Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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in früheren Zeiten sprach man von der Gelben Gefahr, heute ist sie präsenter denn je. Und damit komme ich zum letzten, aber wichtigsten Punkt meiner Ausführungen.“

      Einer der Anzugträger drehte sich um und eilte schnellen Schritts davon.

      „Um unsere Spitzenposition gegen die Konkurrenz aus Fernost behaupten zu können, gibt es nach meiner Überzeugung keine Alternative zur Atomkraft und, wie Herr Minister Forestier zuvor schon betonte …“, nichts davon hatte Forestier zuvor betont, „… zur Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke, wie sie im vergangenen Herbst von der Regierung beschlossen wurde. Das müssen, wenn sie ehrlich sind, auch die größten Bedenkenträger der Republik, namentlich die Grünen, einsehen, denn niemand will ernsthaft zurück in die Steinzeit, zu einem Leben ohne Strom. Deshalb dürfen wir nicht die Augen vor den aktuellen Problemen verschließen, getreu dem Motto: Was geht mich das an, bei mir kommt der Strom aus der Steckdose.“

      Niemand lachte.

      „Nein, ich möchte sogar sagen: Wir sind die wahren Grünen! Wir schaffen die Bedingungen für effiziente und umweltfreundliche Autos. Und wir haben den Immergrünen seit heute ihr schärfstes Argument geraubt. Denn wir halten die Lösung für die Archillesferse der Atomwirtschaft in Händen: Die Endlagerung des strahlenden Abfalls, jawohl! Helldor heißt die Lösung. Helldor, ein ungenutztes Salzbergwerk in meiner Heimatgemeinde Weißenhall, das seit nunmehr einhundert Jahren regelmäßig von Forscherteams untersucht worden ist. Wo sonst, frage ich Sie, haben wir über einen so großen Zeitraum verlässliche Daten über die Sicherheit einer Schachtanlage? Darum haben wir nicht den geringsten Zweifel, dass der gefährliche Abfall in Helldor unbeschadet die Zeiten überdauern kann und zukünftige Generationen sorglos durch blühende Landschaften spazieren werden, wie schon Altkanzler Helmut Kohl vorausgesagt hat. Meine Dame …“, Reineke sah sich um, auch die Dame war inzwischen gegangen, „… meine Herren, ein historischer Moment. Ich danke Ihnen.“

      Ela wollte im Boden versinken. Spärlicher Applaus begleitete ihren Vater zurück zu seinem Platz in der zweiten Reihe. Mit jovialem Lächeln trat Edouard Forestier wieder ans Mikrofon.

      „Lieber Herr Reineke, wir schätzen Ihre Kenntnis der internationalen Zusammenhänge und wünschen Ihnen noch eine angenehme Heimreise. Das Umweltministerium wird in Kürze zu ersten Beratungen zusammentreffen und die nötigen Schritte für das Projekt Helldor 21, wie zum Beispiel die Anbindung an das Schienennetz der Bahn und die Vorbereitung der Schachtanlage in die Wege leiten. Glück auf!“

      Hier endete der Bericht von der Pressekonferenz vor dem Berliner Reichstag. Ein Moderator begann, die Aussagen der Redner mit eigenen Worten zusammenzufassen, konnte aber keine zusätzlichen Informationen über den Zeitplan der Einlagerung oder die angepeilte Menge des Abfalls bringen. Ela schaltete den Fernseher aus.

      Jetzt war es also raus, offiziell. Man wollte Atommüll im Salzstock Helldor verschwinden lassen. Ela kannte sich dort bestens aus. Wie viele Weißenhaller Jugendlichen verdiente sie sich in den Sommerferien ein paar Euro mit Führungen durch die Salzstollen, die von HelldorTours organisiert wurden, einer kleinen Klitsche, die auch die Schlüssel zu dem rostigen Tor vor dem Haupteingang zur Unterwelt verwaltete, obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass es auch andere Zugänge gab. Diese Führungen waren schaurige Events mit Gruselgarantie, was bereits mit dem Namen begann. Schon das Wort Helldor ließ besonders amerikanischen Touristen wohlige Schauer über den Rücken laufen. Und die Jugendlichen widersprachen natürlich nicht der Übersetzung als Tor zur Hölle. In Wahrheit gingen die meisten Ethymologen davon aus, dass in dem Namen das mittelhochdeutsche hall für Salz steckte. Somit konnte Salztor eine richtige Übersetzung sein. Aber die Touris fühlten sich mindestens wie in der Vorhölle, spätestens wenn sie bei schummrigen Licht etwa fünfzig Meter untertage auf die Steingestalten stießen. Merkwürdig gekrümmte, halbverwitterte Gesteinsformationen, die verblüffend menschenähnlich aussahen. In den Legenden der Gegend wurden sie die Steinernen Krieger genannt, die eines Tages wieder erwachen und Rache für ihr langes bewegungsloses Ausharren nehmen würden.

      Die Jüngeren lachten über diese Geschichten und hatten die steinernen Gestalten Rolling Stones getauft, denn sie sahen den echten Stones – allen voran Mick Jager und Keith Richards – mit ihren verwitterten bemoosten Gesichtern nicht unähnlich …

      Wir in Weißenhall haben die wahren Stones!

      Ela schloss die Augen und konnte sie zum Greifen nah vor sich sehen.

      4

      Sonntag, 10. Juli, 9.00 Uhr. Flugplatz.

      Jade hatte sich über das rostige Geländer gelehnt, dass den Platz begrenzte. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr neun, aber von Fluggast Nummer vier war weit und breit nichts zu sehen. Hoffentlich ließ er nicht mehr lange auf sich warten. Jades Plan musste heute durchgezogen werden, eine bessere Gelegenheit gab es so bald nicht wieder. Hinter ihrem Rücken quiekte Beatrix wie Jade es vorausgesagt hatte. Sie hätte kotzen können.

      Genauso hatte sie vor drei Monaten mit der aufkommenden Übelkeit gekämpft, als sich die Tür zur Krankenstation mit einem beatrixmäßigen Quietschen öffnete. Hastig war Jade in den dahinterliegenden Flur geschlüpft und hatte sich blitzschnell in die Lücke zwischen zwei Wäschewagen gequetscht. Dort wartete sie mit angehaltenem Atem, bis der krankenhausgrüne Pfleger an ihr vorbeigegangen war. Auf Zehenspitzen schlich sie weiter. Sie vermied es, den Aufzug zu benutzen. In Aufzügen war sie für eine gewisse Zeit mit anderen Menschen eingesperrt, und diese anderen Menschen bekamen Gelegenheit sich ihr Gesicht zu merken, Fragen zu stellen. Das konnte man auf einer Treppe vermeiden.

      Jade erreichte das Erdgeschoss. In ihrem Kopf hämmerte noch dieser ekelhafte Schmerz, aber sie hatte sich nicht getraut, eine der Tabletten zu schlucken, die auf dem Rollwagen neben ihrem Bett aufgereiht lagen. In aller Eile hatte sie sich angezogen und das Zimmer verlassen. Sie wollte auf keinen Fall das Eintreffen einer Krankenschwester oder eines Arzt abwarten. Wer weiß mit welchen Mittelchen die sie ruhig gestellt hätten.

      Vor ihr lag ein breiter Flur, an dessen Ende sie nur noch eine Glastür von der Freiheit trennte. Neben der Tür befand sich der Halbbogen des Empfangtresens, hinter dem eine Frau mit Ringerstatur über eine Zeitschrift gebeugt saß. Jetzt möglichst unbefangen daran vorbei schlendern und wie selbstverständlich das Krankenhaus verlassen.

      „Hallo. Wo wollen Sie hin?“

      Jade war, als ob die Stimme der Rezeptionistin sie mit eisigem Griff im Nacken packte. Hastig drehte sie den Kopf und überlegte fieberhaft, was sie antworten sollte. Will nur schnell zum Kiosk. Habe meinen kranken Vater besucht. Frische Luft schnappen.

      „Ich … komme gleich wieder.“

      Jade starrte den Kerl mit dem Tropf in der hochgestreckten Hand fassungslos an. Die Rezeptionistin hatte gar nicht sie gemeint. Mit schnellen Schritten hastete Jade durch die Tür, die sich automatisch geöffnet hatte. Ein Blick zurück hätte ihr gezeigt, dass die Rezeptionistin den Patienten mit dem Tropf freundlich aber entschieden zurückführte und an einen der krankenhausgrünen Pfleger übergab. Aber sie sah sich nicht um. Jade versuchte nicht zu rennen, was der Ringerin sicher verdächtig vorgekommen wäre, doch ihre Beine erhöhten wie von selbst das Tempo. Hoch ragte der Kirchturm von Sankt Orbit über den Dächern von Weißenhall. Die Turmuhr zeigte 10.50 Uhr. Jade würde noch vor dem elften Glockenschlag vor Meiers Schreibtisch stehen. Sie wusste noch immer nicht, welcher Tag heute war, aber auch das würde sie herausfinden.

      „Frau Bronsky!“

      Sie hasste es. Sie hasste Anita Behrlis Stimme, sie hasste ihr schrilles Makeup, und besonders hasste sie ihren mitfühlenden Augenaufschlag. Man konnte davon ausgehen, dass Anita Behrli keine fünf Minuten später mit demselben Augenaufschlag jedem der ihr vor die albernen Büro-Highheels lief, die neuesten Neuigkeiten über Jade steckte, selbstverständlich unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit und mit größter mitfühlender Anteilnahme. Diese falsche Schlange.

      „Welcher ist heute?“

      Jade hätte sich ohrfeigen können, die Frage war ihr heraugerutscht.