Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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      3

      „Wie willst du sterben?“

      Die Stimme des Alten war kaum zu hören und breitete sich in der vollkommenen Dunkelheit wie eine unsichtbare Schwingung aus. Selbst bei Licht war der Alte kaum von der steinernen Umgebung zu unterscheiden und mancher Tourist war schon nichtsahnend an ihm vorbeigeschlichen. Als er sich jetzt nach vorn beugte, schien es, als erwachte der Fels zum Leben.

      Bo atmete tief und verzog keine Miene. Seit der Alte ihn zum Lord der Helldor-Kobolde ernannt hatte, war er in unregelmäßigen Abständen sein Gast gewesen, trotzdem hatte er sich nicht an diesen Anblick gewöhnt. Auch nicht an das scharfe Knacken, das die Bewegungen des Alten begleitete. Wie knisterndes Salz, das zu lange in den unbenutzten Gelenken verharrt hatte. Ein betäubender salzgetränkter Geruch ging von ihm aus.

      „Der unsichtbare Tod ist schrecklich.“

      Bo schwieg. Der Alte war, so wurde erzählt, über sechshundert Jahre alt, und die Gelegenheiten ihm zuzuhören würden seltener werden.

      „Ich bin fast blind, aber ich höre besser als ihr alle. Ich höre das Echo, das durch das Salz läuft. Ich weiß, dass der Graf es nicht aufgegeben hat, es nie aufgeben wird. Die alten Geschichten nagen an ihm wie Ratten an einem Kadaver. Er will sich rächen und er versucht es wieder, jetzt in diesem Augenblick. Er hat einen neuen Verbündeten.“

      Bo wartete regungslos, während der Alte schweigend in ein fernes Nichts starrte. Der unsichtbare Tod, der mit den strahlenden Fässern in Helldor einziehen würde.

      „Er nennt es Operation Bergfrieden.“

      Bo nickte. „Ihr seid euch sicher, dass der Graf dahintersteckt?“

      Langsam drehte sich der Kopf des Alten, bis seine hinter den schmalen Schlitzen kaum wahrnehmbaren Augen auf Bo gerichtet waren.

      „Ich weiß es. Und ich weiß, dass wir uns nicht wehren können. Nicht wie früher.“

      Nicht wie früher, ergänzte Bo in Gedanken, als der alte Lord noch lebte und eine mächtige Waffe besaß.

      Der Alte deutete ein Nicken an, als hätte Bo seine Gedanken laut ausgesprochen. „Niemand weiß, wo sie jetzt ist. Auch der Graf nicht. Andernfalls hätte er uns längst vernichtet.“

      Bo betrachtete die verwitterten Steingestalten ringsum. Ihm war, als bewegten sie sich, als schlichen sie in den Berg hinein, die dreiunddreißig Croggs. Leise flüsterten sie, hielten inne und lauschten. Tief aus dem Fels drangen Schreie, mal lauter, mal weiter entfernt. Dann krachten Schüsse, gefolgt vom Sirren der Querschläger.

      Plötzlich tauchte am Stolleneingang ein gebückter Kobold auf und hastete an den Croggs vorbei. Es war Albion, der alte Lord des Helldor-Stamms. Woher er kam? Von der Müllerin, raunten die Croggs, der schönen, und ihr Kind werdet ihr an dem Schmetterling auf ihrer Schulter erkennen, dem Mal, von der Mutter vererbt. Solche Dinge flüsterten die Croggs, während sie dem Lord ängstlich nachblickten, bis er im Dunkel der Stollen verschwunden war, um seinem Volk in der Stunde der größten Gefahr beizustehen.

      Vom Weißenhaller Kirchturm wehten zwölf dumpfe Schläge herüber und waren bis hier unten zu hören. Mitternacht. 1941, das zweite Jahr des schrecklichen Krieges brach an. Die Croggs drängten sich eng zusammen und riefen ihre Namen in abgesprochener Reihenfolge in die Dunkelheit. Der letzte fehlte, der kleine Ragadisch, er war dem Lord in den Bauch des Berges gefolgt.

      Ragadisch drückte sich in eine Nische, die das unermüdliche Wasser in den Salzstein gewaschen hatte. Fast zum Greifen nah kämpfte Lord Albion, richtete die Faust mit der Zauberkugel auf seine Gegner und schrie das Wort gegen das Getöse der Gewehre an. Wäre der Lord nicht gekommen, keiner seiner Leute hätte das Gemetzel überlebt. So aber stockten immer mehr Angreifer mitten in der Bewegung, versuchten unter namenlosen Schmerzen sich weiterzubewegen, bis sie schließlich zu Stein gefroren, einer nach dem anderen.

      Ragadisch riss seine Augen erschrocken auf. Die Versteinerten waren Männer aus Weißenhall, er hatte sie gesehen, vor der Kirche, wenn er um ein Almosen bettelte. Aber da waren noch andere. Kobolde vom Mordent-Stamm. Schon stürmten sie in einer neuen Angriffswelle heran – jedoch ohne ihren Anführer, den sie Graf nannten. Auch sie hatten keine Chance gegen den mächtigen Helldor-Lord.

      Da hörte Ragadisch ein anderes Geräusch. Ein leises Knirschen wie Salz unter einer Stiefelsohle. Hinter ihm. Fast gleichzeitig wurde er von einem Schlag auf den Schädel nach vorn geworfen. Im letzten grellen Blitz, den sein Sehnerv ihm vor der unendlichen, alles verschlingenden Finsternis durchs Gehirn jagte, sah er den Pfeil. Einen eisernen Koboldpfeil. Wessen Bogensehne er verlassen hatte, würde für immer unbekannt bleiben. Ragadisch dachte noch, wie schade es war, dass der Pfeil sich ausgerechnet in den Rücken des Lords bohrte. Dann dachte Ragadisch nichts mehr.

      Schwarze Stiefel stiegen über Ragadischs leblosen Körper. Ein schwerer Mann näherte sich Albion, dem sterbenden Lord der Helldor-Kobolde.

      „Albion“, sagte der Mann, „ich bin dein Freund.“

      Albion versuchte mit der Hand den Pfeil in seinem Rücken zu erreichen. Er sackte noch weiter in sich zusammen, aber er klagte nicht, kein Stöhnen verließ seine Lippen. Hatte er ihn erkannt, den Bürgermeister von Weißenhall?

      „Ich habe davon nichts gewusst“, flüsterte der Mann und wies mit den Augen auf das Schlachtfeld. „Ich kam, um dem Morden ein Ende zu bereiten. Du kannst mir vertrauen.“

      „Hilf mir“, flüsterte Albion und streckte ihm seine blutverschmierte Hand entgegen. Darin glitzerte die Kugel. „Nimm sie und sprich das Heilende Wort.“

      Der Mann trat näher und lächelte. „Das ist deine letzte Chance.“

      „Ja.“ Albions Stimme war kaum mehr zu verstehen.

      Vorsichtig nahm der Mann die Kugel aus den schon kraftlosen Fingern des Lords. „Und wie lautet das Heilende Wort?“

      Er beugte sich tief zu Albion hinunter. Als er sich wieder aufrichtete, war das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Leise, fast sanft klang seine Stimme. „Hast du nicht eben ein anderes Wort zu meinen Leuten gesagt?“

      Albion starrt Bruno Bronsky mit ausdruckslosen Augen an.

      Die zweiunddreißig Croggs lauschten den näherkommenden Schritten. Sie klangen nicht nach Ragadisch. Und sie gehörten auch nicht Ragadisch. Panisch versuchten sie zu fliehen, aber Bronskys Stimme dröhnte in ihrem Rücken und das Wort brachte den Steinernen Tod. Bronsky lachte und rief es immer wieder, schrie und lachte. Und rannte an den sterbenden Croggs vorbei zum Ausgang. Lange noch hallte sein Gelächter bis in die dunklen Stollen, in denen die Todesschreie allmählich verstummten.

      Als am nächsten Tag eine tief gebeugte Gestalt mit zerfurchtem Gesicht an ihnen vorbeischlich, regte sich keiner mehr. Der Graf tastete sich in den Helldor-Stollen, bis er Lord Albion fand. Und zuerst mit Erstaunen, dann mit Schrecken sah er, dass die Kugel nicht mehr in Albions Hand war. So schnell es seine gebrechlichen Knochen erlaubten, eilte Graf Kronk wieder aus Helldor hinaus. Er hatte einen bösen Verdacht. Er würde Bronsky zur Rede stellen, besser noch, er würde ihn aus dem Weg räumen. Räumen müssen. Er brauchte die Kugel.

      Nur ein einziger Zeuge hatte Bronskys Mord und Kronks Besuch beobachtet. Der Zeuge war schon 1941 uralt und nicht mehr von den Salzfelsen zu unterscheiden gewesen. Jetzt schaute dieser Alte den Kobold an, den er nach Albions Tod zum neuen Lord von Helldor bestimmt hatte.

      „Was gedenkst du zu tun?“

      Bo erwachte wie aus einem Traum. Er starrte den Alten an. Der hatte ihm diese Szenen vor das innere Auge geschickt. Und jetzt stellte er die Frage, die Bo am meisten fürchtete, die schwerste, aber sie musste beantwortet werden. Bo zögerte.

      „Warte nicht zu lange.“

      Mit kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit glitt der Alte wieder in seine ursprüngliche Position zwischen den Felsen zurück. Bald war er nicht mehr vom umgebenden Gestein zu unterscheiden. Als seine Bewegung zum Stillstand kam, war