Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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die Sie nichts angehen, Frau von Bronsky. Wir sind schließlich Profis und waren nicht untätig während Ihrer … Krankheit. Und jetzt geben Sie mir Ihre Dienstschlüssel und verlassen augenblicklich das Haus. Ich möchte Sie nicht vor Ablauf der nächsten Woche hier sehen. Andernfalls sähe ich mich gezwungen die Polizei zu rufen. Und das hätte Konsequenzen. Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.“

      Jade wurde schwindelig. Sie stolpert ein paar Schritte rückwärts und der Schmerz hinter der Stirn meldete sich wieder. Und brannte entlang der Linie, die die Narbe über ihre Wange zeichnete.

      „Vielleicht gehen sie mal zum Betriebspsychologen“, hörte sie Meiers freundlich-besorgte Stimme durch den aufgekommenen Nebel, als sie ihre Büroschlüssel einfach auf den Fliesenboden fallen ließ. „Sie sind doch nicht gesund.“

      Jade wusste nicht, wie sie es bis hinunter auf den Behördenparkplatz geschafft hatte. Hier lehnte sie sich an einen Laternenpfahl und wartete, bis sich der Nebel wieder lichtete.

      Sie sind doch nicht gesund.

      Was passierte mit ihr, was passierte um sie herum? Warum hatte sie das Wolfsgesicht gesehen, kurz vor dem Unfall, als hätten sich die Blätter des Waldes zu einer Grimasse verzogen. Dieses Gesicht, das sie schon vorher gesehen hatte, vorher in Fleschbeck, in der Nähe dieses seltsamen Hauses mit der Regenbogenfassade. Zufall? Der Unfall, die Tage im Krankenhaus, an die sie sich nicht erinnern konnte. Über die sie unbedingt Auskunft bekommen wollte.

      Jade konnte nicht sagen, wie lange sie für den Rückweg gebraucht hatte. Zwischendurch war sie wie durch dichten Nebel gelaufen, jetzt klarte ihr Blick ein wenig auf. Sie stand auf dem Parkplatz, keine dreißig Meter vor dem Eingang des Krankenhauses. Auch die letzte Strecke würde sie noch schaffen. Irgendwer würde ihr Auskunft geben können, geben müssen. Dies war ein Rechtsstaat und niemand durfte ohne Grund festgehalten werden, nicht mal in einem Krankenhaus.

      Genau in diesem Moment öffnete sich die Eingangstür. Ihre Beine gefroren mitten in der Bewegung. In der Tür erschien ein großer leicht gebeugter Mann mit unrasiertem weit vorspringendem Kinn. Die Augen verschwanden in den tiefen schattigen Höhlen. Dreimal, viermal ruckte Kopf in verschieden Richtungen, als ob er die Umgebung absuchte, dann eilte er quer über den Parkplatz auf die mächtige Eiche zu, hinter der sich Jade verbarg.

      Jade spürte ihren Herzschlag bis in die Kehle. Sie wartete und hoffte, dass der Wolf an ihr vorbeilief und sie freie Bahn bis zum Eingang bekam. Stattdessen hörte sie wenige Sekunden später rasselnde Atemzüge auf der anderen Baumseite. Gleichzeitig kroch etwas um den Baum, das sie kannte. Muffig und dunkel. Und salzig. Der Geruch der Stollen von Helldor. Jade war oft dort unten gewesen. Als Kind mit Katarina, die ihr von den Kobolden erzählte. Sie kommen aus dem Berg, wenn die Menschen schlafen.

      Ein tiefes Knurren riss Jade aus ihrer Erstarrung. Sie spürte mehr, als dass sie es hörte oder sah, dass er im Uhrzeigersinn um den Baum kam. Schritt für Schritt. Ob er sie witterte? War ihr Geruch für dieses … Wesen ebenso intensiv, wie der Salzgeruch für Jade? Jade atmete lautlos mit offenem Mund und tastete sich ebenfalls um den Baum. Etwas knirschte unter ihren Füßen. Ein kurzer Blick nach unten zeigte ihr weiße Krümel. Und der Nebel kam wieder zurück. Wenn der Wolf jetzt die Richtung wechselte. Sie würde nicht schnell genug fliehen können.

      Fast hätte Jade geschrien, als er hervorschoss und mit langen Sätzen zum Ausgang des Parkplatzes sprang. Jade wagte nicht sich zu bewegen, bis er endgültig verschwunden war. Dann rannte sie, als ginge es um ihr Leben. Beinahe wäre sie direkt durch die gläserne Eingangstür des Krankenhauses geflogen, wenn die sich nicht im letzten Augenblick geöffnet hätte. Jade stützte sich auf den Tresen der Rezeption und glozte die Frau dahinter mit glasigen Augen an.

      „Warum bin ich hier?“, keuchte sie.

      Die Rezeptionistin war professionell, sie hatte in ihrem Job schon zu viele Überraschungen erlebt, um noch wirklich überrascht zu sein. Sie erhob sich aus ihrem Drehstuhl und fasste sanft Jades Handgelenk. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn so konnte sie jederzeit zupacken, wenn die Patientin fliehen wollte.

      „Wir werden eine Antwort auf Ihre Frage finden“, sagte sie sachlich, „kommen Sie bitte mit.“

      Die Frau, auf deren weißen Kittel Schwester Amanda stand, schob sich um den Tresen herum, ohne Jades Handgelenk loszulassen. Jetzt konnte Jade deutlich sehen, dass sie auch mit härteren Kalibern fertig wurde. Mancher Kerl hatte gegen sie keine Chance und Amanda war es nur recht, dass man das sah. Mit sanftem Druck dirigierte sie Jade den Fur entlang.

      „Sie suchen Doktor Grimminger, nicht wahr?“

      Jade nickte fast willenlos, obwohl sie von Doktor Grimminger noch nie gehört hatte. Sie konnte sich an nichts aus der Zeit von Mittwoch bis heute erinnern, weder an Orte noch an Personen. Sie war mit dem Peugeot in einen Wald gerast und in einem Krankenhausbett aufgewacht, das war alles. Amanda hielt vor einem Glaskasten, hinter dem ein glatzköpfiger weißbekittelter Mann saß und in einer Zeitschrift las.

      „Doktor Grimminger?“

      Er blickte erst auf, als er einen Abschnitt beendet hatte. In aller Ruhe schob er seine Halbbrille in die Stirn und betrachtete Jade.

      „Da ist ja unsere Ausreißerin.“

      Er schob seinen Stuhl nach hinten, erhob sich und ging zu einer seitlichen Tür. Ausreißerin hatte er gesagt. Sie war ausgerissen, ja klar, aus dem Krankenhaus abgehauen, weil man sie hier wegsperren wollt. Meier hatte sich anders ausgedrückt, aber letztlich hatte er das gemeint. Noch mindestens eine Woche. Und plötzlich meldete sich auch wieder der Schmerz hinter ihrer Stirn und blies etwas Nebel beiseite. Als der lächelnde Doktor aus der Tür trat, riss Jade an ihrem Arm. Augenblicklich, so als hätte sie jederzeit mit einem solchen Versuch gerechnet, schlossen sich Amandas Finger um ihr Handgelenk. Wie ein Schraubstock, wie ein Raubtiergebiss.

      „Nanana.“

      Jade schossen die Tränen in die Augen, aber der Griff war nicht zu überwinden. Es war aussichtslos, also presste Jade in ohnmächtiger Wut ihre Zähne zusammen.

      „Warum haben Sie das Krankenhaus verlassen?“ Doktor Grimminger schien ihre Wut und Anstrengung nicht zu bemerken.

      „Niemand hat das Recht, mich hier festzuhalten“, zischte Jade, und mit einem Blick auf Amandas Raubtiergriff: „Das ist Freiheitsberaubung.“

      „Das ist eine Vorsichtsmaßnahme, die dem Selbstschutz des Personals dient“, entgegnete der Doktor. „Und ich muss Sie darauf hinweisen, dass einige weitere Tage hier im Haus nur zu Ihrem Besten sind.“

      Jade war klar, dass sie bei einer Diskussion über medizinische Notwendigkeiten mit dem Arzt nur verlieren konnte. Sie zwang sich zu größtmöglicher Ruhe und wiederholte die Frage, die sie Amanda gestellt hatte.

      „Warum bin ich hier?“

      „Weil Sie eine mittelschwere Gehirnerschütterung, Schürfwunden und ein Schleudertrauma erlitten haben. Innere Verletzungen konnten wir ausschließen, was Sie nicht Ihrem Fahrstil, sondern einem ganz besonders gutgelaunten Schutzengel zu verdanken haben. Und den Airbags der Firma Peugeot.“

      Eine einleuchtende Antwort, und den Verdacht, dass die Bremsen des Unglücksautos manipuliert worden waren, würde der Doktor nur belächeln. Aber immerhin eines konnte sie hoffentlich von ihm oder der Zehnkämpferin erfahren.

      „Wer war der Mann, der das Krankenhaus verlassen hat, kurz bevor ich reingekommen bin?“

      Jade hatte den kurzen Blick bemerkt, den Amanda dem Doktor zuwarf.

      „Es haben mehrere Besucher und Patienten das Haus verlassen, kurz bevor Sie …“

      „Sie wissen genau, wen ich meine“, fauchte Jade sie an. „Groß, hager, unrasiert, spitzes Kinn, dunkle Augen …“

      „Ich weiß, wen Sie meinen“, sagte Amanda, und fügte zu Jades Erstaunen hinzu: „Ich habe keine Ahnung wer das war, aber ich habe ihn sofort wiedererkannt.“

      „Er war also öfter hier?“

      Amanda