Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


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      Frau Sandner dreht sich suchend um.

      „Schau doch mal, ob Du etwas findest. Zigarettenstummel zum Beispiel, da bei dem Hinterrad des Mini, wie wäre es mit dem! Wer weiß, wozu es gut ist.“

      Schuster hebt flüchtig beide Hände: „Okay, Boss, schon überredet.“

      Er greift in seine Jackentasche, zieht eine kleine weißliche Plastiktüte heraus und bückt sich. Ich sehe ihm zu und fühle mich betroffen; als könnte ich etwas dafür, dass hier nicht mehr zu sehen ist.

      Die Hauptkommissarin schaut an der silbergrauen Metall- und Glasfassade des Bürohauses gegenüber empor.

      „Ob da heute jemand arbeitet? Vielleicht gibt es hier einen Pförtner. Manni, ich gehe mal vorn zum Eingang.“

      Sie hält inne, dreht sich zu mir.

      „Herr Berkamp, tut mir leid. Für ’s Erste sind wir wohl auch fertig. Jedenfalls können wir jetzt nichts mehr für Sie tun. Ach, Moment, hier, ich gebe Ihnen noch meine Karte, meine dienstliche Nummer. Wie kommen Sie nachhause?“

      „Jedenfalls ohne mein Auto. Ich nehme die S-Bahn. Sobald Sie meinen Wagen finden, wäre schön wenn Sie ...“

      „Na klar,“ unterbricht sie mich und streckt mir die Hand entgegen. „Davon können Sie getrost ausgehen. Kommen Sie gut heim. Wiedersehen. Natürlich müssen wir ihn erst mal finden, den Wagen. Ach ja, vielleicht warten Sie noch ein oder zwei Tage, bevor Sie Ihre Versicherung über den Diebstahl informieren. Die entsprechende Meldung ist für uns reine Formsache.“

      *

      Der Zug nach Weißkirchen hält an der Alten Oper, im Tunnel tief davor. Von der Staufenstraße dorthin ist es nur ein kurzes Stück zu Fuß. Kaum zehn Minuten später besteige ich die Regionalbahn S 5 in Richtung Bad Homburg, sitze aber in Gedanken noch in dem blassblauen VW-Bus.

      Auf meine Intuition kann ich mich verlassen. Das habe ich oft genug erlebt.

      Dieser graue Schatten vor meinem Energiefeld; später die beachtliche Veränderung in Oberkommissar Schusters Blick – kalt und unbeteiligt. Als dachte er über eine ganz andere Sache nach. Oder als ob er mich nicht ernstnahm und meine Aussagen als unerheblich abtat.

      Seine Kollegin dagegen empfand ich durchgängig aufmerksam und verständnisvoll. Sogar nach Einzelheiten meiner Arbeit hatte sie gefragt. Und wenn alles gespielt war, eine eingeübte Schau – er bedrohlich, sie besänftigend? Dagegen sprachen ein paar unübersehbare, unausgesprochene Kleinigkeiten im Umgang der beiden miteinander.

      *

      An diesem Samstag in der Goethe-Straße kommt mehr in Gang als die polizeiliche Ermittlung eines Uhren- und Schmuckraubes. Was wirklich gespielt wird, zeichnet sich nur wenige Tage später in harten Umrissen ab. Auch mit mir gespielt wird. Dinge, von denen ich nichts ahne. Die nichts mit mir zu tun haben; gleichwohl mein Leben in ernste Gefahr bringen. Heraufbeschworen durch Leute, von denen ich es am wenigsten erwarte.

      Auch wenn sie keine Beweiskraft besitzen; meine tagebuchähnlichen Aufzeichnungen helfen, das Geschehen zu verarbeiten und die Erinnerung daran wach zu halten.

       5

      Mit dem Abstand wachsen unschöne Einsichten. Von der vorbeieilenden Landschaft bekomme ich kaum mehr als flüchtige Bilder mit. Statt mich entspannt zurückzulehnen, hocke ich mit dumpfem Magendruck in der S-Bahn und fühle mich schuldig. Obwohl ich nichts Unrechtes getan habe. Wäre ich doch bloß heute zuhause geblieben! Warum habe ich ausgerechnet gestern Abend vergessen, meine Intuition um einen Ausblick auf den heutigen Tag zu bitten? Vielleicht hätte ich mich dann irgendwie anders verhalten. Und wenn ich den Wagen nur in einer anderen Straße geparkt hätte.

      Jetzt stehe ich dumm da. Und verdächtig für die ermittelnden Polizeibeamten, tönt es in mir. Wie sich denen die Sachlage darstellt, werden, nein müssen sie die Möglichkeit meiner Beteiligung an dem „Croma“-Überfall in Betracht ziehen. Na klar; als Mitwisser, der das Fluchtfahrzeug bereitstellt und sich anschließend dreist als Unschuldslamm anbietet. Damit die übrigen Täter Zeit haben, sich und die Beute in Sicherheit zu bringen. Wahrscheinlich lassen die Beamten längst meinen Namen durch ihre zahlreichen Computerdateien laufen, um Ungereimtheiten in meinem Leben und Hinweise auf kriminelle Neigungen oder frühere Missetaten zu finden. Blödsinn, Robert, du denkst falsch; und die finden nichts, was dich verdächtig macht.

      Im Geist sehe ich meinen BMW bereits auf einer Autobahn durch Thüringen in Richtung Polen oder Ukraine fahren. Obwohl: Gerissene Räuber tauschen das Fluchtfahrzeug möglichst schnell aus gegen einen unauffälligen Wagen. Jedenfalls ist verblüffend, wie tief ein Auto, das dir unerwartet abhanden kommt, in dein Leben einschneidet. Es erzwingt – durch seine pure Abwesenheit – völlig ungewohnte Entscheidungen bei den alltäglichsten Kleinigkeiten.

      Nehme ich ein Taxi oder gehe ich zu Fuß nach Hause? Zum Glück regnet es nicht. Schön, du brauchst dich nicht zu ärgern, keinen Regenschirm dabei zu haben. Dafür stellen sich ungewohnte Fragen, rütteln Zweifel an früheren Entscheidungen. Gibst du ihnen nach, stellen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit alles auf den Kopf. Deine ganze bisherige Lebensweise, alles, was dir nur Stunden vorher selbstverständlich schien. Musst du jetzt öfter hier lang latschen? Willst du ausgerechnet hier länger wohnen? Unbedingt weiter wie bisher leben? Du könntest etwas anderes machen? Aber was? Und wo?

      Nur, weil du – alle hundert Jahre einmal – auf dem Bahnsteig des S-Bahnhaltepunkts Weißkirchen stehst, sich hinter dir die pneumatischen Türen schließen und der Zug leise singend davonfährt. Die einfacheren Fragen hilft der Körper beantworten. Umgeben von Feldern, liegt die S-Bahn-Station an der Grenze zu Steinbach. Gleich hinter einer kleinen Anhöhe entstand links der Landstraße ein neues Gewerbegebiet mit Autoreparaturbetrieben und zwei Supermärkten. In einem davon ein Joghurt und eine Banane aus der Lebensmittelabteilung, ein großes Glas Tee, gereicht von der freundlichen Dame hinter dem Bäckertresen im Eingangsbereich, dazu zwei Nussecken – der Magen jedenfalls hat nichts zu melden auf dem Nachhauseweg.

      *

      Mein Kopf dagegen wird immer munterer, je länger sich die öde Bahn-Straße durch den Ort hinzieht. Wie eine Handvoll Uhrwerke, die in unterschiedlicher Schlagzahl und Lautstärke wissen wollen, was die Stunde geschlagen hat. Als junge Familie, vor knapp zwanzig Jahren, haben wir uns gern für Steinbach als Wohnort entschieden. Fast alles, was wir zum täglichen Leben brauchten, war bequem zu Fuß oder mit Roller und Fahrrad erreichbar; Sparkasse, Poststelle, ein Lebensmittelladen mitten im Ort. Ab der zweiten Klasse durfte Claudia meist allein zur Schule gehen. Landwirtschaftsbetriebe hielten noch echte Hühner, Kühe und Pferde. Die nahen Felder boten immer etwas zu bestaunen oder zu entdecken; und wenn es nur die Ostereier waren, die Gisela kurz zuvor unauffällig ausgelegt hatte, damit Klein-Claudia sie finden konnte.

      Lange Jahre verdiente ich als Organisationsfachmann in einer Beratungsfirma mit Schwerpunkt Fahrzeugbau gutes Geld. Mein Arbeitsplatz in Eschborn lag praktisch in Sichtweite; fünf Minuten mit dem Auto von Parkplatz zu Parkplatz. Im Sommer bin ich oft mit dem Fahrrad gefahren. Die gelegentlichen Einsätze in einer unseren Außenstellen in Hannover, München, Bremen oder Köln und die häufigen Reisen zu unseren Kunden, Auto-Zulieferbetriebe im In- und Ausland, brachten zusätzliches Geld ein. Für teure Hobbys reichte es zwar nicht; aber wir lebten gutversorgt und zufrieden. Auch Giselas Halbtagsbeschäftigung in einer kleinen Werbefirma und ihr geschickter Hand im Umgang mit Geld trugen dazu bei. Nur wenn ein Wirtschaftsabschwung die Autobranche in Mitleidenschaft zog und die Zahl meiner Geschäftsreisen überhand nahm, knirschte es im Familiengebälk.

      Von alledem ist wenig geblieben; einmal abgesehen von den Straßennamen, den meisten Häusern oder der Traditionsgastwirtschaft „Zum Schwan“ am Anfang der Eschborner Straße. Aber sonst? Gisela und ich sind seit über zwölf Jahren geschieden, Claudia lebt mit ihrer eigenen Familie in Santa Fe, im amerikanischen Bundesstaat New Mexico. Den einstigen Lebensmittelmarkt ersetzte ein Ramschladen mit Ein-Euro-Waren. Die Poststelle