Gerhard Gemke

Cave Cobaltum


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nach mir gefragt?“

      Amanda blickte zu Doktor Grimminger, dessen Füße unruhig wurden, ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Jade reichte es. Das war ja wohl eindeutig.

      „Er hat also“, zischte sie, „und wahrscheinlich mehrfach.“

      „Hören Sie …“

      „Nein, jetzt hören Sie mal zu.“ Jade sah dem Doktor fest in die Augen. „Ich weiß nicht was hier vorgeht, aber in diesem Gebäude bin ich nicht sicher. Und niemand kann mich hier festhalten, nicht Sie und nicht …“

      Jade merkte, wie sich Amandas Griff tatsächlich lockerte.

      „Ich verlasse jetzt die Klinik!“

      Wenn sie erwartet hatte, dass der Arzt sie aufzuhalten versuchte, hatte sie sich getäuscht. Mühelos entwandt Jade ihren Arm aus Amandas Fingern und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang. Vor der automatischen Tür blieb sie noch einmal stehen und registrierte, dass sie ähnlich ruckartige Kopfbewegungen vollführte wie vorher der Wolf. Was, wenn er ihr dort draußen auflauerte? Wer war er überhaupt und was wollte er von ihr? Bildete sie sich nur ein, dass er dort im Wald gestanden hatte? War sie bereits paranoid? Sie sind doch nicht gesund, hatte Meier gesagt.

      Es war noch nicht Mittag, aber düster wie bei einer Sonnenfinsternis. Gewaltige Wolkengebirge hatten den Himmel geschwärzt. Jade rannte los und erreichte das Bronsky-Haus mit dem ersten Blitz, nur einen Wimpernschlag später gefolgt von einem krachenden Donnerschlag.

      Es war, als hätte jemand die tief in die Erde reichenden Wurzeln von Mordent gekappt und die Burg ins All geschossen. Nicht die Regenwand vor den schmalen Fenstern stürzte herab, sondern das alte Gemäuer raste der unendlichen Schwerelosigkeit entgegen. Zahllose Kerzen flackerten im Thronsaal und verzerrte Schatten irrten über Wände, durch Nischen und die Säulen hinauf.

      Mal Achit kniete auf den kalten Steinfliesen und wartete auf den Befehl sich zu erheben. Seine Augen verschwanden beinahe in den pechschwarzen Höhlen, seine Hände umklammerten einen groben Holzstab, seine Knöchel traten weiß und spitz hervor. Fast hätte er die leise scharfe Stimme im Nachhall des Donners überhört.

      „Steh auf.“

      Mal Achit streckte langsam die knackenden Knie, seinen Kopf ließ er gebeugt. Der auf dem Thron war der Herrscher über die Burg und die Mordent-Kobolde, und er war in keiner guten Stimmung. Mal wusste warum.

      „Warum ist sie nicht tot?“ Der Graf hatte eine rostige Stimme, er benutzte sie selten. Über ihm hing wie eine Drohung das Zeichen von Mordent und starrte auf Mal Achit herab.

      „Sie hat Glück gehabt“, murmelte Mal Achit und wagte sein vorstehendes Kinn eine Kleinigkeit zu heben, bis Graf Kronk am oberen Rand seines Blickfelds erschien. „Der Pfleger sagte, die Airbags hätten sie gerettet.“

      Mal Achit war sich nicht sicher, ob der greise Graf Airbags kannte, aber es kam keine Gegenfrage.

      „Sie besitzt die Glaskugel, die hat sie gerettet.“

      Mal nickte vorsichtig. Er selbst hatte keine Glaskugel am Hals dieser Frau gesehen, als er sie getroffen hatte, in diesem Kaff. Fleschbeck.

      „Ich bin mir sicher, dass es die Kugel ist.“ Der Alte hatte sich vorgebeugt. „Und ich will sie haben, hast du mich verstanden?“

      Mal nickte wieder. Jede andere Reaktion war nicht möglich, sogar lebensgefährlich. Kronks Jähzorn war gefürchtet. Es standen ihm Mittel zur Verfügung, gegen die niemand etwas ausrichten konnte. So wurde erzählt.

      „Nimm keine Rücksicht. Und … besser sie stirbt heute als morgen.“

      Mal Achit sah dem Grafen kurz in die Augen, senkte aber sofort wieder den Blick.

      „Geh jetzt.“

      Das Wolfsgesicht deute eine Verbeugung an und verließ den Saal. Als er die schwere Eichentür schloss, erzitterte die Burg erneut von einem gewaltigen Donnerschlag. Mal hastete die Treppe hinunter zum Ausgang. Alles war nach Plan verlaufen, der Bürgermeister und dieser Amtsleiter hatten die Genehmigung unterschrieben. Es blieb ihnen auch nicht viel anderes übrig, das hatte Mal ihnen sehr deutlich gemacht. Im Übrigen profitierten doch alle von dem Deal, was wollte ein Haufen Kleinstadt-Politiker mehr?

      Nur diese Frau stellte sich quer und Meier prophezeite, früher oder später würde sie an die Öffentlichkeit gehen und lauthals irgendwelche Untersuchungen fordern, das hätte sie schon einmal gemacht. Sie war eine Gefahr für das Projekt.

      Mal Achit verschwand im strömenden Regen und in der Dunkelheit.

      Kronk starrte lange die Eichentür an, durch die Mal Achit verschwunden war. Der Wolf war ihm treu, geradezu hündisch ergeben. Und trotzdem spürte Kronk, dass da noch etwas anderes war. Der Hund gierte nach dem Mordent-Thron, nach der Lordwürde. Kronk bezweifelte, dass Mal versuchen würde das Ende seines Herrn zu beschleunigen, aber er war auf der Hut. Er hatte nicht vor, sich so bald in die ewige Finsternis zu verabschieden. Erst recht nicht jetzt, wo die Erfüllung all dessen, worauf er Jahrzehnte hingearbeitet hatte, zum Greifen nahe lag.

      Kronk hatte sie nie vergessen, jene Kugel. Und da tauchte sie ausgerechnet am Hals dieser hässlichen Frau auf. Kronk wusste woher ihre Narbe stammte, sehr genau wusste er das. Ein lautloses Lachen verließ seinen bewegungslosen Mund. Und aus den düsteren Schatten der Eichentür formte sich eine Gestalt. Viele Jahre waren vergangen, seit Bruno Bronsky dort gestanden hatte, betrunken, schreiend, den Wahnsinn in den Augen und ein kleines glitzerndes Ding in der zitternden Hand.

      Er habe Lord Albion die Zauberkugel abgenommen, hatte er gebrüllt, und nun sei er der einzige, der das Tödliche Wort kenne. Kronk erschrak bis ins Mark.

      „Du lügst!“, flüsterte er. Dann sprang er von seinem steinernen Sitz auf und schrie: „Wo sind meine Leute, was ist mit ihnen geschehen?“

      Und Bruno spuckte vor ihm aus. Er, Bruno von Bronsky, werde bald über die ganze Welt herrschen, nicht dieser lächerliche Hitler. Niemand könne sich ihm in den Weg stellen und Kronk werde ihm dabei zu Diensten sein, sonst …! Mit diesen Worten streckte er ihm die Glaskugel entgegen.

      Wenige Stunden später stieg Kronk in die lichtlose Tiefe von Helldor hinab und fand den zu Stein gefrorenen Albion mit einem eisernen Pfeil im Rücken – ohne die Kugel! Verrat!, gellte es aus der Finsternis. Jemand hatte Lord Albion aus sicherem Versteck den tödlichen Pfeil in den Rücken geschossen und ihm die Kugel abgenommen. Jemand? Bronsky hatte das alles von Anfang an so geplant. Bronsky hatte Kronk nur benutzt, wie er ihn auch jetzt für seine wahnsinnigen Pläne benutzen wollte.

      Tief gebeugt schlich der Graf vorbei an dreiunddreißig versteinerten Croggs aus dem Helldor-Stollen. An der Mühle blieb er stehen. Das Rad stand still und von der Müllerin keine Spur. Als Kronk die Burg erreichte, stand sein Entschluss fest. Was konnte er gegen die Macht der Kugel in der Hand dieses Verrückten tun? Er würde sich seinem Willen unterwerfen müssen, oder … noch am selben Tag verließ er Mordent.

      Kronk schiffte sich nach Argentinien ein, wie so viele damals, die schon 1941 ahnten, dass dieser elende Krieg nicht zu gewinnen war. Jahre später tauchte er in Afrika auf, im Kongo, und versuchte sich im Kobaltgeschäft. Kobalt stieg gerade zu einem der begehrtesten Metalle der Welt auf. Als Kronks Firma von einem chinesischen Konsortium aufgekauft wurde, ging er nach China und lernte wie ein Großkonzern funktionierte. Und hier hörte er zum ersten Mal von einem kleinen Unternehmen in der Nähe der Stadt Weißenhall, das PETRUS hieß und sich anschickte den europäischen Kobalt-Markt zu dominieren, sehr zum Ärger der Chinesen. Der Chef dieser Firma nannte sich Boris Koldan. Als Kronk ihn beim ICM – International Cobalt Meeting – am Rednerpult stehen sah, wusste er auf der Stelle, mit wem er es zu tun hatte: Mit niemand anderem als Bo Kold, dem neuen Helldor-Lord. Kronks alte Wunde riss wieder auf. Eigentlich sollte er dort stehen, sollte er Herr des Kobalts aus den Helldor-Tiefen sein. Das alles hatte er Bruno Bronskys Verrat zu verdanken. Aber was zum Teufel war aus Bronsky geworden? Wo blieb der Herrscher der Welt, dessen Erscheinen Kronk all die Jahre mit Schrecken erwartet hatte. Oder war alles nur ein