Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


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winkt kurz den beiden Männern in Zivil, die in dem VW-Bus langsam an uns vorbeifahren, halb in die Alte Rothofstraße einbiegen, parken und aussteigen. Ein paar Fußgänger, denen der Wagen jetzt beim Überqueren der kleinen Straße im Weg steht, ziehen missbilligende Gesichter und machen abfällige Bemerkungen.

      „Tut mir leid, ist halt so,“ meint die Polizistin zu mir. „Kommen Sie bitte mit, Herr Berkamp.“

      Sie läuft zügig zu dem hellblauen VW-Bus, in dem niemand mehr sitzt, öffnet die Schiebetür auf der Beifahrerseite.

      „Bitte warten Sie hier, der Kollege kümmert sich gleich um Sie. Das ist wahrscheinlich der Oberkommissar Schuster.“

      Während sie die Tür wieder zuschiebt, lächelt sie noch einmal kurz in meine Richtung und geht zurück zu ihrem Dienstwagen.

      *

      Den Arbeitsraum des VW-Busses beherrschen drei überraschend gut gepolsterte hellgraue Sitze mit hochaufragenden Rücklehnen, Sicherheitsgurten und Kopfstützen. Ich setze mich auf den einzelnen Sitz neben einem flachen Staukasten mit dem Rücken zum Fahrer.

      Von hier aus bietet sich seitwärts ein guter Blick auf das Geschehen vor der Schmuckboutique. Mehr wie ein Echo zwischen den Häusern tönt erneut ein Martinshorn. Mit vielfach grell zuckenden blauen Lichtern rollt ein weiß-roter Rettungswagen die Goethe-Straße hinab und hält schräg hinter dem grauen VW-Passat. Zwei Männer in roten Jacken mit weißen Streifen steigen aus, gehen zur Rückseite des Fahrzeugs und öffnen eine der beiden Türen. Einer der Rettungshelfer trägt einen mittelgroßen kastenähnlichen Rucksack, als sie wenig später in dem Uhrengeschäft verschwinden.

      Vom Rathenau-Platz her biegt ein älterer weiß-rot gestreifter BMW X-5 mit einem Blaulichtbalken und der Aufschrift „Notarzt“ in die Goethe-Straße ein, bahnt sich im Schritttempo den Weg durch die Zuschauer entlang der Fahrbahn und bremst vor dem grauen VW-Passat. Der Notarzt, ein untersetzter Mann mit grauen Haaren und deutlicher Halbglatze auf dem Hinterkopf, steigt aus, zieht sich geruhsam eine rot-weiße Notarzt-Jacke über, hebt eine dunkelbraune Arzttasche vom Beifahrersitz und schließt die Wagentür. Er schaut in die Runde, schüttelt leicht den Kopf und geht geruhsam zu der „Croma“-Ladentür.

      Wenig später wird eine Person auf einer hochbeinigen rollenden Liege aus dem „Croma“-Laden gebracht und in den Rettungswagen geschoben. Die Rettungshelfer steigen ein, der Kastenwagen setzt einige Meter zurück und fährt mit zuckendem Blaulicht, aber ohne Alarmsignal, in Richtung Junghofstraße davon.

      Neben der Tür des überfallenen Uhrenladens steht einer der Kriminalbeamten in Zivil mit zwei uniformierten Polizisten; er scheint ihnen Erklärungen oder Anweisungen zu geben; sie nicken wiederholt. Anschließend geht der Kriminalbeamte in der Boutique.

      Zwei weitere Polizeifahrzeuge rollen langsam heran. Das scheint eine größere Sache zu sein. Spurensicherung, Befragung der Verkäufer, Suche nach Zeugen; alles, was nach derartigen Überfällen in Krimis eher beiläufig beschrieben oder gezeigt wird.

      Wurde tatsächlich mein Wagen für den Überfall benutzt? Wie haben die Typen das geschafft? Ich dachte, moderne Autos mit ihrer aufwändigen Elektronik sind längst nicht mehr so leicht zu knacken wie früher. Scheinbar doch. Oder hatten die eine Art Generalsschlüssel?

      Das jähe Ende meines Samstagvormittagsbummels. Nur aus Zufall bin ich heute durch die Goethe-Straße gegangen statt nebenan durch die Kleine Bockenheimer Straße, im Volksmund Fressgasse genannt. Unsinn, Robert, – Zufälle gibt es allein in unserer begrenzten Wahrnehmung. Wer weiß, wozu es gut sein soll. Warte ab, wohin es dich führt.

      Wenigstens habe ich ordentlich zum Mittag gegessen. Also üben wir uns in Geduld! Hätte ich mich anders verhalten sollen? Was sonst hätte ich tun können? Den privaten Wachmann vor dem anderen Edeluhrenladen ansprechen, wo ich stand, als ich die Polizei anrief? Wenn ich daran gedacht hätte. Der Wachmann hätte das womöglich als irreführende Ablenkung von seiner Arbeit missverstanden. Egal; hätte, könnte, sollte – vorbei. Jetzt ist es, wie es ist.

      Wie lange dauert das wohl, bis einer der Beamten Zeit für mich findet? Natürlich wüsste ich gern, was in dem Laden vor sich geht. Ich könnte aussteigen und hingehen. Aber ich empfinde stets eine Hemmung, das Unglück anderer Menschen zu begaffen. Größere Menschenansammlungen bereiten mir ohnehin Unbehagen. Fest steht; mein BMW ist Teil des Geschehens geworden. Blöd, aber nicht zu ändern. Was habe ich damit tun?

      Dass Polizisten die Sachlage grundsätzlich ganz anders betrachten, konnte ich mir beim gedankenverlorenen Blick aus dem Kleinbusfenster nicht vorstellen. Wie sehr anders, erfahre ich wenig später.

      Obwohl sich auch das als Irrtum herausstellt.

      Als folgenschwerer Irrtum.

       3

      Das Rumpeln der Schiebetür des VW-Busses beendet meine Versonnenheit. Der zivile Kriminalbeamte, der zunächst in die Uhren-Boutique gegangen ist, duckt sich in den Wagen und setzt sich mir gegenüber auf den linken der beiden Sitze jenseits eines schmalen grauen Klapptisches. Er kramt einige Formulare aus einem Schubfach an der Seite neben der Tür hervor, steht wieder auf, beugt sich seitwärts und zieht die Schiebetür zu. Er holt stöhnend Luft, wirft sich zurück in den Sitz.

      „Was ein Zirkus! Hauptsache, die Leute haben etwas zum Glotzen.“

      Es folgt ein unterdrücktes Gähnen.

      „Eigentlich ist mein Dienst längst zu Ende. Was soll ’s. Da müssen wir jetzt durch.“

      Erste Einschätzung durch mein nebenher tätiges berufliches Handwerkszeug: Vorsicht! Vermutlich eine Neigung zu Aggressivität, sagt mir sein breites, rundliches Gesicht mit flacher, kurzer Nase. Eine schmalere, längliche Kopfform wird unbewusst mit einem sozial offenen, vertrauenswürdigen Wesen in Verbindung gebracht. Der Mann ist kräftig gebaut, hat graublaue Augen, kurze hellbraune Haare mit einer Andeutung von seitlichem Scheitel sowie leichten Geheimratsecken über den Schläfen. Eine scharf gezogene Kinnfalte trägt zu dem Eindruck von Entschlossenheit bei; eine aktive, sportliche Ausstrahlung. Bestimmt macht der Mann Krafttraining.

      Seine Augenbrauen sind ungleichmäßig gewölbt, die rechte in einem flachen Bogen, die linke deutlich höher und stärker gekrümmt. Beinahe wie ein Schatten vertieft sich darüber eine Falte, wenn er spricht. Das rechte Auge wirkt ein wenig offener als das andere. Zusammengenommen ein möglicher Hinweis auf innerer Unausgeglichenheit.

      „Entschuldigen Sie, in der Aufregung habe ich Ihren Namen vergessen. Sagen Sie mir ...“

      „Schuster, Oberkommissar Schuster“, unterbricht er mich. Statt in meine Richtung dreht er sich ruckartig seitwärts, blickt zum Seitenfenster. Neben dem VW-Bus ist eine graue Dreier-BMW-Limousine zum Stehen gekommen. Das Dach auf der Fahrerseite ziert ein mobiles Blaulicht, das nicht blinkt.

      „Oh, der Boss. Auch schon da, wie schön,“ befindet Oberkommissar Schuster mit leicht abfälligem Unterton. Er verzieht den Mund säuerlich, schaut weiter auf den grauen Wagen. Es dauert einige Augenblicke, dann öffnet sich die Tür der Limousine und eine Frau in dunkelblauen Jeans und einem dunkelgrauen Sweatshirt steigt aus. Sie ist schätzungsweise einmetersiebzig groß. Ihrer schlanken Figur nach zu urteilen bewegt sie sich viel. Die knapp schulterlangen Haare können sich nicht zwischen mattem Blondbraun und beige-grauen Strähnen entscheiden. Sie mag Mitte vierzig sein. Nach einem kurzen Blick zu uns bückt sich noch einmal in den BMW und holt eine dieser schwarzen Taschen mit Schulterriemen heraus, wie man sie für tragbare Computer benutzt. Ihre Tasche ist deutlich dicker als ein Laptop und aus Leder gefertigt.

      Während sie den Gurt der Tasche über die Schulter streift, fährt sie sich mit der linken Hand flüchtig durch die Haare und macht eine seitliche Kopfbewegung in Richtung ihres Kollegen. Oberkommissar Schuster steht unverzüglich auf, öffnet die Schiebetür und geht zu ihr an die Vorderseite des VW-Busses. Alles etwas hektisch für mein Gefühl. Da die Schiebetür wieder geschlossen ist, kann ich nicht hören, worüber die zwei sprechen. Schuster deutet mehrfach mit dem rechten Arm