Hans-Jürgen Setzer

Braunes Eck


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      „Braucht man für Medizin nicht sogar 1,0? Hammer, haben Sie das wirklich geschafft?“, fragte Vanessa interessiert.

      Die junge Frau reagierte ein wenig verunsichert und offenbar peinlich berührt. „0,9 war sogar genau genommen mein Abiturdurchschnitt. Möglich wäre theoretisch sogar 0,75. Aber glauben Sie mir, das bedeutete sehr viel harte Arbeit, manchmal Diskussionen mit den Lehrern und noch mehr Verzicht im Leben eines ansonsten ganz normalen Teenagers. Zugefallen ist es mir jedenfalls nicht“, erklärte sie die eigene Intelligenz herunterspielend.

      „Was hat Tobi gemacht ohne einen Studienplatz?“, fragte die Reporterin.

      „Gute Frage. Er war völlig planlos, zog anfangs abends durch die Clubs, trank Unmengen Alkohol. Er war fast immer betrunken, schlief dann lange, sah manchmal völlig verwahrlost aus. Er ließ niemanden mehr an sich ran, auch mich nicht, hatte bald mit jedem Ärger“, sagte sie traurig.

      „Und die Eltern, haben die ihm nicht den Kopf gewaschen?“

      „Ach die, die hatten schon lange keinen Einfluss mehr auf Tobi. Er wollte seinen Vater zwar immer stolz machen, gab ihm aber leider nach dessen Meinung wenig Anlass dazu. Der hat ihn obendrein bei jeder unpassenden Gelegenheit mit meinen Leistungen aufgezogen. Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Freundin, hat er dann gesagt. „Nach seinem Versagen gab es zu Hause nur noch Zoff.“ Tobi ging dann doch noch zur Bundeswehr, Hauptsache erst einmal von zu Hause raus und wer weiß, vielleicht würde ihm sogar irgendwie der Aufstieg gelingen mit der Option auf einen Studienplatz.

      Vanessa schaute sich kurz nach Leon um und sah ihn zu ihrem Erstaunen in ein Gespräch mit Sophie vertieft. Seine Körperhaltung schien völlig verändert, wirkte unterwürfig auf sie. Die Frage drängte sich auf, ob diese Beziehung wirklich abschließend geklärt war. Jedenfalls hätte sie sich etwas mehr Unterstützung von ihm gewünscht. Doch Leon schien im Moment völlig mit sich beschäftigt.

      „Wo wohnt Tobi Haberkorn eigentlich?“, fragte sie.

      „Die Eltern leben in einer schönen Villa in erster Rheinlage in Oberwerth. Versuchen Sie mal dort ein Haus zu erwerben. Das ist unbezahlbar. Tobi sagte immer, man könne eigentlich so etwas heutzutage auf dem Immobilienmarkt überhaupt nicht mehr kaufen, das werde entweder vererbt oder gehe direkt unter der Hand weg. Finanziell fehlte es jedenfalls an nichts. Der Vater Professor und Chefarzt seiner eigenen Privatklinik aus Familienbesitz, die Mutter Rechtsanwältin in eigener Kanzlei und dazu noch Einzelkind. Allerdings definierte sich die Liebe der Eltern für meinen Geschmack ein wenig zu viel über seine Leistung. Und die konnte Tobi offensichtlich nicht so liefern, dass er sich wirklich geliebt fühlen konnte“, erklärte sie. „Wissen Sie, es fiel ihm schwer für gute Noten zu büffeln oder Lernstrategien zu entwickeln. Es war eine einzige Quälerei für ihn. Für schlechte Noten gab es schließlich auch Aufmerksamkeit. Sportlich war Tobi allerdings ein As. Leichtathletik und Basketball waren eindeutig sein Ding. Da lagen eher seine Talente. Für eine gewisse Anerkennung in der Armee reichte das. Doch dafür hatte der Vater nur wenig Verständnis“, berichtete Milena. „Er hatte andere Pläne für ihn, in denen ein Offiziersdasein nur einen netten Nebeneffekt darstellte zum gewünschten Arztdasein.“

      „Erstaunlich, dass ihr vor dem Hintergrund in der Schulzeit noch Zeit und Nerven für eure Beziehung gefunden habt. Ihr musstet ja schließlich beide sehr gute Noten mit nach Hause bringen“, schob Vanessa nach, da es gerade gut zu laufen schien.

      „Ich wollte, Tobi aber musste … Aber Sie haben natürlich recht. Viel Zeit blieb uns wirklich nicht. Zusammen zu lernen, das haben wir nur ein, vielleicht zwei Mal versucht. Das brachte aber überhaupt nichts. Wir waren auf dem Gebiet einfach zu unterschiedlich und Tobi ließ sich sehr leicht ablenken. In den Ferien waren wir zusammen in der Türkei in Urlaub. All inclusive-Urlaub: Faulenzen, sonnen, baden im Meer, essen und trinken, bis der Arzt kommt.“

      Vanessa wurde es fast übel. Sie spürte ihren vollen Bauch vom Frühstück und fühlte sich unendlich dick. „Was die immer alle nur mit ihrer Fresserei haben? Ekelhaft. Als gäbe es sonst nichts Schöneres im Leben.“

      „Es war wunderschön einfach mal zu leben, das Leben in vollen Zügen zu genießen und sich bedienen zu lassen.“ Die junge Frau begann erneut zu weinen. Vanessa versuchte sie tröstend in den Arm zu nehmen, doch Milena flüchtete aus der Umarmung.

      „Es geht schon, danke. Ich muss jetzt aber wirklich dringend nach Hause. Meine Eltern warten bestimmt schon auf mich. Sie wissen ja bisher von nichts und machen sich bestimmt sonst Sorgen. Und nächste Woche habe ich zu allem Übel eine Klausur. Leider muss ich noch eine Menge dafür tun.“

      „Kann ich dich nach Hause fahren? Oder sollen wir deine Eltern vorher anrufen und Bescheid geben?“, bot Vanessa an, um die Zeit noch etwas auszudehnen.

      „Danke, das ist lieb. Aber ich habe mein Fahrrad da hinten. Tschüss“, verabschiedete sie sich prompt und lief auch schon in Richtung Fahrradständer.

      Fast im gleichen Moment kam Leon kreidebleich auf Vanessa zu. „Mensch, du solltest doch warten, bis ich …“, reagierte er sauer.

      „Ich habe schon ganz viel herausgefunden. Länger konnte ich sie jetzt wirklich nicht mehr hinhalten. Sie musste dringend weg und du hattest ja anscheinend gerade Wichtigeres zu tun“, erklärte sie ein wenig verärgert.

      Milena fuhr mit dem Rad vorbei und winkte noch einmal zum Abschied.

      „Hübsches Mädchen“, sagte Leon. „Was hat die Kleine eigentlich hier gemacht?“, fragte er Vanessa.

      Vanessa wurde rot. „Scheiße!“, rutschte es ihr raus. „Das habe ich echt total vergessen. Berechtigte Frage. Ich glaube, sie hatte überhaupt keine Sportsachen dabei“, bemerkte sie.

      „Komm wir hocken uns ins Auto und schauen, was wir bisher so alles haben. Dann überlegen wir, wie es weitergeht“. Leon blieb ganz ruhig.

      „Ist bei dir wirklich alles klar? Ich habe gesehen, du hast mit Sophie geredet“, fragte Vanessa interessiert. Doch Leon ging auf die Frage gar nicht ein, als hätte er sie nicht gehört und lief zum Wagen.

      Vanessa berichtete, was sie von Milena erfahren hatte, während sie gleichzeitig die Fotos auf der Kamera durchschaute, die Leon gemacht hatte.

      „Tobias Haberkorn sagtest du? Der alte Haberkorn hat schon vor vielen Jahren eine Privatklinik in Boppard gegründet und kurz vor seinem Tod an seinen Sohn übergeben. Komm wir fahren mal zu dieser Villa nach Oberwerth. Sie ist ganz in der Nähe von meinem Haus. Vom Sehen kennen wir uns sogar. Manchmal führen sie ihre zwei Windhunde abends spazieren, während ich jogge. Prächtige Tiere“, erklärte Leon.

      Villa Haberkorn – Koblenz-Oberwerth

      Sie parkten direkt an der Rheinpromenade.

      „Wow, was für ein prächtiger Kasten“, sagte Vanessa. „Schlecht scheint es denen ja nicht gerade zu gehen. Milena hatte es schon so geschildert.“

      „Mist. Das wird heute wohl nichts werden mit dem Interview“, sagte Leon und deutete auf das Ehepaar mit hängenden Köpfen, das gerade von einer Polizeibeamtin zu einem Wagen geführt wurde, der kurz darauf davonfuhr. „Lass uns wenigstens ein paar Fotos von der Villa von außen machen, wenn wir schon mal hier sind“, fügte er an.

      Sie liefen durch den Garten rings um das Haus herum, suchten nach der besten Perspektive und machten einige Aufnahmen. Die Hunde im Haus bellten und tobten. Nur wenige Minuten später öffnete sich vom Garten her eine Tür.

      „Was machen sie denn da?“, fragte eine ältere Dame mit einer umgebundenen Küchenschürze. „Das ist ein Privatgrundstück. Die Alarmanlage und die Hunde haben bereits angeschlagen. Professor Haberkorn wird sicher gleich die Polizei rufen“, drohte sie, mit ängstlichem Unterton.

      „Wir sind keine Einbrecher. Wir kommen vom Koblenzer Tageskurier und haben ein paar Fragen zu Tobi“, erklärte