigkeiten.

      Die acht Männer und vier Frauen kannten diese Empfindungen teilweise schon seit mehreren Jahrhunderten und sie genossen diese Gefühle immer noch und immer wieder aufs Neue.

      Nur an diesem Tag fiel es ihnen schwer, den üblichen Genuss zu empfinden, denn sie waren zusammen gekommen um über ein sehr delikates und zugleich äußerst fatales Ereignis zu reden und unangenehme Maßnahmen einzuleiten.

      Dieses Ereignis, es hatte eine ebenfalls unliebsame Vorgeschichte, die letztendlich zu dem nun anstehenden Problem geführt hatte.

      Vor etwas mehr als neunzig Jahren hatte einer der Ihren, der Magnat und Bioniker Falcon etwas getan, das bis zu diesem Tag niemand verstehen konnte:

      Er hatte Ninive, die fliegende Stadt, die Königin aller jemals geschaffenen fliegenden Städte heimlich und bei Nacht verlassen und keinem der Ratsmitglieder war es trotz ihrer teilweise enormen mentalen Fähigkeiten gelungen, auch nur den Hauch einer Spur von Falcon zu finden. Falcon war geflohen und blieb unauffindbar. Das allein war nicht weiter schlimm, vielmehr schlimm war, dass es ihm gelungen war, wertvollste Besitztümer der Stadt mitzunehmen.

      Insbesondere eines der Teile, die Falcon entwendet hatte, wurde in Ninive besonders schmerzlich vermisst, denn es gab in dieser an Wundern eigentlich nicht gerade armen Metropole nur sehr wenige Exemplare dieser Teile.

      Es wurde „die Haut“ genannt und besaß unerhörte Kräfte.

      Selbst schlimmste Verletzungen, ja sogar den Verlust von Gliedmaßen war die Haut in der Lage ungeschehen zu machen, wenn man sich in die Haut hüllte und ihr Zeit gab, die notwendigen Wunder zu vollbringen. Kleinere Verletzungen, wie man sie sich häufig auf der Jagd, aber auch bei der täglichen Handarbeit immer wieder mal zuziehen konnte, heilte sie im Nu,

      Der Verlust eines Armes, eines Beines oder auch nur eines Teils dieser Extremitäten bedurften zwar eines länger Aufenthalts in der Haut, doch wenn man danach – es konnte mehrere Monate dauern - wieder zum Vorschein kam, war man wie Neu.

      Ein solches wunderbares Ding, von dem niemand zu sagen wusste, wie es herzustellen war, ob es sich dabei um ein Gerät oder gar ein Lebewesen handelte, hatte Falcon entwendet. Der Verlust für Ninive war überaus schmerzlich, denn es gab nur zwei Dutzend dieser Häute. Verdammt wenig, um in einer Stadt wie Ninive, in der etwas mehr als hunderttausend Menschen lebten, alle vorkommenden Unfälle zu versorgen.

      Schon deshalb hatte der Rat der Zwölf damals erstmalig beschlossen, Agenten hinaus zu schicken, die feststellen sollten, ob Falcon etwa gar in der verseuchten und damit tödlichen Umwelt außerhalb der Stadt hatte überleben können. Dann sollte er getötet werden. War er dagegen schon tot, war seine Leiche zu suchen und in beiden Fällen war dafür zu sorgen, dass die Haut und auch die übrigen Dinge, die Falcon entwendet hatte, nach Ninive zurück gebracht wurden.

      Agenten, das waren niemals reinrassige Menschen, man setzte für Tätigkeiten außerhalb der Schutzschirme niemals den wertvollen reinen Genpool von Menschen aufs Spiel. Mutanten, Ergebnisse genetischer Versuche der Wissenschaftler Ninives viel diese Aufgabe zu.

      Es gab eine Vielzahl solcher Mutanten in der fliegenden Stadt, denn die Wissenschaftler – auch Magnaten genannt – experimentierten seit mehr als dreitausend Jahren mit der Erbmasse der Bewohner Ninives. Das Ziel war anfangs gewesen, den Fortbestand der Menschen der Stadt zusätzlich zur normalen Fortpflanzung und der Aufzucht in den Retorten und Brutnester auch auf diesem Weg sicher zu stellen. Doch schon bald hatte es sich gezeigt, dass es eine unlösbare Aufgabe war, der die Magnaten da nach jagten. Es gelang einfach nicht, Menschen exakt nach den Mustern derjenigen, die in Ninive lebten zu klonen. Die Abweichungen reichten von eklatant bis minimal, doch sie waren immer vorhanden. Dummerweise wurden die Abweichungen aber immer erst dann erkennbar, wenn die Klone – wie auch alle Menschen – Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts das Stadium der Geschlechtsreife erreichten. Dann erst begannen die Abweichungen zu Tage zu treten, dann wurden Unterschiede zwischen reinerbigen Menschen und Klone feststellbar.

      Die größten sichtbaren Abweichungen stellten bisher Mutationen dar, die nur noch entfernt Ähnlichkeiten mit Menschen besaßen. Zumeist waren sie kaum mehr als mittelgroß, aber mit schier unglaublichen Muskeln bepackt. Wesen, deren Gesichter zwar noch annähernd menschliche Züge besaßen, die aber auf ihrem ganzen Körper einen silbergrauen Pelz trugen. Statt einem Mund hatten sie durch vor gewölbte Kieferpartien beinahe so etwas wie Schnauzen und hinter ihren Lippen verbargen sich Gebisse, die selbst einem Wolf das Fürchten beibringen konnte. Die Hände und Füße dieser Mutanten waren anstatt mit Finger- und Zehennägeln mit einziehbaren Klauen ausgestattet, wie sie auch eine der großen Raubkatzen der alten Zeit auf Außenerde nicht stärker und schärfer besessen haben mochten. Sie blickten mit übergroßen Augen in die Welt, deren Pupillen in einem sehr intensiven grün leuchteten. Eine Eigenschaft, die sie mit allen Klonen Ninives gemeinsam hatten.

      Sprechen im menschlichen Sinn konnten diese Wesen nicht, dennoch war die Verständigung mit ihnen mühelos, denn sie verfügten über telepathische Fähigkeiten der höchsten Stufe. Oder besser gesagt, sie stellten die Telepathen der höchsten Stufe dar. Auch ihre Intelligenz konnte man schlichtweg als überragend bezeichnen, doch mit ihren missgestalteten Händen und Füßen waren sie zu jeder Art manueller Tätigkeit unbrauchbar. Ihre Sinne entsprachen denen der Raubtiere, denen sie ähnelten und so beschloss der Rat der Zwölf, diese Mutanten – obwohl sie trotz ihres extremen Äußeren sehr friedliche Wesen waren - in einer einsamen Region des südwestlichen Europas, der Halbinsel Iberia „auszuwildern“. Diese Gegend