Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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ein grinsendes Wolfsgesicht zu sehen. Kurz bevor es im Schwarz versank.

      Schwarz.

      Formen werden erkennbar, etwas glänzt in der Dunkelheit, rollt auf sie zu. Es ist riesig, gläsern, durchzogen von dunkelblauen Fäden. Jade sieht es mit weitgeöffneten Augen. Die Kugel kommt näher. Jade gleitet ins Innere. Sie atmet nicht. Die blauen Fäden schlingen sich um ihre Arme und Beine, über ihre Hüften, ihre Schultern, den Hals. Und bilden vor ihr einen Tunnel. Sie wird hineingesogen, weiter, tiefer. Plötzlich weiß sie, wo sie ist.

      Pass gut auf mein Kind, sagt die Frau, und Jade erkennt die vertraute Stimme. Komm ihnen nicht zu nah, warnt sie. Jade lacht. Achte auf die Unterirdischen. Nachts kriechen sie aus dem Berg, wenn die Menschen schlafen. Schon sind sie unter uns, mehr von ihnen als du glaubst. Und sie schauen in deine Augen, versenken dich in den Schlaf, nehmen dich mit auf die Reise ins Innere der Erde, sie schleppen dich in die Tiefe, wo sich die Menschen verirren, wo niemand dich retten kann. Doch wehe, wenn du fliehen willst. Dann sprechen sie das Wort, das uralte, das in der gläsernen Kugel verschlossen liegt. Dann wirst du zu Stein, wie der Schlafende Jäger, die Steinerne Agnes, der Watzmann und die Heulende Hex! Und wie die Croggs. Also hüte dich vor dem Wort, das verschlossen liegt unter blauer Flut an rundem gläsernen Ort. Sag es und alles wird Stein, dreh es und totes Gebein wird dein Diener sein.

      Jade schlug die Augen auf. Es war merkwürdig hell im Zimmer und es dröhnte in ihrem Kopf. Eine grellrote Wolke aus Schmerz flutete ihr Hirn. Und inmitten der Wolke verhallte das Wort und verschwand, bevor Jade es fassen konnte. Wieder hatte sie es gehört, und doch nicht gehört. Jade atmete schnell und starrte in ein verschleiertes Nichts. Lauschte dem verklingenden Echo, bis nur noch die Erinnerung an diese Frauenstimme blieb, an Katarina, ihre Urgroßmutter. Sie hatte zu ihr gesprochen wie damals, als Jade ein kleines Mädchen war. Von den Unterirdischen, den Kobolden im Salzberg, von der Steinernen Agnes und der Heulenden Hex. Von den Croggs. All das, womit man Kinder erschreckte. Und von der Kugel hatte Katarina gesprochen, dem Wort, das verschlossen liegt unter blauer Flut an rundem gläsernen Ort.

      Jade richtete sich ruckartig auf. Augenblicklich durchzuckte wieder ein stechender Schmerz ihre Schläfen. Sie schloss die Augen und wartete bis er nachließ. Die Glaskugel! Wo war sie? Im Bauch des Bären Bramabas. Jade holte tief Luft und ließ sich zurück in die Kissen fallen.

      Sobald sie die Augen wieder schloss, überfiel sie mit elementarer Wucht eine andere Erinnerung. Eine grüne Wand, die sich in rasendem Tempo näherte. Das vergebliche Treten des Bremspedals von diesem verdammten Peugeot, die Handbremse als letzte Hoffnung, die quietschenden Reifen. Und das Wolfsgesicht. Jade riss die Augen wieder auf. Sie hatte einen Unfall gehabt, sie befand sich in einem Krankenhaus. Welcher Tag war heute? Warum kam denn hier niemand?

      Auf dem Tischchen neben ihrem Krankenbett fand Jade eine Fernbedienung. Der Fernseher stand auf einem Bord, das dem Bett gegenüber an der Wand angebracht war. Er funktionierte.

      Der Umweltminister nahm beinahe die ganze Breite des Bildschirms ein. Eine Sondersendung aus der Hauptstadt, Dienstag nach Ostern, 8.30 Uhr. Ela setzte Teewasser auf und starrte auf den Fernseher, gleich würde ihr Vater sprechen. Gestern abend war er mit dem Zug nach Berlin gefahren, zu einer wichtigen Besprechung im Umweltministerium, das war alles, was er glaubte, seiner Tochter zur Erklärung sagen zu müssen. Als sei sie mit siebzehn nicht längst erwachsen. Vor Mittwoch käme er nicht zurück, aber Ela sei doch in der Lage, sich zwei Tage selbständig zu versogen. Ela hatte nur gegähnt.

      Mit einer dampfenden Tasse Tee hatte sie sich vor die Glotze gesetzt. Die Worthülsen von Edouard Forestier rieselten aus den Lautsprechern. Der Atomminister, wie Wolles langhaariger Alter ihn nannte, war angeblich ein Weggefährte von Daniel Cohn-Bendit gewesen, dem Obergrünen im Europaparlament, der bei der Pariser Mairevolution mitgemischt hatte, damals 1968. Aber Forestier hatte recht bald die Seiten gewechselt, aus Enttäuschung über den inkonsequenten Kurs der Grünen, wie er nicht müde wurde zu betonen. Wer's glaubt. Heute saß er mit seiner geschmacklosen blau-gelb-gestreiften Krawatte für die Liberalen im deutschen Bundestag und fühlte sich Guido Westerwelle eng verbunden. Herzlichen Glückwunsch.

      Forestier redete ohne Punkt und Komma und Ela war schon jetzt genervt von seinen geschraubten Sätzen. Der Minister wurde umringt von einer Gruppe Anzugträger, unter denen Ela auch Jasper Reineke entdeckte, den Weißenhaller Bürgermeister. Ihren Vater. Aber plötzlich wurde Ela hellhörig. Forestier hatte einen Begriff verwendet, der erst kürzlich hier im Haus gefallen war. Jetzt wiederholte er ihn.

      „Um so mehr freut es mich, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Ihnen hier und heute mitteilen zu können, dass die Operation Bergfrieden erfolgreich verläuft. Nach aufwändiger und verantwortungsvoller Prüfung haben wir den idealen Ort für die Endlagerung von schwach bis mittelstark strahlendem Atommüll gefunden. Der Salzstock Helldor nahe des bezaubernden Städtchens Weißenhall bietet optimale Bedingungen und höchstmögliche Sicherheit auch und gerade für spätere Generationen. Bereits gestern Abend hat mir der Bürgermeister von Weißenhall, mein geschätzter Kollege Reineke, die Nachricht überbracht, dass die zuständige Genehmigungsbehörde sämtliche Hürden aus dem Weg räumen konnte. Meine Damen und Herren, begrüßen wir Jasper Reineke.“

      Ela vergaß ihren Tee und starrte auf den Bildschirm. Operation Bergfrieden, sie hatte sich nicht verhört. Nie würde sie die heisere Stimme des Wolfsgesichts vergessen.

      Applaus. Die Herren und eine Frau klatschten routiniert und Jasper Reineke trat mit einem Papierstapel bewaffnet und stolzgeschwellter Brust an das Rednerpult.

      „Sehr geehrter Herr Minister, meine Damen und Herren. Ich möchte mich zunächst herzlich für die Gelegenheit bedanken hier reden zu dürfen, und für die überaus freundliche Unterstützung des Umweltministeriums bei der Suche nach einer sicheren Lösung für eines der dringensten Probleme unseres Landes, wenn nicht der ganzen Welt.“

      Ela verdrehte die Augen. So ein Gesülze war noch schwerer zu ertragen, wenn es vom eigenen Vater kam. Fehlte nur noch, dass er seine daheimgebliebene Verwandtschaft grüßte.

      „Wie wir alle wissen, befindet sich die westliche Staatengemeinschaft derzeit in einer prekären Lage, eingekesselt zwischen stetig steigendem Energiehunger einerseits und der fatalen Abhängigkeit vom Öl andererseits. Gerade in dieser Situation sehen wir mit Sorge den neu entflammten Konflikt der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Arabischen Welt. Nach der Festnahme des unter Terrorverdacht stehenden Prinzen Feisal Abu Hassan …“

      Hier blickte Forestier erschrocken den Weißenhaller Bürgermeister an, der – das wusste selbst Ela – einen garantiert falschen arabischen Prinzennamen benutzt hatte.

      „… eskalierte der Streit zunächst auf diplomatischer Ebene. Inzwischen aber drohen die Wüstensöhne …“ Wüstensöhne! „… damit, dem Westen den Ölhahn abzudrehen. Was für Alternativen also bleiben uns noch?“

      Jasper Reineke legte eine wie er sicher meinte wirkungsvolle Pause ein und blickte ernst in die umstehenden ausdruckslosen Gesichter. Ela registrierte, dass einer der Anzugträger im Hintergrund bereits unruhig auf die Uhr schaute. Doch Jasper bekam nicht oft die Gelegenheit vor einem Millionenfernsehpublikum aufzutreten.

      „Meine Dame, meine Herren, unser leider nicht ganzjährig von der Sonne verwöhntes Land muss auf zusätzliche Energiequellen zurückgreifen. Solarstrom allein, auch in Verbindung mit der unzuverlässigen Windenergie, kann den steigenden Energiebedarf einer modernen Industrienation nicht decken. Auch und gerade weil unsere weltweit hoch angesehene Automobilindustrie vermehrt auf Strom als Antriebsquelle setzt. Auf umweltfreundliche Fahrzeuge …“, Reineke strahlte in Forestiers Richtung, „… deren Batterien …“, hier musste er vom Blatt ablesen, „… mit Lithium-Ionen-Akkumulatoren arbeiten, die als Anodenmaterial Kobalt enthalten, ein Metall, bei dem in Zukunft mit einem starken Anstieg der Nachfrage zu rechnen sein wird. Der globale Bedarf an Kobalt wird bis zum Jahr 2030 um das dreifache steigen, wie ich einem Positionspapier der deutschen Industrie entnehmen kann. Aber auch auf diesem Gebiet sind wir bestens aufgestellt, denn die Weißenhaller Firma PETRUS liefert Kobalt zu unschlagbar günstigen Konditionen, bei denen selbst die Chinesen nicht mithalten können.“

      Ela