Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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der Anderen. Aber wenn das so weiterging, würde sie es tun. Nächste Woche trafen sie sich seit längerem mal wieder in Wolles Keller.

      Meier war auf einer Dienstreise in den Kongo gewesen. Und Jade hatte ihrem Chef öffentlich vorgehalten auf Staatskosten Urlaub zu machen. Doch dann hatte Meier nach seiner Rückkehr – o Wunder – eine Anordnung des Außenministeriums vorlegen können, zwecks Inspektion einer kongolesischen Mine. Dort wurde Kobalt gefördert, ein Erz, das hierzulande in keiner nennenswerten Menge vorkam, weshalb keine deutsche Firma damit Geschäfte machte. Mit einer Ausnahme. Die Firma PETRUS, die ihren Hauptsitz in der Nähe von Weißenhall hatte, bot Kongo-Kobalt zu konkurrenzlos niedrigen Preisen an, dass selbst die für ihre Dumpinglöhne berüchtigten Chinesen nicht mithalten konnten. Das sei, hatte Meier mit einem triumphierenden Lächeln erklärt, der Grund seiner Reise gewesen. Im Übrigen, und dabei war er so dicht an Jades Gesicht herangekommen, dass sie die Speichelfäden zwischen seinen Zähnen zählen konnte, solle sich Jade nicht noch einmal erdreisten, den Sinn seiner Handlungen anzuzweifeln, sonst …

      Sonst! Jade war auf hundertachtzig und legte nach. Der Weißenhaller Kurier brachte ein Interview mit einer kritischen Angestellten. Darin hieß es, Amtsleiter Heribert Meier habe von dem Kongo-Trip keine einzige brauchbare Erkenntnis mitgebracht, dafür aber einen sehr menschlich aussehenden Kopf. Am nächsten Tag konterte Meier (ebenfalls im Weißenhaller Kurier, der Reporter hieß Jeff Stieneck), der Kopf sei aus Holz, und er hätte ihn als Geschenk von einem Bantu-Häuptling bekommen. Der wäre tödlich beleidigt gewesen, wenn Meier abgelehnt hätte. Im übrigen hätte er sehr wohl Erkenntnisse gewonnen, die er allerdings nicht mit jeder Sekretärin diskutiere.

      Jade hatte klein beigeben müssen. Sie musste in den folgenden Wochen mit den Sticheleien der Kollegen leben, besonders denen der Kolleginnen wie Anita Behrli. Bis sie dann nach einem Nervenzusammenbruch im Behandlungszimmer des Amtsarztes landete. Tabletten. Psychologischer Dienst. Ostseeklinik.

      Man hatte sie ausgebootet, davon war Jade überzeugt. Rechtzeitig zum Start des Genehmigungsverfahren für Helldor 21. Meier wollte keine undichte Stelle in seiner Behörde und die Berliner Regierung musste zeigen, dass sie die Probleme der Atomenergie im Griff hatte. Im Gegensatz zu den Japanern. Was kam da gelegener als ein sicheres Endlager? Möglichst schnell, möglichst geräuschlos und möglichst vor den nächsten Wahlen.

      That's it.

      Oder?

      Jade sog zischend die Luft durch die Zähne. Der Tee, den sie sich nach dem abendlichen Rundgang mit Ronja aufgebrüht hatte, war verdammt heiß. Sie hatte sich die Zunge verbrannt. Warum blies der kleine dreckige Zweifel wieder in ihren Nacken? Sie lauschte in das nächtliche Haus.

      Aus Berylls Zimmer drang die übliche finstere Musik. Jades kleiner Bruder war zwölf Jahre jünger, aber überragte sie um einen Kopf. Manchmal fühlte sie sich mit dreißig schon so verdammt alt. Sie ging ins Bad und betrachtete ihr Spiegelbild. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr sie die Narbe entlang, die linke Wange hinauf bis unter das Auge, das seit der Operation leicht schräg stand. Jade hatte sich an den Anblick gewöhnt, sie hatte sich gegen das Tuscheln hinter ihrem Rücken und die mitleidigen Blicke einen Panzer zugelegt. Inzwischen war sie zu der Überzeugung gelangt, dass trotz aller geheuchelter Freundlichkeit neunundneunzig Prozent der Menschen einen Sicherheitsabstand zu ihr hielten. Möglicherweise war das etwas zutiefst Menschliches, ein angeborener Reflex, eine Fluchtreaktion. Vor dem Andersartigen, dem Hässlichen, das sich trotzdem zeigte. Ein Weglaufen vor der Angst, selbst so hässlich sein zu können, wenn ein böses Schicksal es so wollte. Oder ein böser Graf, wie ihre Urgroßmutter gesagt hatte.

      Katarina.

      Jade verließ das Bad und betrat ihr Zimmer. Auf dem Bett saß Bramabas und starrte sie mit schwarzen Knopfaugen an. Aus einer aufgetrennten Naht am Bauch zog Jade die Kette hervor, die sie seit Kronks Auftritt in Meiers Büro nicht mehr angelegt hatte. Kronk, der auf seine Weise ebenso entstellt war, wie sie.

      Jade betrachtete die Glaskugel, die sie im letzten Herbst mit feinen Silberfäden umsponnen und an einer dünnen Kette befestigt hatte. Sie fühlte ihr Gewicht, ihre kühle glatte Oberfläche und sah die filigranen blauen Linien in ihrem Inneren. Wie sehr die Kugel sie an Katarina erinnerte. An ihre Geschichten, über die alle den Kopf geschüttelt hatten. Jade sah das faltige Gesicht ihrer Urgroßmutter vor sich, ihre grauen, fast blinden Augen, hörte ihre leise Stimme.

      Es war einmal ein Mann, der böse Bronko, der eine Zauberkugel besaß. Da kam der Bär Bramabas und nahm sie dem bösen Bronko fort. Er sprach das Zauberwort und sofort wurde der böse Bronko zu Stein. Da flogen tausend Schmetterlinge zum Fenster herein und zerschmetterten den bösen Bronko in tausend Krümel. Die verstreuten sie in der weiten Welt. Die Kugel aber versteckte der Bär Bramabas in seinem Bauch. Ich schenke ihn dir, kleine Jade. Hab ihn lieb, dann wird er dich beschützen, wo immer du bist. Aber achte auf die Kobolde. Die kommen nachts aus dem Berg, wenn die Menschen schlafen, denn sie suchen nach der Zauberkugel, die einst der böse Bronko stahl. Doch solange der Bär Bramabas bei dir ist, werden sie dir nichts anhaben können.

      Jade blinzelte gegen die Tränen. Sie hielt die Glaskugel vor ihr Gesicht und starrte hinein, bis sich ihr Blick in dem Netz der blauen Fäden verirrte. Und da sah sie es wieder, das Zeichen wie ein Wort in einer unbekannten Schrift, einer fremden Sprache. Und gleichzeitig hörte Jade dieses Wort, ohne dass ein Laut die Stille des Zimmers durchdrang. Jade hob den Kopf und lauschte dem Klang.

      Das Schlagen der Eingangstür dröhnte durch das Haus und zerstörte ihn. Jade schloss die Faust fest um die Kugel. Schwere Schritte schleppten sich die knarzende Holztreppe hinauf. Ihr Vater hatte wieder Überstunden gemacht. Jetzt würde er für Stunden in seinem Arbeitszimmer verschwinden. So ging das jede Nacht und Jade wusste warum. Sie schob die Glaskugel in den Bärenbauch zurück. Die Musik aus Berylls Zimmer war verstummt.

      Rebell: wer bistn du

      kobold: ich?

      Rebell: nee du

      Beryll alias Rebell verdrehte die Augen. Was für ein Blitzmerker war denn da in den WAAMPIRE-Chat geraten.

      kobold: wolte nur schaun

      Rebell: und - was interessantes gefundn?

      kobold: ihr habt gegne asse gekämpft

      Rebell: quatsch

      Wolles langhaariger Alter hatte gegen die Asse gekämpft und dafür die Site eingerichtet. Beryll, Ela und die Anderen nutzten sie nur zum chatten.

      kobold: und helldor?

      Rebell: was is mit helldor

      kobold: weiß nich

      Beryll schaute auf. Draußen war bereits finsterste Nacht. Kurz vor eins. Helldor? Er tippte wieder.

      Rebell: warum fragste dann???

      In dem Moment ging noch jemand online. MissVerständnis. Beryll wusste natürlich, wer sich dahinter verbarg.

      kobold: hi miss

      Ach, daher wehte der Wind. MissVerständnis hatte ein Date mit einem Kobold. Soso. Beryll wollte gerade eine „nette“ Bemerkung schreiben, als MissVerständnis schon wieder verschwunden war.

      Rebell: ;-))

      Funkstille. Beryll wollte schon nachlegen, dass da wohl nichts zu machen wäre, haha, da hatte sich auch kobold verpisst. Beryll grinste. Damit würde er Ela beim nächsten WAAMPIRE-Treffen in Wolles Keller kommen. Kurz überlegte er, ob er die elektronischen Spuren, die der kobold hinterlassen hatte, weiterverfolgen sollte. Die IP-Adresse war automatisch gespeichert worden, dafür hatte Wolles langhaariger Alter gesorgt, und Beryll wusste, wo sie zu finden war. Er gähnte und schaltete den Rechner und die Children of Bodom aus.

      Nebenan fand die Wanderung seiner Schwester mal wieder kein Ende. Jede Nacht lief sie wie eine Gefangene im Zimmer auf und ab, nie ging sie mit Freunden aus. Aber wer wollte schon mit einem solchen Gesicht Arm in Arm gesehen werden? Beryll schämte sich höchstens eine Zehntelsekunde für diesen Gedanken. Plötzlich verstummten Jades Schritte. Beryll lauschte. Auch aus dem