Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


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drei Jahren als freiberuflicher Coach. Die Wohnung habe ich behalten, weil sie – längst abbezahlt – ein preiswertes Wohnen ermöglicht; weil sie geschützt ist mit der später eingebauten Sicherheitstür.

      Vor allem aber, weil sie praktisch ist mit ihren vier Zimmern; ein großes Wohnzimmer, ein geräumiges Schlafzimmer und zwei etwas kleinere Räume; einen davon nutze ich als Arbeitszimmer beim Coachen. Das andere Zimmer bietet Platz für eine Hantelbank, den Box-Sack, eine Dojo-Matte als Meditationsunterlage – mein „Fliegender Teppich“. Mir gefällt meine Wohnung, ich fühle mich darin wohl.

      *

      Die Hände auf die Marmorfensterbank gestützt stehe ich ewig in der Küche, schaue – ohne zu sehen – auf die Bäume im Licht der Nachmittagssonne vor dem Fenster. Zielgerichtetes Denken oder planvolles Arbeiten wollen zu diesem Tag nicht passen.

      Diese junge Polizistin mit dem Pferdeschwanz, die mich in Empfang genommen hat; die war nett, und sah süß aus. Auch die Art, wie die Hauptkommissarin mit mir umgegangen ist – freundlich, geradeaus und sachbezogen – hat mir gefallen. Aber der Herr Schuster?!

      Überraschende Erfahrungen mit der Polizei.

      Im nächsten Augenblick sehe ich völlig andere Bilder vor mir; etwas angegraut in der Erinnerung, dennoch so gegenwärtig und brutal wie damals. Das muss im Herbst 1972 gewesen sein, in Frankfurt an der Hauptwache. Kurz zuvor war ich aus der Bundeswehr entlassen worden, hatte mich an der Universität für Betriebswirtschaft eingeschrieben und bei einer Bekannten in der Bornheimer Landstraße eine Bude unterm Dach bezogen.

      Ich glaube, es war ein Freitag. Jedenfalls hatte US-Präsident Nixon den Bombenkrieg auf Laos und Kambodscha ausgeweitet. Und in der Innenstadt fand eine Großdemonstration von Studenten und Gewerkschaftsjugendgruppen gegen den Vietnam-Krieg statt; ein ziemlicher Rummel. Im nordhessischen Witzenhausen aufgewachsen, nach dem Abitur bei der Bundeswehr in Marburg an der Lahn und in Unna in Westfalen stationiert – ich hatte keine Ahnung, wie es bei einer Großdemonstration zugeht.

      Innerlich war ich selbstverständlich auf Seiten der Amerikaner und entschieden für den Vietnam-Krieg. Etwas anderes verbot mein familiärer Hintergrund. Zugleich war ich neugierig. Das Leben in Frankfurt ist zu aufregend, um an solch einem Tag in der Bude zu hocken. Damals ratterten noch Straßenbahnen durch die Zeil von der Hauptwache in Richtung Zoo und Berger Straße. Die Demonstration war laut, Trillerpfeifen, Ho-Chi-Minh-Rufe reichlich, Reihen von wiederholt kurz anhaltenden und dann ein Stück weit losrennenden untergehakten Leuten. Ich konnte kaum fassen, wie unübersehbar viele Menschen mit ihren Transparenten durch die Straßen zogen. Beim Anblick einzelner der jungen Männer kam mir das Wort „langhaarige Affen“ in den Sinn. Unglaublich, wie viele junge und hübsche Frauen da mitmarschierten.

      Doch dann das Ende. Mit zahllosen anderen Menschen stehe ich auf dem Bürgersteig vor dem Kaufhof an der Ecke zur Großen Eschenheimer Straße. Etliche sind Unterstützer, viele Neugierige, weit mehr Unbeteiligte; Menschen, die Einkäufe und Erledigungen machen und durch den Vorbeimarsch aufgehalten werden. Ich fühle mich in meiner Einstellung für den Vietnam-Krieg eher noch bestärkt. Die letzten Demonstranten ist noch nicht ganz vorbeigezogen, da stürmen Horden von Polizisten mit knappen Schutzhelmen und schimmernden Ledermänteln zwischen den dahinkriechenden Straßenbahnzügen hervor und dreschen mit langen Schlagstöcken buchstäblich auf alles, was zwei Beine hat, ein; auf die hinteren Teilnehmer der Demo, auf alle Umstehenden.

      Augenblicklich setzt ein ziemliches Geschrei und Gedränge der geprügelten Menschen ein, die fast panisch in alle Richtung davonrennen. Da tauchen weitere Horden Schlagstock schwingender Polizisten auf, die wahllos auf die Fliehenden einschlagen. Von denen hasten viele in den Kaufhof – und die Polizisten folgen ihnen prügelnd. Von Entsetzen wie gelähmt bemerke ich von rechts eine Gruppe Polizisten über die Straße kommen und laufe ebenfalls durch die offene Glastür in das Kaufhaus. Die Polizisten darin drehen sich einfach um und schlagen weiter zu. Bis heute sehe ich noch das wütend schreiende Gesicht eines Polizisten nah vor mir: „Geh doch nach drüben, du Scheißkerl, wo du hingehörst!“

      Dann trifft mich sein Schlagstock an der Schulter, ein anderer Schlag auf dem Rücken. Ich falle zu Boden, ein wenig überrascht, weil die Schläge weniger wehtun als befürchtet. Dafür sitzt der Schrecken um so tiefer. Mir gegenüber liegt halb gegen die Tür gelehnt eine alte weißhaarige Frau mit einer blutenden Platzwunde an der Stirn. Daneben sitzt ein älterer Mann in Anzug und Krawatte und weint. Ein paar Kinder schreien, Taschen und Einkaufstüten liegen am Boden verstreut, Leute laufen planlos umher.

      Und dann kommen Mitarbeiter des Kaufhofs, drängen die geschundenen Menschen nach draußen und versuchen, die Türen zu schließen. Ich trete einem Kaufhof-Mann von unten gegen das Schienbein und krieche auf die Straße. Noch Jahre später finde ich die Stelle neben einem Haufen Hundescheiße, wo ich saß und hemmungslos geheult habe. Ausgerechnet mir widerfährt das; mit meinem Bürstenhaarschnitt, wie er damals bei vielen amerikanischen Soldaten üblich war?! Wahllos zugeschlagen auf harmlose Menschen, die erkennbar keine Demonstranten waren.

      Die Polizei, dein Freund und Helfer.

      Wohl wahr. An dem Tag bekomme ich ein völlig neues, bis dahin für mich undenkbares politisches Bewusstsein buchstäblich eingebläut – wirksamer als zehn Semester Politikwissenschaft. In der darauf folgenden Woche verschlinge ich zwei Bücher zum Thema Vietnam. Den Rest gibt mir der Dokumentarfilm „Winter Soldiers“, 1971 produziert von der großartigen Schauspielerin Jane Fonda. Zu der Zeit auch Polit-Kämpferin. Sie organisiert in Detroit eine Zusammenkunft ehemaliger amerikanischer Vietnam-Kriegsteilnehmer.

      Die sitzen in einem kahlen Raum an einer Reihe von Tischen und erzählen. Was ihnen lieb ist, woran sie glauben. Mann, wie öde. Über ihr Leben, ihre Zeit vor, während und nach den Einsätzen im fernen, fremden Dschungel. Wie sie sich verändert haben, weiterleben mit ihren körperlichen und seelischen Verletzungen. Einige zeigen Fotos, von ihrem Heimatort, den Eltern, den Freundinnen, Frauen oder Kindern. Von lachenden Vietnamesen-Mädchen, Kampfhubschraubern und aus schlammigen Schützengräben.

      Keine kernigen Schauspieler, keine wilden Aufnahmen von den vorderen Frontlinien, keine ruhmreichen Helden. Alltägliche Männer, beinahe namenlos, die nur reden. Nur reden? Nach zehn Minuten hockst du vor dem Fernseher und flennst Rotz und Wasser. Nach zwanzig Minuten fühlst du dich elend wie selten.

      Zwei Tage später stecke ich – immerhin entlassen mit dem Dienstgrad eines Leutnant der Reserve – mein Dienstbuch in einen Briefumschlag und lege einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer bei. Noch heute bin ich stolz darauf.

       6

      Mein Auto ist geklaut worden. Schlimm genug. Mit dem „Croma“-Überfall habe ich nichts zu tun. Ich weiß das.

      Kümmert das die Polizei?

      Wer weiß, wie die sich die Dinge zurechtrücken. Wenn es gilt, einen schnellen Ermittlungserfolg vorweisen zu können, einem Vorurteil zu folgen oder einen Verdacht zu erhärten. Hatte ich es nicht selbst erlebt? Wer sich auch nur in der Nähe des Geschehens aufgehalten hatte, galt ohne Ansehen der Person als schuldig und wurde verdroschen. Heute bin ich mehr als ein Zuschauer, bin durch meinen Wagen beteiligt. Ob die Beamten auch nach Hinweisen suchen, die mich entlasten? Bei Oberkommissar Schuster hege ich meine Zweifel. Na schön, dann kramt mal; von mir aus auch in meiner Vergangenheit.

      Gemäß Familienstammbuch bin ich das, was der Volksmund damals „Besatzungskind“ nannte; Mutter Deutsche, Vater Amerikaner. Gabriele Berkamp, meine Mutter, hatte diesen Douglas Jefferson Connelly, zunächst First Lieutenant, später Captain der US-Armee, zufällig in Giessen kennen gelernt. Bis in die 1970 Jahre hat die US-Army dort umfangreiche Kasernenanlagen, Raketenabwehreinheiten, auch Aufklärungstrupps, unterhalten.

      Oma Anna war immer gegen die Heirat gewesen. So etwas tat man nicht; es war einfach nicht in Ordnung, die Befreiung von den Nazis hin oder her. Für sie waren die Amis trotzdem Besatzungstruppen und mitschuldig an der Zonengrenze, die in nur zehn Kilometern Entfernung das thüringische Eichsfeld – von Jahr zu