Jochen Sommer

Carmen im Kopfhörer


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hatte sie ihm eigentlich nicht mehr zugetraut. Für die Nordsee als Urlaubsziel hatten sie sich entschieden, weil sie, Beate, wieder mal eine hartnäckige Bronchitis plagte.

      Wegen ihrer keuchenden Hustenanfälle hatte Rainer bereits das eheliche Schlafgemach gegen die Couch des Wohnzimmers getauscht.

      Vielleicht, dachte sie beim zweiten Campari, kam Rainer jetzt in ein Alter, in dem wieder Entwicklungen möglich waren.

      Jedenfalls, beschloss sie beim dritten Glas, wollte sie Rainer dabei helfen. Sie waren schließlich verheiratet.

      „Freiheit“, sagte sie am nächsten Morgen im Frühstückssaal etwas laut, „die Freiheit ist es, die ich im Urlaub schätze.“

      Betreten schauten andere Ehepaare zu Beate hinüber, und Rainer hob schnell die große Kaffeetasse vors Gesicht, um ausgiebig zu trinken. Appetit hatte er keinen mehr und auch keine Lust, auf dieses Thema einzugehen. Etwas überstürzt verließ er den Saal, setzte die Sonnenbrille auf und ging zum Strand.

      Mit Beates Freiheitsbegriff wollte er sich nicht auseinandersetzen, auch nicht mit seinem eigenen. Nicht in diesem Urlaub, den er ursprünglich für eine ganz andere Reise beantragt hatte.

      Die Luft flimmerte über dem Strand, wälzte sich in der Windstille schwer zwischen den Strandkörben hindurch, und Beate wusste nicht, ob das Geflimmer tatsächlich nur an der Hitze oder auch an den vielen Camparis lag, die sie getrunken hatte. Wie an jedem Nachmittag in diesem Urlaub saß sie auf ihrem gewohnten Platz vorn am Geländer des Cafe´s und langweilte sich. Rainer hatte sich auch nicht entwickelt, dachte sie, höchstens zurück. Pubertär war das, wie er Tag für Tag hinter seiner dämlichen Brille am Strand hockte und Frauen beglotzte.

      Selbstmitleidig hob sie das Campariglas und prostete dem Mädchen auf der anderen Seite des Tisches zu. „Ich weiß zwar nicht, wie es auf holländisch heißt“, lächelte sie unglücklich in das fremde Gesicht, „aber trotzdem: Prost.“

      „Ich weiß es auch nicht“, lachte das Gesicht zurück. „Nicht einmal auf arabisch könnte ich es Ihnen sagen, denn die trinken ja offiziell keinen Alkohol, diese Moslems.“

      Beate staunte: „Wieso arabisch? Sind Sie Araberin?“

      „Nicht ganz“, lachte das Mädchen. „Ich komme ursprünglich aus Hagen und jetzt gerade aus Tunesien.“

      „Waren Sie freiwillig da unten?“, fragte Beate und dachte an die haarsträubenden Berichte, die sie gelegentlich beim Friseur las.

      Das Mädchen blickte sie befremdet an. „Ich habe dort einige Monate gearbeitet, im Hotel, als Kindergärtnerin für die Gästekinder.“

      Beate bestellte Getränke, und das Mädchen begann zu erzählen. Während die Schatten der Strandkörbe länger wurden, sprach es über die afrikanische Wüste, über wilde Berberstämme und sein eigenes ungebundenes Leben. Beate war sehr zufrieden mit diesem Nachmittag; der Kellner auch.

      Rainer schob zur Kontrolle seine Sonnenbrille auf die Stirn, doch die beiden wankenden Gestalten nahten sich weiterhin. Eine davon war unverkennbar Beate.

      „Das ist Anouschka“, stellte Beate die andere vor, „Anouschka aus Afrika.“

      „Tatsächlich?“, wunderte sich Rainer und betrachtete die junge Frau gewissenhaft. Sie war etwas größer als Beate, schlanker und zwei Jahrzehnte jünger. Das wäre er jetzt auch gern, wünschte sich Rainer und bekam Anouschka letzten Satz gerade noch mit: „...und außerdem ist Afrika für mich ein Ort der Selbstfindung.“

      Rainer merkte sich das für alle Fälle und fragte: „Heißen Sie tatsächlich Anouschka?“

      „Nein“, sagte das Mädchen widerstrebend, „tatsächlich heiße ich nur Anna.“

      „Die Mutter Courage bei Brecht hieß auch so“, tröstete Rainer sie. „Wenn man es sich recht überlegt“, schmeichelte er, “ist das gar nicht so abwegig. Zur Selbstfindung nach Afrika zu gehen, dazu gehört schließlich Mut.“

      „Stimmt“, beendete Beate Rainers literarischen Ausflug, „aber heute Abend gehen wir erstmal gemeinsam ins Kino. Casablanca, mit Humphrey Bogart, spielt auch in Afrika.“

      „Den liebe ich“, schwärmte Rainer, „der spielt immer so klassisch den Verlierer.“

      Der Film war nicht synchronisiert, und holländisch hätte auch nicht gepasst zu den markanten Falten im Gesicht des Schauspielers und zu seinen lakonischen Sätzen. Rechts neben sich hörte Rainer Beates bronchiales Husten und rückte nach links. Sein Knie und Ellbogen berührten dabei Anouschka, und Rainer beließ es so. Zu seiner Zeit wäre das verstanden worden, doch Anouschka schien es nicht einmal zu bemerken; auch nicht die heimlichen Blicke, mit denen Rainer im Halbdunkel des Kinos ihr Profil betrachtete.

      Näher kam er Anouschka auch am Plastiktisch des Cafe´s nicht, das sie nach dem Film aufsuchten. Etwas abseits saß er den beiden Frauen gegenüber, vermochte kaum ihrem leisen Gespräch zu folgen.

      Als sie das Cafe´ verließen, war der Ablauf des nächsten Tages bereits geplant, und Rainer bekam von Anouschka einen Abschiedskuss. Sie schien seine Verlegenheit zu bemerken und sagte lächelnd: „Sie sind süß, irgendwie.“

      Mit diesem Satz in den Ohren glitt Rainer in einen traumlosen Schlaf, aus dem ihn erst Beate weckte, die im Badezimmer keuchend abhustete.

      Angewidert stand er auf, verzichtete auf die morgendliche Rasur und ging hinunter in den Frühstückssaal. Wenig später kam Beate, die Tasche mit den Strandutensilien in der Hand.

      „In einer Stunde treffen wir uns mit Anouschka“, sagte sie. „Du hast doch sicher nichts dagegen?“

      Rainer zuckte gleichmütig die Schultern. „Nein, warum?“, fragte er.

      „Ich finde dieses Mädchen sehr sympathisch“, meinte Beate, „und es hat schon so viel erlebt.“

      „Sie ist wirklich ganz nett“, bestätigte Rainer,.

      Sie war mehr als das, dachte er, als sie am Strand ihre Decken ausbreiteten. Unter dem Kleid, das Anouschka gerade auszog, trug sie nur ihr Bikinihöschen, auf das Oberteil hatte sie verzichtet.

      Rainer richtete die Gläser seiner Sonnenbrille hinaus aufs Meer und musterte Anouschka aus den Augenwinkeln. Ihre Brüste waren etwas kleiner als Beates, doch in den Konturen fester. Sie lagen nicht schwer auf den Rippen auf, sondern reckten sich vorwitzig nach oben, und ihre Brustwarzen hatten einen kleineren Hof.

      „Warum tragen Sie eigentlich diese entsetzliche Sonnenbrille?“, fragte Anouschka gerade.

      Rainer murmelte etwas von empfindlicher Bindehaut.

      „Sie steht Ihnen überhaupt nicht“, sagte Anouschka. „Sie sehen damit aus wie ein italienischer Papagallo oder ein arabischer Waffenschieber. Ich hasse diese verspiegelten Gläser. Man fühlt sich beobachtet, selbst wenn sie woanders hingucken.“

      Rainer zog die Brille ab und warf sie lässig in die Badetasche. „Ich werde mir sofort eine andere kaufen“, sagte er gehorsam. „Kommen Sie mit und beraten mich?“

      „Im Interesse des guten Geschmacks“, sagte Anouschka, streifte ihr Kleid über und fragte Beate: „Sie haben doch nichts dagegen?“

      „Nur gegen die Sonnenbrille habe ich was“, antwortete Beate und sah den beiden nach, wie sie über die Holzstufen die Düne emporstiegen. Sie, Beate, hätte Rainer niemals seine Sonnenbrille ausreden können, gestand sie sich ein. Anouschka hatte dafür weniger als eine Minute gebraucht. Vielleicht war sie auch der geeignete Katalysator, um Rainers Unfreiheit zu beseitigen, überlegte Beate.

      Galant hielt Rainer Anouschka die Hand hin und half ihr über die letzte, etwas höhere Holzstufe der Düne hinweg. Er hielt ihre Hand auch noch, als es keine Holzstufen mehr zu überwinden gab.

      „Da vorne gibt es Sonnenbrillen“, rief Anouschka, entzog Rainer ihre Hand und deutete auf einen Souvenirladen.

      Dutzende von Sonnenbrillen lagen in drehbaren Metallständern,