Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


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den Kopf schüttelt. Auch wenn ich nur seinen Oberkörper sehen kann, der Oberkommissar ist ständig in Bewegung. Stillstehen fällt ihm schwer. Schließlich schaut er seine Kollegin fragend an, hat wohl alles Wichtige gesagt. Die nickt und legt ihre Hand an Schusters linken Arm, um ihn zum Gehen in Richtung der Seitentür des VW-Bus zu drehen.

      Oberkommissar Schuster öffnet die Wagentür und steigt ein. Er setzt sich wieder auf den Sitz gegenüber. Seine Kollegin bleibt zunächst draußen stehen, hat nur einen Fuß auf die Türschwelle gesetzt. Sie beugt sich etwas vor und streckt mir die rechte Hand entgegen:

      „Guten Tag. Mein Name ist Sandner. Ich bin Hauptkommissarin und Leiterin dieser Ermittlungsgruppe.“

      Ich schüttele ihre Hand; angenehmer, mäßig fester Griff.

      „Ja, guten Tag. Berkamp. Mein X-3 scheint in die Sache dort drüben verwickelt zu sein. Unfreiwillig. Und jetzt warte ich hier, wie es weitergeht.“

      Aus der Nähe betrachtet kommt mir der Gedanke, sie muss älter sein als nach dem ersten Eindruck, eher Ende vierzig. Links lässt ihre beige-grau-braunen Frisur die Andeutung eines Scheitels erkennen, mit leichtem Bogen nach rechts über die Stirn, die Haare ein wenig struppig, als hätte sie selbst daran herumgeschnippelt. Ihre Augen tun es mir an. Sie beherrschen das Gesicht; spontan fallen mir Eigenschaften wie klar, offen, ruhig und aufmerksam ein. Dazu eine zierliche Nase mit einem leichten Stups. Die schmalere Kieferpartie betont ihre Wangenknochen; ihr Gesichtsausdruck wirkt wie von einem Anflug aus Neugier oder Staunen gezeichnet. Ein wenig Make-up um die Augenpartie, der Rest normale, glanzlose Haut.

      Ein hübsches Gesicht? – Geschmackssache. Wach, freundlich, eher auf den zweiten Blick einnehmend. Nur die zwei steilen Stirnfalten, die sich unten links und rechts zu den Augenbrauen hinbiegen, empfinde ich ein wenig störend. Ihre ganze Erscheinung erweckt bei mir den Eindruck: Patent und selbstsicher.

      „Dass diese Gangster keine Rücksicht auf unser Wochenende nehmen, werte ich als erheblich strafverschärfend,“ bemerkt sie mit einem knappen Lächeln und steigt ein.

      „Wieso, der Zeitpunkt ist bestens gewählt; möglichst viel Trubel in der Stadt,“ entgegnet Oberkommissar Schuster trocken.

      Wie gesagt, ich betrachte Menschen gern aufmerksam. Besonders, wenn unser Treffen über eine flüchtige Begegnung hinausgeht. Neben Äußerlichkeiten wie Körperhaltung oder Gesichtszüge achte ich auf die Ausstrahlung. Für mich ist das mehr als eine Redensart. Menschen sind buchstäblich lebende Sendemasten. Aus der Schwingungsmedizin ist das längst bekannt. Vor allem das Herz strahlt verblüffend kräftige elektromagnetische Wellen ab, die weit über den Körper hinausreichen. Frauen haben allgemein ein besseres Gespür für die Ausstrahlung anderer Menschen. Auch Männer können das üben; ungefähr, als würde man Spanisch lernen. Du musst nur den Mut aufbringen, deinen intuitiven Wahrnehmungen zu vertrauen.

      Die melden recht zuverlässig, ob du dich zu einer Person hingezogen fühlst, ihre Nähe angenehm empfindest – oder lieber Abstand halten möchtest. Ich gehe einen Schritt weiter. Atme einmal tief durch und werfe einen intuitiven Blick auf mein Energiefeld dicht vor mir. Dort finden sich Hinweise, die mir mehr über die Person vermitteln, als die Augen sehen. Das klappt meist recht gut, auch wenn ich es schwer erklären kann. Als ob vor mir eine klare Nebelhülle auftaucht. Darin erscheinen farbige Umrisse oder Bilder, die ich mit dem Dritten Auge aufnehme. Das geht sogar mit offenen Augen.

      Die Zeit, in der sich die Hauptkommissarin an ihrem Kollegen vorbeizwängt und auf dem zweiten Sitz mir gegenüber Platz nimmt, reicht völlig. Fast schüttele ich verwundert den Kopf beim Vergleich. Sobald ich an Oberkommissar Schuster denke, erscheint eine Art Qualm bedrängend nah vor mir, dicht und grau; dazu empfinde ich ein leichtes Druckgefühl über dem Brustbein. Oh, oh, nicht gerade gut. Als ich mir Hauptkommissarin Sandner vorstelle, wird es weiter und heller um mich, weißlich-hellblau, und das Druckgefühl über der Brust verschwindet. Im Umriss ihrer Gestalt wird ein schwachrötliches Strahlen erkennbar. Das sind zwar nur vorläufige und flüchtige Hinweise; aber ich habe gelernt, auf sie zu achten.

      Oberkommissar Schuster reicht mir ein Formular mit Dienstwappen.

      „Bitte durchlesen und unterschreiben. Ihr Einverständnis mit der Zeugen-Befragung nebst Aufzeichnung und die Belehrung, dass Sie wahrheitsgemäß antworten und nichts Wesentliches weglassen.“

      Während ich das Papier überfliege und unterschreibe – was bleibt mir anderes übrig; klar will ich aussagen, vor allem möglichst schnell nachhause – hat Schuster ein flaches schwarzes Tonbandgerät mit einem Mikrofon auf einem kleinen Dreibein auf den Tisch gestellt.

      „Wir nehmen Ihre Aussage auf, wenn die Erinnerung an das Geschehen noch frisch ist. Anschließend habe ich noch ein paar Fragen.“

      Er nimmt das Mikrofon kurz hoch, lässt es wieder sinken:

      „Ihr Vorname. Ich brauche Ihren Vornamen.“

      „Robert. Robert Berkamp.“

      Er nickt knapp, hebt das Mikro wieder in seine Richtung:

      „Datum Samstag, dreiundzwanzigster Julei, dreizehnuhrfünfzig. Ort Frankfurt Goethe-Straße im EF. Einvernahme des Robert Berkamp als Zeuge. Anwesend sind der Zeuge sowie Hauptkommissarin Sandner und ich, Oberkommissar Schuster, beide K 21, Dienstnummern bekannt. Ich müsste mal ihren Ausweis sehen, Herr Berkamp?!“

      Während ich die Plastikkarte aus meinem Ledermäppchen herausziehe, setzt er seine Routineabfrage in Verwaltungstonlage fort: Wohnort Geburtsdatum.

      Schuster sieht mich zweifelnd an. „Aha, 59 Jahre; so, so.“

      Familiestand (geschieden, eine Tochter).

      „Beruf?“

      „Wer, meine Tochter oder ich?“

      „Mann, Sie natürlich.“

      „Verhaltenscoach.“

      „Also Psychotherapeut.“

      „Nein, Herr Schuster, das wäre falsch.“

      Er schaut mich überrascht an: „Das ist doch bloß ein anderes Wort für die gleiche Sache?“

      „Nö. Das geht vielen Leuten so.“

      Nach dem Therapiegesetz darf ich mich nicht Therapeut nennen.

      „Und was machen Sie?“ mischt sich die Hauptkommissarin ein, die bisher still zugehört hat. „Ich meine, dumm gefragt, worin besteht der Unterschied, wenn sich das in wenigen Worten sagen lässt?“

      Ihre Stimme klingt offen, die Frage unbefangen gestellt; wie sie mich ansieht, kommt mir das Wort Neugierblick in den Sinn.

      Grob gesagt: Die klassische Psychotherapie betrachtet Menschen mit Problemen als fehlerhaft. Durch Einsicht bringt man sie dazu, sich zu bessern. Wem ’s hilft, der mag es tun. Ich glaube nicht daran.

      „Wird das jetzt ein Therapie-Seminar? Ich dachte, wir hätten einen Fahrzeugdienstahl zwecks Überfall ...“, geht Schuster dazwischen.

      „Manni, lass doch mal für den Moment,“ unterbricht die Kollegin. „Ich finde das wissenswert. Und was tun Sie statt dessen, Herr Berkamp?“

      Die Dame wirkt ehrlich interessiert.

      „Einfach gesagt: Ich glaube, Menschen handeln immer nach ihren besten Möglichkeiten. Unter bestimmten Umständen reichen die allerdings nicht aus oder stören sogar. Also gebe ich Anstöße, anders zu denken oder neue Erfahrungen zu machen. Oder helfe Leuten, früheres Versagen loszulassen und zu vergessen.“

      Zum Ende meines Kurzvortrags nickt sie nachdenklich und befindet: „Uhum. Alte Sünden vergessen, das klingt gut. Und wie machen Sie das“, hakt sie nach.

      „Ich rege Leute an, mit ihren gewohnten Denk- und Verhaltensmustern zu spielen, sie in Frage zu stellen. Das eröffnet Wege, sich von inneren Belastungen zu lösen.“

      „Und danach wischt man sich den Hintern ab, und brüllt