Jochen Sommer

Carmen im Kopfhörer


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noch durchgeführt werden musste. An der erfolgreichen Durchführung zweifelte Rainer nicht, da er ja für das höchste Gut des Menschen kämpfte, die Freiheit.

      Zumindest für seine eigene, schränkte er vorsichtig ein, als Ludwig an seinem Schreibtisch vorbeistrich und offenbar eine Fortsetzung des gestrigen Gesprächs wünschte. Rainer lächelte ihm hoffnungserweckend zu, vertröstete ihn auf die Mittagspause und entwarf die Grundzüge seines Planes: Sieger würde er sein, Rainer. Der Gegner war Beate. Für Ludwig blieb somit nur die Rolle des Opfers übrig.

      Rainer war sehr zufrieden mit dieser Aufteilung und begann sofort mit taktischen Überlegungen. Zwischen Sieger und Opfer eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen war Frontabschnitt I.

      Im Frontabschnitt II musste er eine Verbindung zwischen Ludwig und Beate schaffen. Eine höchst innige Verbindung, die es schließlich ihm, Rainer, erlauben würde, das Opfer zu mimen und der Sieger zu sein. Er sah sich bereits greinend im Wohnzimmer seiner Schwiegermutter sitzen. „Meine Frau betrügt mich“, hörte er sich schluchzen, „das kann ich ihr niemals verzeihen!“

      Verdammt noch mal, dachte Rainer empört und verließ wütend seine Vision, das könnte er ihr wirklich nicht verzeihen. Diese ganzen Ehejahre und dann das!

      Das war Frontabschnitt III, rief er sich zur Ordnung, der Befreiungsschlag. Mit dieser Wut in sich und der Familienmoral im Rücken würde er die Trennung durchstehen.

      Seufzend stand Rainer vom Schreibtisch auf und ging zur Kantine. Durch die Glastür sah er Ludwig bereits am vorderen Tisch warten, seinen dünnen Tee rühren und zur Tür starren. Rainer unterdrückte sein Mitleid; er befand sich schließlich im Kriegszustand.

      Hart stellte er die Kaffeetasse auf Ludwigs Tisch, setzte sich ihm gegenüber und fragte barsch: „Nun? Haben Sie es sich überlegt? Die Zeit drängt. Ihre, nicht meine.“

      Ludwig hörte erschreckt auf zu rühren und umfasste haltsuchend das Teeglas. Ausweichen gab es hier nicht.

      „Ja“, sagte er hilflos, „Sie haben ganz recht. Ich muss endlich ein eigenes Leben beginnen. Packen wir´s an“, fügte er ängstlich hinzu. Der Augenblick, das spürte er, verlangte starke Worte.

      Rainer war irritiert. Etwas mehr Widerstand hatte er schon erwartet. „Morgen Abend, was haben Sie da vor?“, fragte er.

      „Morgen?“ Ludwig rührte hastiger im Tee und suchte nach einer Ausrede für seine Mutter. „Morgen ist Samstag. Da habe ich nichts vor.“

      „Dann treffen wir uns um acht im Goldenen Anker“, sagte Rainer. „Einverstanden?“

      „Einverstanden“, antwortete Ludwig und gab Rainer im Aufstehen die Hand, als schlösse er einen Pakt.

      „Schatz“, sagte Rainer beim abendlichen Fernsehen zu Beate, „von Ludwig habe ich dir schon erzählt, nicht wahr?“

      „Ludwig?“ Beate stellte die Sendung leiser und versuchte sich zu erinnern. „Der vom Kegelclub?“, fragte sie tastend.

      „Ja, der“, nickte Rainer. Wie gut, dass er ihn schon erwähnt hatte. „Den treffe ich morgen Abend. Er hat Probleme.“

      „Probleme?“ Probleme interessierten Beate grundsätzlich. Sie drehte die Sendung noch leiser. „Probleme mit seiner Frau, vermutlich?“

      „Nein“, wunderte sich Rainer, „nicht mit seiner Frau. Mit seiner Mutter. Ludwig ist Junggeselle.“

      „Junggeselle? So. Mit seiner Mutter? Wie alt ist er denn?“

      Beates Interesse schwand.

      „Sechsunddreißig.“

      „Ach ja. Und da hat er noch Probleme mit seiner Mutter?“

      „Nun“, begann Rainer und suchte nach Erklärungen, „er ist ein Einzelkind.“

      „Ein Einzelkind?“ Beate, die niemals eines bekommen hatte, fühlte sich angesprochen. „Und was hast du damit zu tun? Du hast doch gar keine Erfahrung mit Kindern.“

      „Bitte!“, sagte Rainer ärgerlich. „Ludwig ist kein Kind mehr. Ludwig ist sechsunddreißig Jahre alt und versucht jetzt, sich von seiner Mutter zu lösen. Dabei soll ich ihm helfen.“

      „Du.“ Beates Blick glitt über Rainers Körper hinweg zum Fernsehgerät. „Ausgerechnet du, also, sollst ihm dabei helfen?“

      „Natürlich“, sagte Rainer gereizt, „könntest du es etwa besser?“

      „Möglich“, lächelte Beate. „Frauen können sowas besser; sie haben das größere Einfühlungsvermögen.“

      Rainer griff beherrscht zur Weinflasche, füllte erneut sein Glas und fragte sanft: „Und wie, meine Liebe, würdest du vorgehen?“

      „Psychologisch.“ Beate blicke ihn hochmütig an. „Ganz einfach: Psychologisch.“

      „Darin kenne ich mich nicht gut aus“, gab Rainer zu.

      „Natürlich nicht“, bestätigte Beate, „du bist ja auch keine Frau.“

      Das war unbestreitbar. Rainer schwieg. Frontabschnitt II, dachte er, das war eine gute Gelegenheit, eine Verbindung zwischen Ludwig und Beate herzustellen.

      „Also gut, ich überlasse ihn dir“, sagte er. Ein Überraschungsangriff.

      „Wie?“ Beate sah verblüfft zu ihm hin. „Wen überlässt du mir?“

      „Ludwig“, sagte Rainer. „Ich werde ihn zu uns einladen, damit du psychologisch vorgehen kannst. Als Frau“, fügte er herausfordernd hinzu.

      „Schön“, sagte Beate, „bring ihn her.“ Sie dachte gar nicht daran nachzugeben.

      Ludwig sah schnell ein, dass Beate für Mutterprobleme die Kompetentere war und versprach zu kommen.

      Es war ein Dienstag, an dem Ludwig kam. Rainer hatte seit einiger Zeit schon beiläufig am Fenster gestanden und auf die Straße hinabgeblickt. Herr Breitmüller von gegenüber hatte seinen klobigen Wagen unter der Laterne geparkt, die Nachbarskinder waren zum Abendessen gerufen worden, und die Sonne beeilte sich unterzugehen. In wenigen Minuten würde sie endgültig die Beleuchtung dieser Vorortstrasse den Laternen überlassen.

      In dem langen Schatten, den die Häuser jetzt warfen, sah Rainer einen Mann näherkommen, der eigentlich nur Ludwig sein konnte. Das modische Grau des Mantels glich dem des Straßenbelags, nur die Bewegung und der Blumenstrauß unterschieden ihn davon. Der Blumenstrauß allerdings mehr. Er war groß, in Seidenpapier verpackt, und oben schauten die Köpfe von blassrosa Nelken hervor. Sie waren das einzig Farbige an dieser Erscheinung, und Rainer dachte, dass sich Beate bestimmt über diese Blumen freuen würde.

      Das Klingeln der Glocke rief ihn zur Korridortür, und aus der muffigen Luft des Treppenhauses trat Ludwig in die der Wohnung. Rainer setzte ihn auf die Couch des Wohnzimmers und holte Beate, die sich im Schlafzimmer die Lippen nachzog. Beinahe anziehend sah sie heute aus, stellte Rainer zufrieden fest. Eine Spur zu üppig vielleicht, aber das passte zu ihr.

      Ludwig, der Beate schüchtern Hand und Blumen reichte, schien sich in ihrer Gegenwart ebenfalls wohl zu fühlen, denn es dauerte nicht lange, bis beide lebhaft miteinander sprachen. Rainer hielt sich rauchend im Hintergrund und beobachtete die Entwicklung seines Schlachtplans. Der Vormarsch in Frontabschnitt II kam zügig voran.

      Etwas zu zügig, dachte er plötzlich eifersüchtig, denn Beates Verhalten musste man eigentlich Flirten nennen. Dreistes Flirten, korrigierte er sich, taktloses. Schließlich war er immer noch der Ehemann. Rainer drückte seine halbgerauchte Zigarette aus, nahm sich verstimmt eine neue und verbot sich, den günstigen Verlauf seines Plans zu behindern.

      Sich an diese Verbot zu halten, war nicht einfach, bemerkte er in den nächsten Wochen. Ludwig war ein häufiger Gast geworden, denn seine Mutter hatte keine Einwände gegen diese Besuche. Und an den Tagen, an denen er nicht kam, versäumte es Beate nie, sich nach dem Befinden des ‚Jungen’ zu erkundigen. Sie hatte sogar begonnen, mit irgendeiner Zeitschriftendiät abzunehmen, was Rainer