Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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Erdgeschoss zurückgesetzt. Die dadurch enstandene Galerie hatte ein ökobewusster Architekt mit verschiedenen winterharten Gewächsen begrünt. Mit einem Sprung landete Jade zwischen Steinbrech und Fetter Henne und lauschte in die Nacht. Ein Käuzchen schrie. Der Parkplatz und die Straße waren von hier nicht einzusehen. Ein schmaler Fußweg führte um das Gebäude, aber auch der war menschenleer. Gebückt schlich Jade an der Fensterfront entlang. Plötzlich sah sie in zwei dunkle Augen. Ein haariges Gesicht glozte sie aus einem der Büros an. Es war ein Stoffaffe, den jemand ins Fenster gesetzt hatte, einer der harmloseren Versuche, sich am Arbeitsplatz wohl zu fühlen. Trotzdem schlug Jades Herz bis zum Hals. Noch drei Zimmer weiter, hier musste es sein.

      Meiers Fenster war seit Monaten defekt, das wusste Jade. Der Verschlussriegel war verbogen und rastete nicht mehr ein. Ein Ruck und das Fenster klappte nach innen. Einige Akten wurden beiseite geschoben und klatschten auf den Boden. Jade hielt den Atem an. Keine Alarmanlage wurde ausgelöst, keine eiligen Schritte näherten sich. Vorsichtig stieg Jade hinein, drückte das Fenster wieder zu und verkeilte den Riegel so gut es ging. Die Akten auf dem Boden waren mit Korrespondenz A–J, K–R und S–Z beschriftet. Jade stellte sie in der richtigen Reihenfolge zurück auf das Fenstersims.

      Sie knipste eine Mini-Taschenlampe an und schirmte sie mit der Hand ab. Das erste was ihr auffiel war, dass Meier ihren Schreibtisch an die Wand gerückt hatte, als wäre es nicht mehr vorgesehen, dass sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte. Auch der schiefe Turm von Pisa hing nicht mehr darüber, sondern – ein langes gebogenes Beduinenschwert, dessen Griff mit einer goldenen Kugel abschloss. Jade verzog den Mund, als hätte sie auf etwas Bitteres gebissen. Dann wandte sie sich dem Schreibtisch zu.

      Der Planfeststellungsbeschluss Salzstock Helldor, den sie vorgestern schon in Händen hatte, lag gleich zuoberst, als wollte Meier es ihr besonders leicht machen. Nur für den Dienstgebrauch hatte jemand unter die Überschrift gestempelt. Nicht für die Öffentlichkeit. Jade setzte sich auf Meiers überdimensionierten Bürostuhl und begann zu blättern.

      Schon bald wurde ihr klar, warum dies nicht für jedermanns Augen bestimmt war. In ihren Händen hielt sie eine Zusammenstellung alter und uralter Berichte über den Salzstollen Helldor von 1907, 1911, 1929, 1933. Jade hatte nie von ihnen gehört und die Aussagekraft der Messungen, die darin aufgeführt wurden, ging aus heutiger Sicht gegen Null.

      Der zweite Teil stammte von Meier selbst. Eine knappe Zusammenfassung der Untersuchungen, ergänzt durch die Schlussfolgerung, dass Helldor in allen Punkten ideal für eine Endlagerung sei. So ein Schmarrn. Was ritt Meier bloß, sich auf so dünnes Eis zu begeben? Und nicht nur ihn, denn den Planfeststellungsbeschluss hatten ja ebenso der Bürgermeister und der Vertreter der Bundesregierung unterzeichnet. Und als Vierter im Bunde Diopsid Kronk. War denn die politische Zwangslage allein schon Grund genug, so ein windiges Dokument zu genehmigen, oder gar mit dem Grafen ins Geschäft zu kommen?

      Dieses Machwerk konnte allenfalls Laien beeindrucken, die völlig unbeleckt in Fragen der Bergwerks-Sicherheit waren. Zum Beispiel Weißenhaller Lokalpolitiker. Einerseits. Andererseits war es brandgefährlich, wenn es in die falschen Hände geriet. Oder in die richtigen, je nach Standpunkt. Dann konnte es das gesamte Projekt kippen. Aber offenbar hatte Helldor 21 keine Gegner. In Weißenhall schien niemanden die Aussicht zu stören, demnächst auf einer strahlenden Deponie zu leben.

      Jade starrte das Schwert an, dass sich wie ein dunkles Mal von dem hellen Fleck abhob, den der Schiefen Turms von Pisa hinterlassen hatte. Wie eine Narbe auf der Wand. Sie schaltete den Tischkopierer ein. Zeit für Beweissicherung.

      Als sie den gebundenen Bericht auf der Glasplatte auseinander drückte, rutschte ein länglicher Zettel heraus, der weiter hinten zwischen die Seiten geschoben worden und ihr höchst bekannt vorkam. Ein Werbe-Flyer. Oase Liwa stand über sonnenbeschienen Palmen und goldgelbem Wüstensand. Besuchen Sie Abu Dhabi! Fast hätte Jade laut gelacht. Sieh an, Meier und die Behrli gemeinsam in Abu Dhabi? Köstlich!

      Und dann entdeckte sie die kaum lesbare handschriftliche Ergänzung auf dem Flyer. Gute Erholung!, entzifferte Jade. Sie holte tief Luft. Diese Klaue hätte sie unter tausenden wiedererkannt. Die vierte Unterschrift! Sieh an. Eine Reise nach Abu Dhabi, spendiert vom Chef des Konsortiums, das den Zuschlag für das größte Projekt erhalten hatte, das Weißenhall seit Kriegsende vergeben hatte. Jade spürte den Herzschlag bis in die Kehle. Jetzt hatte sie etwas in der Hand. Aus dieser Nummer würde Meier nicht so leicht rauskommen. Und Kronk auch nicht.

      Lächelnd steckte sie den Flyer zu den Kopien in ihrem Rucksack.

      Gute Erholung!

      Der Rückweg über die Dachbegrünung war nicht möglich, denn von außen hätte sie das Fenster nicht wieder schließen und schon gar nicht die Akten davor stellen können. Die Türen öffentlicher Gebäuden ließen sich aber in Fluchtrichtung jederzeit öffnen. Allerdings war Meiers Büro nun nicht mehr abgeschlossen, was er sicherlich bemerken würde. Aber so etwas konnte doch selbst ihm mal passieren. Jetzt musste Jade nur noch zurück in Anitas Büro und die Geranien wieder an ihren Fensterplatz stellen.

      „Halt! Keine Bewegung. Bleiben Sie ruhig!“

      kobold: hi

      MissVerständnis: hi

      kobold: gibz neuigkeiten

      MissVerständnis: wer bist du

      kobold: auf eurer seite

      MissVerständnis: witzig

      kobold: ich weiß wer hinter dem helldor scheiss steckt

      MissVerständnis: so - wer denn

      kobold: kronk

      MissVerständnis: woher kennste den

      kobold: kennich eben

      MissVerständnis: haha

      kobold: der isn kobold & ich bin ein kobold

      MissVerständnis: haha

      kobold: wann wird eingelagert

      MissVerständnis: ka

      kobold: ?

      MissVerständnis: keine ahnung

      kobold: mm

      MissVerständnis: und?

      kobold: ich denke

      MissVerständnis: und?

      kobold: ich kann was machn

      MissVerständnis: was

      kobold: später

      MissVerständnis: sag schon

      kobold: helft ihr mir?

      MissVerständnis: wer sagt denn dass wir auch was machen wollen

      kobold: ciao

      MissVerständnis: eh!!!!!!!

      Er (oder sie) hatte sich ausgeloggt.

      „Halt! Keine Bewegung. Bleiben Sie ruhig! Sprechen Sie in ganzen Sätzen! Was wollen Sie von mir und wie ist Ihre Nummer? Ich rufe baldmöglichst zurück.“

      Jade stützte sich schwer atmend gegen die Wand. Sie hatte das vorausgehende Telefonklingeln nicht gehört. Nur diesen unglaublich witzigen Anrufbeantworter. Jetzt plapperte irgendeine Stimme auf englisch. Wahrscheinlich ein Anruf aus Ami-Land, wo zur Zeit die Sonne schien. Jade erreichte Anitas Büro und drapierte die Geranientöpfe wieder auf die Fensterbank. Verdammt, sie hätte sich merken sollen, wie die Dinger gestanden hatten. Zu spät.

      Sie verließ das Gebäude wie sie gekommen war durch den Keller, nachdem sie den Schlüssel zurück an seinen Platz gehängt und der Versuchung widerstanden hatte, vor das Alles ein Fast zu schreiben. Knut würde sich schon genug wundern, dass er vergessen hatte die Außentür abzuschließen. Vielleicht auch nicht. Gegen halb drei lag sie in ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Sie lauschte einem Hund, der weit entfernt den Mond anheulte.

      Es war verdammt noch mal immer das Gleiche. Nachdem am 22. April 2010 die Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko explodierte, im Meer versank