Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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die geweckt werden wollte um Rache zu nehmen.

      Jade starrte in die Dunkelheit vor ihrem Fenster. Morgen stand in aller Frühe die Fahrt nach Fleschbeck an, die Heribert Meier angeordnet hatte. Der Schlüssel in dem Couvert gehörte ausgerechnet zu dem Dienstwagen, den Jade hasste wie die Pest, bei dem die Kupplung so schlecht eingestellt war, dass sie die Karre garantiert abwürgte, noch ehe sie den Behörden-Parkplatz verlassen hatte, sehr zum Ergötzen der Kollegen. Und Kolleginnen. Angeblich war die Reparatur zu teuer und lohnte sich nicht mehr, doch Jade wurde den Verdacht nicht los, dass man sie mit Absicht unterließ. Warum war klar.

      Jades Augen brannten. Sie stellte den Wecker auf halb sechs und warf den Schlüssel in ihre Handtasche. Ein paar Stunden Schlaf mussten jetzt her, dringend. Sankt Orbit schlug eins, Mittwoch vor Ostern.

      Sie konnte sich nicht erinnern geschlafen zu haben und war um kurz nach fünf duschen gegangen. Noch vor Morgengrauen hatte sie den Peugeot vom Parkplatz der Behörde abgeholt und war ohne Probleme bis zur Autobahn gekommen. Ausgerechnet wenn das mal klappte, schaute kein Schwein zu. Nicht mal Anita Behrli.

      Ihr Auftrag lautete, in Fleschbeck Akten aus dem Stadtarchiv zu besorgen. Normalerweise wurde für so etwas einer der Praktikanten geschickt. Die Frage lag nahe, was Meier heute vorhatte, ohne dass Jade ihm auf die Finger schauen sollte. Unter anderen Umständen wäre ein Tag außerhalb des stickigen Büros und weit weg von Meiers Achselschweiß ein Geschenk gewesen. Und tatsächlich besserte sich ihre Laune mit jedem Kilometer, den sie zwischen sich und Weißenhall brachte.

      Die Fahrt verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle, sah man von den üblichen Macken des Peugeots ab. Zum Beispiel dass das Bremspedal erst reagierte, wenn man es fast bis zum Anschlag durchtrat. Aber dann bremste die Karre doch.

      Fleschbeck war ein kleines Kaff, etwa 30.000 Einwohner, endlose Reihen von geranienverzierten Fenstern, ein Fußball- und ein Schützenverein, sowie ein Problemviertel mit zwölfgeschossigen Wohneinheiten – die übliche provinzlangweilige Mischung, siebzig Kilometer nördlich von Weißenhall. Jade erreichte ihr Ziel bereits gegen halb zehn und erfuhr, dass man sie nicht so früh erwartet hatte. Der Kurier mit den Akten, so wurde ihr mitgeteilt, träfe erst gegen Mittag ein. Sie könne ja solange das schöne Städtchen besichtigen. Jade war alles recht, sie hatte keine Eile. Meier hatte ja gesagt, sie könne den restlichen Tag freinehmen und den Peugeot erst morgen zurückbringen. Als ob er die Verzögerung in Fleschbeck geahnt hätte.

      Jade verbrachte die Mittagsstunden in der Altstadt, die ihre spezielle Freundin Anita Behrli aus der Rechnungsprüfung sicher herzig genannt hätte, die Jade allerdings wie eine Horror-Puppenstube vorkam. Überall Zuckerbäckerstil, besonders die um die Gunst der Touristen bettelnden Restaurants. Trotzdem war der Salat mit den gebratenen Hühnchenstreifen okay und der Nachtisch-Espresso bekämpfte halbwegs Jades Müdigkeit.

      Gegen 13 Uhr sagte man ihr in der Stadtverwaltung, dass der Kurier angerufen hätte. Reifenpanne. Jade wagte nicht zu fragen, ob es sich um einen Auto- oder einen Fahrradreifen handelte. Es würde wohl noch mindestens zwei weitere Stunden dauern, so wurde ihr achselzuckend mitgeteilt, bis die gewünschten Akten einträfen. Ob man Jade ein Stück Kuchen anbieten dürfe?

      Jade lehnte ab und machte sich erneut auf den Weg. Diesmal nicht in die Zuckerbäckeraltstadt, sondern Richtung Problemviertel. Fast beruhigend, dass auch dieses sauber rausgeputze Städtchen eine Kehrseite besaß. Jenseits eines vierspurigen Straßenrings fanden sich die üblichen Siebzigerjahre-Bausünden, inklusive besprayter Mauern und Gestalten, die alles cool fanden, was aus amerikanischen Trash-Serien via TV in die Wohnzimmer schwappte. Manche grienten ihr offen ins Gesicht oder taxierten ihre Brüste, andere erschraken beim Anblick ihrer Narbe. Meistens hasste Jade so ein Spießrutenlaufen, aber manchmal, und in der letzten Zeit häufiger, suchte sie absichtlich diese Situationen. Sie stärkten ihre Leck-mich-Haltung. Jade genoss es, wenn einige vor ihrem Gesicht zurückwichen. Gerade die Coolen.

      Nur einer war ihr unheimlich. Er war lang und dürr, trug schwarze Jeans und schwarze Lederjacke, und lehnte an einer baufälligen Mauer. Das Auffälligste an ihm war sein hervorstehendes unrasiertes Kinn, das ihm etwas Wölfisches verlieh. Seine tiefliegenden Augen starrten Jade ohne zu blinzeln an. Jade versuchte möglichst lange seinem Blick standzuhalten, gab dann aber auf und schaute zu Boden. Und ärgerte sich auf der Stelle über die Unterwerfungsgeste. Fast körperlich spürte sie sein Grinsen, als sie im Abstand von zwei Metern an ihm vorbeiging. Sie beschleunigte ihre Schritte und wagte erst an der nächsten Straßenkreuzung sich umzuschauen. Von dem Wolf war nichts mehr zu sehen.

      Dafür stand sie nun vor einem Wohnblock, der sich erstaunlich von der allgemeinen Tristesse abhob. Wie eine Insel in all dem Grau-in-Grau erhob sich ein fünfgeschossiger Bau mit steil aufragendem, von Gauben mit buntbehängten Fenstern unterteiltem Dach. Über die gesamte Fassade zog sich das Bild eines riesigen Regenbogens, und davor befand sich eine Wiese mit zwei Fußballtoren, umsäumt von geschwungenen Blumenrabatten. Als dann noch lachende Kinderrufe zu hören waren und ihr von einem sonneblumenbestandenen Balkon eine Art Hobbitfrau in schottengemusterter Schürze zuwinkte, war es Jade zu viel der heilen Welt / wurde Jade die Überdosis heile Welt zu viel. Hastig drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zurück zur Stadtverwaltung. Der Kurier mit den Akten musste inzwischen eingetroffen sein.

      Dem Wolf begegnete sie nicht wieder. Noch nicht.

      Jade sang während sie fuhr, was ihr so selten passierte, dass sie sich nicht an das letzte Mal erinnern konnte. Gegen halb fünf war der Kurier endlich angekommen, zu Fuß, wie Jade erstaunt feststellte. Sie hatte drei dünne Mappen in Empfang genommen, quittiert und keinen Blick hineingeworfen. Der Inhalt interessierte sie nicht. Eine Angestellte der Stadtverwaltung hatte ihr einen dünnen Kaffee und ein Stück Nusskuchen aufgeschwatzt und Jade hatte diesmal nicht abgelehnt. Während sie das trockene Zeug mit der Kaffeeplörre hinunter spülte, hatte die Angestellte, eine ungesund dürre Vierzigjährige, hektisch telefoniert und gleichzeitig eine Straßenskizze auf ein A4-Blatt gekritzelt. Hatte sie dabei den Namen Meier genuschelt? Aber warum sollte der hier anrufen?

      Die Skizze lag jetzt neben Jade auf dem Beifahrersitz. Wenn sie schon das schöne Fleschbeck besuche, hatte die Dünne nach dem Telefonat gesagt, dann solle sie doch auf dem Rückweg die Südliche Alleenstraße nehmen. Gerade jetzt im Frühling und bei diesem Wetter leuchte das frische Grün an den Straßenrändern einfach bezaubernd.

      „Bezaubernd, kann ich Ihnen sagen, meine Liebe!“

      Jade hatte es noch nie gemocht, meine Liebe genannt zu werden, nicht von Meier noch von sonstwem. Aber gegen die Routenänderung hatte sie nichts einzuwenden, sie hatte ja mehr als genug Zeit.

      Jade schaffte es tatsächlich zum zweiten Mal am heutigen Tag den Peugeot ruckelfrei vom Parkplatz zu bekommen und die Karre erst an der nächsten Ampelkreuzung abzuwürgen, sehr zum Ärger eines eiligen LKW-Fahrers. Eine Viertelstunde später verließ sie die Stadt in südlicher Richtung. Die Wegbeschreibung der Dürren taugte jedenfalls.

      Jade sang jetzt aus voller Kehle. Dieser Tag hatte ihr gut getan, er war weit besser verlaufen, als sie nach der durchwachten Nacht befürchtet hatte. Die Sonne strahlte verschwenderisch und tatsächlich schien es, als ob die frischen Farben der Alleebäume das Auto, ihr Gesicht und sogar ihre Seele in Frühlingsgrün tauchten. Einmal kreuzte ein Reh die Fahrbahn, weit genug entfernt, dass Jade problemlos die Geschwindigkeit verringern konnte, auch wenn es ihr dabei wieder merkwürdig vorkam, wie tief sie das Bremspedal herunterdrücken musste.

      Weiter, jetzt weiterfahren bis in den Süden, über die Alpen, übers Meer fliegen und tief im Herzen von Afrika landen. Tunesien, Sambia, Nigeria, Kongo. Sehnsuchtsnamen.

      Jade sang. Und als es eine Steigung hinaufging, konnte sie sich einbilden, dass dahinter das Meer auftauchte. Jade gab Gas. Sie flog über den Gipfel und riss die Augen weit auf.

      Vor ihr fiel die Straße steil bergab, etwa einen Kilometer schnurgerade, und dann, sie konnte es von weitem schon an den Warnschildern erkennen, ging es in eine scharfe Rechtskurve. Jade presste den Fuß mit aller Kraft auf das mittlere Pedal, aber die Bremse fasste nicht. Jade sang nicht mehr, sie schrie. Erst kurz vor der Kurve fiel ihr die Handbremse ein, viel zu spät und jetzt ein tödlicher Fehler. Jade riss den Hebel