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etwas Gurke auf und rief die Kinder zum Essen. Als Ines das Telefonat beendet hatte, sah sie ihren Mann, der sich gerade genüsslich eine zusammengerollte Scheibe Cheddar in den Mund stopfte, mitleidig an.

      „Es tut mir so leid, Volker.“

      Volker aber hörte nicht hin, sondern kleckste sich voller Vorfreude Senf auf seinen blauen Teller.

      „Wir müssen sofort zurück!“

      Volker hielt erst Sina und dann Max die Dose mit den Bouletten vor die Nase, legte sich selbst zwei Stück auf den Teller und in eine dritte biss er kräftig hinein. Noch während er kaute, ermahnte er die Kinder, mit ihren sandigen Füßen dem Essen nur nicht zu nahe zu kommen.

      „Volker!“, schrie Ines ihn an, sprang auf und schlug hysterisch mit den Armen um sich, als kämpfe sie gegen eine unsichtbare Bedrohung. „Ich hab solche Angst!“

      Volker seufzte. Wegen all der Leute um sie herum, die schon wieder blöd herüberglotzten und sich insgeheim sicher köstlich über dieses Familientheater amüsierten, konnte er das Gezeter seiner Frau nicht länger ignorieren. Also erkundigte er sich, wovor sie denn bitte Angst hätte, um danach mit Appetit in ein hartgekochtes Ei zu beißen und sich darüber zu wundern, woher plötzlich diese innere Ruhe kam. War sein Nervensystem wegen der ständigen Überlastung endgültig zusammengebrochen, so dass ihn absolut nichts mehr aufregen konnte? Oder waren ihm die Launen seiner Frau allmählich egal, weil sie selbst ihm immer gleichgültiger wurde? Trotz der Hitze breitete sich eine erfrischende Kühle in seinem Innersten aus.

      „Alles deutet darauf hin, dass Tanja bei Richie ist“, erklärte Ines aufgeregt. „Wir müssen sie da unbedingt rausholen!“

      „Wieso denn das?“

      Ines hielt die Luft an. Da war sie wieder, Volkers penetrante Gleichgültigkeit, die sie eines schönen Tages, vielleicht sogar heute schon, in den Wahnsinn treiben würde. Jedes IPad besaß doch mehr Empathie als dieser Typ, obwohl der Arzt war! Trotzdem riss sich Ines zusammen und konzentrierte sich darauf, ruhig und verständlich sämtliche Fakten zu einer logischen Gedankenkette zu verknüpfen, ganz so, wie Volker das dauernd von ihr forderte.

      „Also pass auf. Tanja und Richie waren total verliebt. Nun ist plötzlich Schluss. Tanja aber tut so, als hätte sie kein Problem damit, sondern freut sich angeblich darüber. Trotzdem geht sie nachts, nachdem sie zu viel getrunken hat, zu Richie. Und am nächsten Morgen ist sie nirgends auffindbar. Sie geht nicht ans Handy und verpasst sogar einen wichtigen Termin mit ihrer Schwester. Und Fakt ist: Richie war mal Boxer, das hat sie mir selbst erzählt. Und ihre Mutter vermutet, dass er sie schlägt. Reicht das?“

      Da Volker noch immer mit dem Phlegma einer Kuh vor sich hin kaute, beugte sich Ines zu ihm runter und zischte ihm leise, mit dem Sound einer Giftschlange, ins Ohr: „Meine beste Freundin ist vielleicht Hackfleisch, und ich soll hier seelenruhig in der Sonne sitzen und Buletten futtern?“

      Die Mittagshitze verwandelte den alten Saab in einen Backofen. Hinten zankten sich die Kleinen, vorn schwiegen die Großen sich grimmig an. Als sie gerade die Stadtgrenze passierten, meldete sich der „King oft the Bongo“ wieder. Hastig ging Ines an ihr Handy, hörte eine Weile zu und stieß kurze Rufe der Verwunderung aus, die Volker hellhörig machten.

      „Was ist denn seltsam?“, fragte er streng, als Ines aufgelegt hatte.

      „Hannes war bei Richie. Und der behauptet, Tanja sei bei ihm.“

      Ruckartig riss Volker den Lenker herum, fuhr an den Straßenrand und bremste dort so scharf, dass die Kinder hinten aufkreischten. Dieses waghalsige Manöver diente allein dazu, Ines einen fassungslosen Blick zuwerfen zu können.

      „Das ist nicht dein Ernst. Wir brechen extra unser Picknick ab ...“

      Volker rang nach Worten wie ein Erstickender nach Luft.

      „Bleib ruhig“, flehte Ines ihn an, „und setz mich einfach bei Richie ab.“

      Nichts auf der Welt tat Volker im Moment lieber als das.

      Nicht mal Fußballgucken.

      Als Ines auf dem staubigen Gehweg stand und dem Auto mit ihrer Familie hinterhersah, fühlte sie sich plötzlich einsam. Und vor allem dämlich. Vermutlich war die ganze Geschichte harmlos. Bestimmt hatten sich Tanja und Richie im Suff versöhnt statt totgeschlagen. Und sie würde dastehen wie eine lächerliche Person, deren Leben so öde ist, dass sie sich, um wenigstens ein bisschen was zu erleben, mitten in einen Thriller hineinfantasierte. Genauso blöd würde sie am Ende aussehen, denn es war eher unwahrscheinlich, dass in ihrem Leben etwas Aufregenderes passierte, als dass Max mal fünf Minuten zu spät von der Schule kam oder die Telekom eine übertrieben hohe Rechnung stellte.

      Noch mehr als alles andere aber hasste Ines angebissene Stullen, nicht fertig gemalte Bilder oder andere irgendwie halbe Sachen. Sie musste diesen Weg jetzt zu Ende gehen, also bis zu Richies Wohnung, und dort in Erfahrung bringen, wie es Tanja ging. Und dazu musste sie mit ihr persönlich sprechen. Auf keinen Fall würde sie sich auf Aussagen von solchen Typen wie Hannes oder gar Richie verlassen.

      Ines‘ Herz klopfte wild wie eine Bongo, auf der ein Irrer trommelte, als sie den Zeigefinger lange und fest, bis er ganz weiß wurde, auf den Klingelknopf von Richies Wohnung drückte. Kurz darauf gab die Gegensprechanlage ein heiseres Krächzen von sich. Richie war also da.

      „Hallo Richie, ist Tanja bei dir?“

      Ein raues Lachen, dann Stille. Ines fragte noch einmal, erhielt jedoch als Antwort ein genervtes „Nee“ oder „Nö“.

      „Wo ist Tanja!“, schrie Ines in die weißen Plastiklamellen.

      Die Anlage schwieg zunächst, offenbar war Richie überrascht von so viel Wut.

      „Aufgefuttert, mit Ketchup!“, plärrte es schnarrend in Ines‘ Ohr, dann vernahm sie ein Knacken. Richie hatte aufgelegt. Auf weiteres Sturmklingeln kam keine Reaktion, vermutlich hatte Richie die Klingel abgestellt. Frustriert starrte Ines noch eine Weile auf die Namensschilder, wobei ihr der Name Petersdorf auffiel. Der kam ihr bekannt vor, genau wie Schmidt, logisch, oder auch Kinkel. Ein Kinkel ging mal in ihre Klasse.

      Was sollte sie jetzt tun? Nach Hause fahren, ohne wirklich Bescheid zu wissen? Oder hier vor der Tür warten, bis Tanja endlich aus dem Haus spazierte? Oh nein, keine Minute länger wollte sie mehr vor diesem Hauseingang stehen und so aussehen, als wäre sie von ihrem Date versetzt worden. Also lief sie einfach los, erst mal in Richtung U-Bahn.

      Doch Ines kam nicht weit. An der nächsten Straßenecke versperrten ihr Stühle und Tische den Weg, die vor einer Eckkneipe auf dem Gehweg standen. Im ersten Moment wollte sich Ines über diese Frechheit ärgern, dann aber setzte sie sich einfach an einen kleinen Tisch. Versonnen betrachtete sie das gegenüberliegende alte Haus mit der reichverzierten, aber bröckelnden Fassade, an der sich eine buschige Kletterpflanze trotzig emporrankte. Dieser Anblick besänftigte Ines, und sie beschloss, mindestens ebenso trotzig, den Rest dieses verpfuschten Samstags einfach zu genießen.

      Als eine junge Frau an ihren Tisch trat und sich überaus freundlich nach ihren Wünschen erkundigte, erschrak Ines. Danach war sie schon lange nicht mehr gefragt worden. Doch ihr fiel sofort etwas ein, was man sich an einem heißen Sommertag wie diesem wünschen könnte.

      „Sex on the Beach“, sagte Ines, lächelte verschämt und wurde knallrot.

      Seit Tanja diesen Cocktail bei jeder Gelegenheit erwähnte, selbstverständlich immer beiläufig, hatte Ines ihn probieren wollen. Sie selbst kannte bloß die langweiligere Variante, „Picknick am See“.

      Wenige Minuten später stand dieses geheimnisvolle Getränk endlich vor ihr. Eine trübe, rotorange Flüssigkeit in einem bauchigen Glas, in dem ein schwarzer Strohhalm steckte. Vorsichtig nahm Ines einen kleinen Schluck. Der Cocktail schmeckte etwas scharf, äußerst fruchtig und nicht zu süß.

      Vorsichtig saugte Ines mit dem Strohhalm wohldosierte Schlückchen aus dem Glas, ließ die Eiswürfel darin fröhlich klimpern und grinste zufrieden. Dieses köstliche Getränk verzauberte die Wut auf ihre Freundin in eine Art Dankbarkeit,