Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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Auf dem Display eine ihr unbekannte Nummer.

      „Ja?“

      Eine Weile lauschte sie einer männlichen Stimme, dann drückte sie das Gespräch weg.

      Al Mandin schaute sie fragend an. Jade ging auf ihn zu. Am liebsten hätte sie ihm das Handy zwischen die Zähne gedrückt.

      „Woher hat der meine Nummer?“

      „Wer?“ Er hatte die Frechheit unschuldig zu gucken.

      „Der, dem du sie gegeben hast.“

      „Ich habe deine Nummer niemandem … ach so, du meinst unseren Gast.“

      „Also doch“, sagte Jade. Und das einzige, was sie von einem Wutausbruch zurückhielt war, dass es sowieso egal war und dass es bald beendet sein würde. Nur noch dieser eine kleine Flug. Vorbei an der Heulenden Hex, das hatte Jade zur Bedingung gemacht, wenn Al wollte, dass sie mitflog. Und Al wollte! Jade lächelte unwillkürlich. Sie wusste nur zu genau warum, wie sie auch über alles andere bestens informiert war, seit sie Als Email-Account geknackt hatte. Wie konnte man nur so ein dämliches Passwort benutzen! Jade lächelte nicht mehr.

      „Was … was wollte er denn?“

      „Er wird sich etwas verspäten.“

      „Und warum?“

      „Frag ihn doch selbst.“ Jade hielt ihm ihr Handy hin.

      „Ist ja auch nicht so wichtig“, murmelte Al und wandte sich wieder der Cessna zu.

      Jade drehte sich weg. Sie musste sich zusammenreißen. Nicht dass er Verdacht schöpfte und den Flug abblies. Sie musste sich zwingen freundlich zu bleiben, zu ihm und zu den unablässig plappernden Botox-Lippen. Etwa eine halbe Stunde, hatte der fremde Gast gesagt. Er würde sich beeilen. Hoffentlich.

      Jade ließ ihren Blick über das Gelände schweifen. Es war ein sehr kleiner Flugplatz, der fast ausschließlich von Privatleuten genutzt wurde. Ein flacher Hangar begrenzte das Areal im Westen, daneben hatte ein heruntergekommenes Café ein paar Tische und Stühle nach draußen gestellt. Auf einer der beiden Pisten war soeben eine zweisitzige Piper Tomahawk gelandet, mehr war seit ihrer Ankunft nicht passiert. Trotz des Fluglotsenstreiks, der an diesem Wochenende den Linienverkehr in Norddeutschland lahmlegte, durften Kleinflugzeuge starten und landen, solange sie unter 3000 Metern blieben, hatte Al erklärt. Für deren Sicherheit war lediglich ein „Türmer“ notwendig, und der hatte heute einen recht übersichtlichen Job.

      Jade betrachtete die beiden Männer, die aus der Piper kletterten. Wie ein Schock durchzuckte sie der Anblick des jüngeren, besonders sein vorstehendes Kinn. Aber es war nicht der Wolf. Jade schloss die Augen. Diese Verwechslung suchte sie seit Monaten mit grausamer Regelmäßigkeit heim. Eine Zeit lang hatte sie kaum aus dem Haus gehen können, ohne hinter jedem Strauch, in jeder Gasse das Wolfsgesicht zu sehen. Begonnen hatte es an dem Tag, als sie auf dem Klinikgelände stand, den Rücken an die Eiche gepresst, und das tiefe Knurren hörte, das langsam um den Baum wanderte. Damals war sie ihm entkommen, hatte von Amanda, der Zehnkämpferin, erfahren, dass er sich schon öfter nach ihr erkundigt hatte, und war danach quer durch die Stadt und den Nebel vor ihren Augen bis zum Bronsky-Haus gerannt.

      Schwer atmend lehnte sie an der Haustür und suchte hastig den Schlüssel, während ihr Blick immer wieder die Straße absuchte. Es war niemand zu sehen. Oder jemand hatte sich perfekt verborgen. Leise betrat sie das dunkle Haus. Sie war eine Woche fortgewesen, aber vermutlich hatte das nicht mal ihr Bruder bemerkt, geschweige denn ihr Vater, es wäre nicht das erste Mal. Aber schließlich war sie eine erwachsenen Frau und musste sich nicht rechtfertigen. Als Jade endlich ihre Zimmertür von innen geschlossen hatte, hämmerte ihr Herz noch immer, als wollte es die Rippen durchschlagen. Erst spät in der Nacht, als aus Berylls und Karls Zimmer schon lange kein Laut mehr drang, kam ihr Atem zur Ruhe.

      Was war nur mit ihr los? War es normal, dass sie solche Panikattacken bekam? Bildete sie sich das alles nur ein? War das eine krankhafte Kettenreaktion? Sie hatte jemanden gesehen, dessen Gesicht so merkwürdig verzogen war – in Fleschbeck, der Typ an der Straßenecke – da hatte es begonnen. Dieser Anblick hatte sich in der Erinnerung verhakt und mit Mustern von Ästen in einem Frühlingswald verknüpft, oder später auf dem Klinikgelände mit einem Gesicht, dass sie durch einen Nebelschleier wahrgenommen hatte. Erging es anderen Menschen ebenso? Wenn sie zum Beispiel Jades Gesicht gesehen hatten?

      Sie sind doch nicht ganz gesund!

      Meiers Satz hallte in ihrem Kopf. Vielleicht war da was dran. Jade klammerte sich an den Fenstergriff und starrte in die dunkle Nacht. Irgendwo da draußen lauerte etwas. Und sei es nur eine monströse Ausgeburt ihrer Fantasie.

      Und plötzlich wusste Jade, was sie tun musste.

      Am nächsten Tag schlief sie lange. Sie hatte viel und unruhig geträumt, konnte sich aber nach dem Aufwachen an keine Einzelheiten erinnern. Das Haus war still, nur der Regen klatschte an die Fensterscheibe, genau wie damals. Unvermittelt tauchte eines der Traumbilder wieder auf. Ein Knall und neben ihr schlug der Kopf ihres Großvaters gegen die Windschutzscheibe. Airbags wurden bei Fiat erst viel später eingebaut. Jades Rettung war der riesige Teddybär, den sie zum achten Geburtstag bekommen hatte, und der ihren Kopf auffing. Nur ein Glassplitter traf sie und schlitzte ihre linke Wange bis knapp unter das Auge auf. Lange hatte sie nach der Operation in keinen Spiegel schauen können.

      Jade blieb fast den ganzen Tag im Bett. Nur gegen Mittag stand sie auf, um eine Fertigpizza zu wärmen und halb zu essen und mit Ronja eine Runde um den Block zu drehen. Dann legte sie sich wieder aufs Bett und schlief bald ein. Ihr Plan startete erst am späten Nachmittag, genauer um 17.30 Uhr. Eine halbe Stunde vor Büroschluss der Stadtverwaltung.

      Sie hatte den Wecker auf 16 Uhr gestellt. Jade duschte und aß den Pizzarest. Von ihrem Bruder hatte sie den ganzen Tag weder etwas gehört noch gesehen, und Karl kam erst gegen Abend zurück. Jade schlich auf weichen Turnschuhsohlen aus dem Haus. Sie hatte eine schwarze Jeans und einen dunklen Kapuzenpulli angezogen. Niemand war auf der Straße, soweit sie sehen konnte. Jade zog die Kapuze tief ins Gesicht und lief los.

      Nicht direkt zum Verwaltungsgebäude. Jade kannte sich aus. Sie nahm Seitengassen und Schleichwege und drückte sich in Hauseingänge um auf Schritte zu lauschen. Da waren aber keine. Atemlos stand sie schließlich um 17.34 Uhr hinter der Hecke, die den Behördenparkplatz umschloss.

      Sie konnte natürlich nicht den Haupteingang benutzen. Hallo Anita, wie geht’s dir? Fein, und dem lieben Heribert? Jade lachte leise.

      „Hör'n Se mal!“

      Jade fuhr herum. Eine kleine dicke Frau stand neben ihr. Ein Crogg, kein Zweifel, um diese Uhrzeit kamen sie häufig in die Stadt. Hinter ihr stand ein bis zum Rand beladener Einkaufswagen von Aldi.

      „Ham Se 'n Euro für mich?“

      „Ich …“ Jade kramte in den Taschen ihrer Jeans. Sie hatte tatsächlich kein Portemonnaie dabei. Sie zuckte bedauernd mit den Schultern. Das Gemurmel der Crogg-Frau klang nicht sehr freundlich, als sie sich samt ihrem Einkaufswagen entfernte. Jetzt musste Jade schleunigst von der Straße, bevor sie von weiteren Personen gesehen wurde. Sie drückte sich durch die Hecke.

      Ihren Büroschlüssel, der auch zum Gebäudehaupteingang passte, hatte Meier einkassiert, aber der Hausmeister ließ den Kellereingang tagsüber immer offen. Knut hieß er, Knut Irgendwie. Er müsse da ständig raus und rein, und wenn er die Zeit zum Auf- und Zuschließen zusammenrechnen würde, käme er auf eine lohnende zweite Mittagspause. Das hatte Knut ihr bei einer feuchtfröhlichen Betriebsfeier verraten, als er noch annahm, damit bei Jade Eindruck schinden zu können. Ihre Narbe würde ihm auch nichts ausmachen. Was in Jades Ohren klang wie: In der Not frisst der Teufel Fliegen. Schönen Dank auch!

      Jetzt kam ihr Knuts kleines Geheimnis zugute. Jade erreichte die Kellertreppe, ohne den Schutz der Anpflanzungen am Parkplatzrand verlassen zu müssen. Es hätte schon jemand sehr aufmerksam aus den Bürofenstern die Büsche beobachten müssen, um sie zu entdecken. Im Übrigen waren um diese Uhrzeit alle damit beschäftigt, ihre Schreibtische für den Feierabend aufzuräumen. Eine von Meiers Dienstanweisungen lautete: Verlass