Jochen Sommer

Carmen im Kopfhörer


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mit dem Whisky floss sie durch seine Adern, und er begrüßte die beiden Frauen eher beiläufig.

      „Habt ihr was Schönes gekauft?“, fragte er.

      „Nein“, sagte Beate, „wir haben Anouschkas Hotelzimmer den ganzen Tag nicht verlassen. Wir haben uns richtig verquatscht, ein bisschen getrunken und so. Aber du warst einkaufen, nicht wahr?“, fragte Beate und hustete.

      Rainer nickte nur.

      Beate hustete erneut. „Meine Bronchitis ist schlimmer geworden“, sagte sie. „Ich möchte heute nicht mit in diese verqualmte Disco gehen. Geht ihr beiden doch allein“, schlug sie vor.

      Rainer schaute erfreut zu Anouschka hinüber und die nickte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch Anouschka sich für den Abend zurechtgemacht hatte: Mit einem dunklen Konturenstift hatte sie ihre rotgeschminkten Lippen betont, mit dezentem Make up ihre Augen. Ein enges, züchtig hochgeschlossenes graues Kleid schmiegte sich um ihren Körper, und sie trug flache Schuhe, wie Rainer erfreut feststellte. Dank seiner eigenen neuen Schuhe überragte er Anouschka jetzt ein wenig. Sie sah sehr fraulich aus, nicht so mädchenhaft wie am Strand.

      Und etwas älter wirkte sie durch das Kleid auch; sie passte jetzt noch besser zu ihm, dachte Rainer.

      „Wenn’s deiner Gesundheit dient“, sagte er deshalb großmütig zu Beate, „bleib halt hier. Wir kommen auch ohne dich zurecht.“

      Im Licht der sinkenden Sonne gingen Rainer und Anouschka durch Zandvoort und suchten gemeinsam ein Tanzlokal.

      Die Wände der Diskothek waren schwarz, glänzendes Chrom und der Metallboden der Tanzfläche reflektierten bunte Blitze und flackerndes Licht. „I can get no satisfaction“ brüllte Mick Jagger dazu aus tausend Lautsprechern, und Rainer war beruhigt. Wenigstens die Musik war ihm noch bekannt.

      „Ladies and Gentlemen“, schrie ein magersüchtiger Mann ins Mikrofon, „oldie time is over.“ Mit nervösem Ruck schob er einen Knopf an der Musikanlage nach vorn und bearbeitete pantomimisch eine Gitarre.

      Diese Musik war Rainer nicht bekannt. Unsicher hielt er sich an Anouschka fest und rief ihr zu: „Die Bar in Casablanca hat mir besser gefallen!“

      Anouschka küsste ihn aufs Ohr und antwortete etwas, das Rainer nicht verstehen konnte. Immer mehr Menschen drängten sich ins Lokal und auf die Tanzfläche. Mädchen- und Männerkörper bewegten sich dort, schöne Körper, wie Rainer sie vom Strand her kannte. Er bestellte einen Whisky und schwang sich souverän auf einen Barhocker.

      Anouschka deutete auf die Tanzfläche, Rainer schüttelte ablehnend den Kopf. So tanzte sie allein, und Rainer sah ihr von der Höhe seines Hockers aus dabei zu.

      Zwischen all den buntgekleideten Menschen wirkte Anouschka in ihrem grauen Kleid fast nonnenhaft. Ihre Bewegungen waren sparsam und körperbetont. Sie tanzte gegen den hämmernden Rhythmus der Musik an, verwandelte deren Tempo in langsame Bewegungen. Wie eine Königskobra schlängelte sie sich zwischen den ekstatisch zuckenden Leibern der übrigen Tanzenden hindurch, ihre Hände bewegten sich, als würden sie den Konturen eines kurvenreichen Körpers folgen.

      „Bärenstark“, sagte der hünenhafte Mann auf dem Hocker neben Rainer, der Anouschka ebenfalls gebannt zugesehen hatte. „Wie ist diese indische Tempeltänzerin hierher gekommen?“

      „Sie ist mit mir gekommen“, informierte ihn Rainer knapp.

      „Glück muß man haben“, sagte der Mann und musterte Rainer, „oder Geld. Sogar sehr viel Geld, in Ihrem Fall.“ Der Mann grinste neidisch und gemein und schaute wieder auf die Flaschen, die im Regal hinter dem Tresen standen.

      Die Missgunst des Mannes ließ Rainer genüsslich an sich abperlen und lächelte Anouschka zu. Mit einer lässigen Handbewegung winkte er sie zu sich, und Anouschka gehorchte sofort.

      „Gigantisch viel Geld“, hörte Rainer den Mann neben sich murmeln.

      Anouschka fasste Rainer an seinem blutroten Hemd und zog sein Ohr zu ihren Lippen. „Tanzen Sie jetzt mit mir?“, flüsterte sie.

      „Mindestens so viel wie Dagobert Duck und Bill Gates zusammen“, lästerte der Mann lauter.

      Da rutschte Rainer stolz von seinem Sitz herab, schüttelte sich ein wenig und schritt auf den hohen Absätzen seiner Schuhe entschlossen zur Mitte der Tanzfläche. Nach einigen ungelenken Bewegungen verfiel er schließlich in eine Art Foxtrott, wobei ihn Anouschka umschlängelte. Dann begann er, den Grundschritt größer und mutiger auszulegen, bewegte auch Oberkörper und Arme dazu. Die wechselnden Musikstücke erzwangen keine Änderung seines Stils, doch er selbst änderte sich. Raumgreifend und provokant nahm er allmählich Besitz von der Tanzfläche, rempelte hier und dort Tanzende an, entschuldigte sich selten. Rücksichtslos und fordernd nahm er sich den Platz, den er benötigte. Anouschka folgte ihm wie sein eigener Schatten.

      Rainer hatte niemals in seinem Leben so getanzt wie in dieser chromglänzenden Diskothek. Ohne Gefühl für die verstreichende Zeit, ohne dass es ihn körperlich anstrengte, tanzte er.

      Er tanzte, bis ihn der Magersüchtige per Mikrofon bremste: „Bluestime now“, verkündete er, „Some oldies first.“

      Die meisten Pärchen verließen die Tanzfläche, nur wenige, auch Anouschka und Rainer, blieben zurück.

      „Wollen wir das auch tanzen?“, fragte er leise.

      „Da musst du durch“, sagte Anouschka, umfasste Rainer eng und lächelte zu ihm hoch.

      Ausgerechnet ‚moon river‘ legte der Magersüchtige auf, und mit den ersten Takten versank Rainer in seiner Jugendzeit, in der Zeit vor Beate. Er war wieder im Partykeller seines Freundes Jörg, wo die Eltern gelegentlich vorbeischauten, nur so. Damals hatten sie auch so eng getanzt, wenn die Eltern endlich ins Bett gegangen waren, zu ‚moon river‘ oder ‚blueberry hill‘, die damals schon Oldies waren. Während die letzten Kerzenstummel herunterflackerten, waren die Mädchen moralischer geworden und die Jungen kühner.

      Wie wenig sich seither doch geändert hatte, dachte Rainer wehmütig, denn auch Anouschka hielt seine Hände fest und ihn selbst auf wohlkalkulierter Distanz. Er spürte zwar den Druck ihrer Brüste durch sein Polohemd, doch unterhalb seines Hosengürtels trennten sie Welten.

      Als er die überbrücken wollte, schob Anouschka ihn sacht und weit von sich. „Nicht hier“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „lass uns ins Hotel gehen.“

      Rainer war baff. Das hätten die Mädchen in Jörgs Keller nie gesagt. Er hatte wohl einige Jahrzehnte Emanzipation verschlafen, dachte er.

      Rainer ging an den Tresen, warf dem Mann dahinter einen 50-Euro-Schein zu und sagte dem neidischen Hünen: “Das war übrigens mein letztes Geld. Die nächste Stütze kommt erst in zwei Wochen.“

      Im Weggehen drehte er sich noch einmal um und ergänzte: „Du Arsch.“

      Der Hüne schaute stumm zurück. Er wirkte jetzt sehr viel kleiner - auf die Distanz.

      Anouschka wartete schon am Ausgang neben einem Taxi. Sie hielt ihm die Wagentür auf, und Rainer krabbelte hinein auf das bequeme Polster des Wagens. Anouschka nannte dem Fahrer irgendeine Straße, in der vermutlich ihr Hotel lag.

      Sie setzte sich neben ihn, Rainer nahm ihre Hand und diesmal sträubte Anouschka sich nicht. Die Häuser der holländischen Stadt glitten an ihnen vorüber, rhythmisch erhellten die Lampen über der Fahrbahn das Innere des Wagens. Ihr Licht fiel erst durch die Frontscheibe, dann verschwand es, um anschließend durch die Heckscheibe zu fallen. So bewusst hatte Rainer noch niemals eine Taxifahrt wahrgenommen und schon gar nicht mit einer solchen Frau und so eindeutigen Absichten.

      Das Hotel, vor dem das Taxi hielt, kam ihm allerdings sehr bekannt vor. Es war sein eigenes.

      „Beate erwartet uns sicher schon“, sagte Anouschka beim Aussteigen. Rainer bezahlte den Fahrer und knallte die Wagentür heftiger zu als notwendig. Stinksauer lief er hinter Anouschka durch die große Hotelhalle, folgte ihr zum Zimmer.

      Beate saß im Bademantel auf dem Bett, und auch Anouschka