Manja Gautschi

Steintränen


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‚Bitte’.

      Dass es Boris war, kam dann mehr als überraschend. Er hätte erwartet, dass ihm Boris so etwas anvertraut hätte. Und dass sich die Rupianer einen Einheimischen aussuchen würden. Nichts gegen Boris, aber er war ein Zugezogener.

      Aber ‚Bitte’.

      Und nun sass er da, an diesem wunderschönen grossen uralten Holztisch, trank Tee mit Freunden. Eigentlich ein gemütlicher Moment. Aber diese unglaublichen Erzählungen! Er konnte und wollte es nicht glauben. Er hatte es gerne handfest, konkret und glaubhaft.

      Er seufzte. Wie sollten sie sich so gegen das Terra Sonnensystem wehren?! Mit Märchen und Fantastereien!

      Eine Hand legte sich auf seine Schultern. Fühlte sich warm an. Spendete auf der Stelle eine gewisse Geborgenheit und tat gut. Seine Zweifel blieben zwar, aber seine momentane Verzweiflung legte sich. Sein Inneres beruhigte sich.

      Es war Boris Hand. „Ach Joret.“ sagte sein alter Freund ganz ruhig und führsorglich „Wie lange kennen wir uns schon? Vertraust du mir?“ Boris versuchte in Jorets Augen zu sehen. Da er sie aber nicht eindeutig in Jorets Gesicht ausmachen konnte, zielte er einfach so gut es ging, sah das Licht der Lebensenergie seines Freundes an. Joret dachte nach. Die Hand fühlte sich schon anders an, als eine gewöhnliche Berührung. Merkwürdig. Vielleicht war doch etwas daran, an Boris Geschichte?

      „Ahh... Ich weiss nicht, Boris. So einfach ist es nicht. Ich meine, wir kennen uns wirklich schon lange. Ich studierte und anlaysierte dich als Feind und lernte dich schätzen als Freund. Und ich vertraue dir. Du spielst nie Spielchen. Es ist nur so unglaublich. Vor uns liegen ungewisse Zeiten und vor allem: Ein mächtiger Feind, dem wir nicht wirklich gewachsen sind. Nun kommst du mit solchen Fantastereien. Ich glaube nur, was ich sehe, dass weißt du.“

      Boris nickte. „Das verstehe ich. Sehr gut sogar. Und wirklich geglaubt habe ich es bis vor zwei Tagen selbst nicht. Aber wer hat im Mittelalter auf der Erde schon geglaubt, dass die Menschen eines Tages auf fremden Planeten wohnen? Dass es noch andere gibt ausser uns? Die Wakaner, ein bisher ungelöstes Rätsel? Du fragst wozu das gut ist, ausser mir die Sicht zu nehmen. Ich kann es dir noch nicht sagen, weil ich es tatsächlich erst richtig zu benutzen und verstehen lernen muss. Und wie es funktioniert? Frag mich nicht. Die orangenen Augen vielleicht?“ Boris hob die Schultern „Jedenfalls sehe ich, dass dich deine rechte Schulter schmerzt und du vor Verspannungen im Nacken heftige Kopfschmerzen hast. Und Barra, bitte entschuldige, aber Barra hat Probleme mit den Nieren. Du solltest mehr Trinken, Barra. Wenn du schon nur noch eine hast.“

      Joret blickte erstaunt zur noch erstaunteren Barra, die ebenso ihn und Boris ansah, dann aber nickte um die Richtigkeit zu bestätigen. „Das weiss nur meine Familie und mein Arzt, woher weißt du das?! Mit wem hast du gesprochen?“ wollte Barra wissen.

      „Nein, Barra, ich sprach mit niemandem, ich sehe es einfach. Und ihr dürft es keinem verraten“ unvermittelt packte Boris mit beiden Händen Jorets Kopf, der reaktionsartig versuchte Boris Hände wegzunehmen, was nicht ging, denn Boris Kraft war enorm, Joret verstand nicht. Das war unmöglich!

      Eine Hitze durchströmte Jorets Körper, konzentrierte sich wie ein Funke in seiner Schulter, dem Nacken und seinem Kopf. Er konnte absolut nichts dagegen tun. Es brannte einen Moment und viel dann samt den Schmerzen plötzlich von ihm ab wie eine eingetrocknete Kruste Dreck. Boris liess seinen Kopf wieder los, war alles ganz schnell gegangen. Ganz leicht fühlte sich Joret. Keine Schmerzen mehr, einfach weg. „Wie ist das möglich?! Meine Schmerzen sind alle weg. Ja! Weg! Plötzlich. Hein?!“ Joret bewegte erstaunt seine plötzlich schmerzfreie Schulter, die ihn seit Tagen geplagt hatte.

      Zufrieden lächelte Boris, trank einen Schluck Tee, schloss die Augen. „Nicht der richtige Moment für Erklärungen, hatte ich gesagt. Später einmal. Und dass ihr mir das bloss niemandem erzählt. Wenn das die Leute wüssten, würden sie von überall her kommen und mich um Heilung bitten. Lasst euch gewarnt sein. Zuviel Wissen kann auch gefährlich werden.“ bestimmte Boris und fuhr fort:

      „Also, erstens: Ich kann nicht den ganzen Tag lang ‚nur’ Leute heilen. Ich habe jede Menge anderer Aufgaben.

      Zweitens: Ja, ich kann alles heilen. Ich habe die Kontrolle über die Macht der Steintränen, die, wie ihr alle wisst, heilende Kräfte haben. Aber je nach Schwere der Krankheit oder Verletzung kommt es bei der Heilung zu einer Verbindung mit mir. Ähnlich wie mit den Schlüsselträgern. Das geht nicht. Stellt euch diese Katastrophe vor! Mit der Zeit wären alle mit mir verbunden und wenn ich dann sterbe, sterben alle mit mir! Man könnte zusammen mit mir das gesamte Volk ausrotten. Das Terra Sonnensystem würde sich freuen.

      Und Drittens: Ab jetzt erwarte ich von euch allen hier, dass ihr mir verdammt noch mal so viel eigene Selbstverantwortung zugesteht, dass wenn ich sage ‚Es geht mir gut’, es mir auch glaubt. Ich habe schon genug mit mir selbst zu kämpfen, alle diese neuen Sinne zu verstehen und sie verwenden zu lernen. Dann alle diese neue Verantwortung hier! Glaubt mir, ich wäre lieber in meiner Apotheke am Ansetzten der Schilfgras-Essenz. In Ruhe, alleine im Arbeitsraum! Ich habe niemanden, den ich um Hilfe bitten kann. Es gibt niemanden! Was wünschte ich, Zylin wäre hier. Er kannte sich mit solchen Dingen noch am ehesten aus. Aber er musste sich ja umbringen lassen! Dieser grüne Mistkerl!“

      Boris brauste unerwartet auf. Eben war er noch die Ruhe selbst gewesen und nun diese Wut. Er hatte seit dem Vorfall im Wald mit niemandem darüber gesprochen. War alles so drunter und drüber gegangen. Hatte sich um Mara und alle anderen gekümmert und sich selbst in den Hintergrund gestellt.

      „Was denkt ihr, wie unmöglich es ist, nicht mehr schlafen zu können?! Wie soll ich mich erholen? Auch meine Geduld hat ihre Grenzen! Ich muss bei jeder Bewegung aufpassen, dass ich es sachte tue, sonst ist es gleich kaputt oder ich flieg auf die Nase!“ Boris hob seinen linken Arm, vergass dabei die Armlehne loszulassen und so riss er sie einfach aus. Ganz mühelos. Er hielt inne, betrachtete die Armlehne in seiner Hand und meinte „Da, seht ihr? Verflucht noch eins.“ dann zerdrückte er die massive Holzlehne wie Papier. Die Teile bröselten zu Boden. Die Anwesenden blickten erschrocken mit offenen Mündern zum Stadtmeister von Rupes.

      ‚Ich glaube nur, was ich sehe’ hatte Joret gesagt. Und nun hatte er GESEHEN und gespürt, definitiv. Alles was Boris gesagt hatte, entsprach der absoluten Wahrheit. Keine Übertreibungen, keine Erfindungen. Wie es sein konnte, konnte er sich nicht erklären, aber es war definitiv so. Und dass da neben ihm immer noch sein Freund sass, mit all seinen Gedanken und Emotionen, bemerkte er nun auch. Er bedauerte, ihm nicht geglaubt zu haben.

      „Ist ja gut!“ konterte Joret heftig. Er wollte zur Beruhigung Boris seine Hand auf die Schulter legen, hielt dann aber an. ‚Durfte er das überhaupt?’ er zögerte. „Ich beruhige mich schon wieder.“ sagte Boris, griff Jorets Hand um sie zu Joret zurück zu stossen. „Tut mir leid. Aber das musste mal raus. Ist alles etwas viel im Moment.“

      Joret rieb sich das Handgelenk, Boris hatte etwas zu kräftig gehalten. „Entschuldige.“ Joret winkte ab „Kein Problem, ich hab’s wohl verdient.“ „Blödsinn!“ meldete sich Sora dazwischen. Sie war aufgestanden um Tee nachzugiessen. „Wer möchte noch Tee?“

      Alle liessen sich nochmals Tee einschenken. Sassen beinahe schon andächtig schweigend am Tisch. Boris ‚Ausbruch’ hallte irgendwie nach. Jedenfalls war nun geklärt, dass Boris gesundheitlich KEIN Problem hatte.

      Seufzend stellte Boris seine Tasse hin und stand auf. Er ging zum Fenster und öffnete es. Atmete die Luft von draussen tief ein. Sein dunkelblauer Mantel bewegte sich fein im hereinkommenden Wind. Die kunstvollen Verzierungen glitzerten im Sonnenlicht.

      Das Fenster öffnete sich zum grossen Platz hin. Stimmen und Geräusche vom Markttreiben waren zu hören.

      „Also“ fing Boris an „Unsere beiden Wachcorps bleiben wo sie sind,