Rainer Seuring

Eringus, der Drache vom Kinzigtal


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eine Lichtung am Hang. Unter dem leicht wolkigen blauen Himmel bildet ein ganzes Heer von Bäumen einen dichten geschlossenen Wald. Nur an den Lücken zwischen den Baumwipfeln ist der Verlauf der Chynzych zu erkennen. Sonst sieht man nur einen fast lückenlosen Urwald, in dem ein Eichhörnchen vom Meer, weit im Westen, bis zu den entferntesten Bergen im Osten hüpfen könnte, ohne je einen kleinen Fuß auf den Boden setzen zu müssen. Auf dem gegenüber liegenden Hang leuchtet im Licht der Sonne eine Lichtung mit satter grüner Weide. Eringus weißt mit einer Kopfbewegung zu seiner Linken. „Was siehst du da?“

      „Ich sehe ganz viel Wald und es scheint ein Bach dazwischen zu fließen.“

      „Richtig erkannt.“, lobt Eringus. „Findest du das schön?“

      „Ja, natürlich!“ Magda erinnert sich an die Stille im Wald, ohne das Gezeter von Tante und Onkel und das Geplärre der kleinen Kinder. Dort hat sie sich immer am Wohlsten gefühlt. Das Zwitschern der Vögel in den Ästen und …

      Eringus unterbricht ihren Gedankengang, den er ja lesen kann. „Nun sieh mal dort hin.“ Eringus schaut auf die rechte Seite und Magda folgt seinem Blick. Das hässliche Bild einer Wüstung zerreißt den lieblichen Anblick. Mühsam erkämpft sich die Natur das Land zurück, um die Narbe zu schließen.

      „Dort haben einmal Menschen gelebt und ihren Acker bestellt. Aber jetzt gibt die Erde kaum noch Frucht. Sie ist ausgelaugt und die Bauern sind weiter gezogen.“ Magda sieht, was für sie normal ist. Einige Bäume zeigen immer noch Wunden der Brandrodung. Der ausgebeutete Boden trägt nur noch Disteln und Brennnesseln und Brombeerbüsche ragen darüber hinaus.

      „Du willst mir jetzt aber nicht sagen, dass du das schön findest?“ Eringus will ihr irgendwie klar machen, worauf er hinaus will.

      „Nein, schön ist das nicht. Aber wir Menschen müssen doch auch irgendwie leben. Im Wald kann man keine Felder anlegen. Und wenn dann nichts mehr wächst, müssen wir uns woanders einen neuen Platz suchen. Dort bauen wir wieder unsere Hütten und machen neue Felder.“

      Jetzt hat Eringus Magda an einem Punkt, wo er wieder versuchen kann, ihr verständlich zu machen, worum es ihm geht. „Das ist aber nicht nötig, Magda. Ich kann den Menschen zeigen, wie sie nicht mehr weiter ziehen müssen. Wenn man es richtig macht, dann kann man an einem Ort bleiben und trotzdem gute Ernten haben. Mir ist das ja gleich, wie ihr lebt und wenn mir was nicht passt, habe ich die Menschen noch immer fort gekriegt. Das mach ich nur für die Halben. Die schaffen es schon gar nicht mehr, eure Schäden und Wüstungen wieder heil zu machen.“

      „Aber das machen wir doch jetzt schon.“, protestiert Magda. „Meine Familie ist schon seit vielen Jahren am gleichen Ort, bestimmt schon vier Jahre oder so. Wie die anderen Bauern in unserem Dorf auch. Gibt ein Feld nicht mehr genug Ernte, machen wir nebenan ein neues Feld. Irgendwann probieren wir dann wieder das alte Feld oder machen noch ein drittes Feld. Wir wandern nicht mehr so oft. Das hat uns der Herr so aufgetragen, hat mein Onkel mal gesagt.“

      „Das ist doch auch schon mal ein Anfang und das ist gut. Ihr könnt aber auch gleich mit drei Feldern auf einmal anfangen. Ein Feld für die Sommerpflanzung, eines für die Winterpflanzung und eines liegt brach. Und das immer wieder wechseln.“

      Magda sah Eringus ungläubig an. „Das schafft kein Mensch. Drei Hufe auf einmal bearbeiten geht nicht. Ein Huf sind 30 Morgen, also was ein Bauer halt an dreißig Morgen bearbeiten kann und jeder Morgen ist so groß, dass ich bestimmt hundert mal hundert mal hundert Schritte machen muss, um drum herum zu laufen. Das ist viel.“ Stolz verkündet Magda ihr Wissen, das sie von der Großmutter gelernt hatte, auch wenn sie nur bis hundert zählen kann, wenn man Geduld hat. Hundert ist viel, das weiß sie.

      Tief atmete Eringus durch. Dann beginnt sein Kampf, Magda das zu erklären, was man heutzutage eine Drei-Felder-Wirtschaft nennt. Nach langer Zeit hat sie es zumindest zur Hälfte verstanden.

      „Und was hat das mit den Halben zu tun? Machen die das auch schon so?“

      „Ja, die machen das auch schon so. Und weil es ihnen weh tut, wie die Menschen den Wald kaputt machen und sie den Wald noch mehr lieben als du, machen sie sich die Mühe und versuchen, auf solchen Wüstungen wieder einen schönen Wald anzupflanzen. Doch das ist viel Arbeit, die nicht nötig wäre.“ Man merkt Eringus an, dass seine Geduld so langsam erschöpft ist, ob der vielen warum und wieso und noch mal bitte, mit denen Magda seine Erklärungen durchlöchert.

      „Aha!“ In Magdas Kopf beginnt es langsam zu arbeiten. Sie macht ein verbissenes Gesicht vor Anstrengung, das sich dann erhellt, als ihr ein Einfall kam. „Das ist prima. Ich geh sofort zu unserem Herren und erklär ihm das und dann wird er sich freuen und mich loben und ich darf wieder in unserem Dorf leben und kann dort bei meiner Großmutter mein Kind bekommen und …“. Magda stockt und ihr eben noch fröhlich strahlender Blick trübt sich zur Traurigkeit. „Nein, ich kann nicht!“

      Eringus, der sich mit Magda über ihre Erleuchtung freute, blickt verdutzt. „Wie? Was? Wieso kannst du nicht?“ Genau das soll Magda für ihn tun. Den Menschen sagen, wie es besser geht und richtig ist.

      „Wer bin ich denn, dass ich vor den Herren trete und ihn belehren will? Die unwichtigste seiner Mägde, eine, die seinem Sohn ein Kind anhängen will, wie er sagt. Voll Schande vom Hof vertrieben. Dumm! Ich kann das nicht. Er wird mich auslachen, prügeln lassen. Ich darf nie mehr nach Hause kommen. Mein Dorf wird mich fort jagen. Mit Steinen und Ästen nach mir werfen. Nein, das geht nicht.“ Kraftlos und zutiefst traurig hängen Kopf und Schultern.

      „Oh! Daran hab ich auch nicht gedacht. Ihr Menschen habt ja eine Ordnung, in der nur die hohen Herren das Sagen haben. Und Frauen gelten nichts.“ Eringus Plan hat eine Lücke, die er so schnell nicht schließen kann. „Darüber muss ich nachdenken. Das krieg ich schon hin.“

      Langsam versinkt inzwischen die Sonne am Horizont.

      „Für heute werden wir noch mal im Wald schlafen. Morgen gehen wir dann zu den Halben und sehen, ob du dort für die nächste Zeit ein Heim finden kannst.“

      Eringus lässt sich einfach dort, wo er steht nieder und rollt sich ein wenig ein.

      „Komm her und leg dich mir zur Seite. Ich werde dich warm halten. Eine Nacht im Wald kann noch recht kühl sein.“

      Magda kuschelt sich an sein rechtes Vorderbein und bettet ihren Kopf, halb sitzend, irgendwo an seine Seite. Vorsichtig breitet Eringus seinen Flügel als Decke über ihr aus und legt seinen Kopf auf die Vorderfüße. Jade saß auf einem Baum, von wo aus sie die ganze Zeit zugehört hatte. Nun fliegt sie auf Eringus Haupt und findet dort ein sicheres Plätzchen. An etwas zu Essen für Magda hat noch keiner gedacht.

      * * * * *

      Am Morgen erwacht Magda mit einem mächtigen Knurren im Bauch. Zuerst hat sie gedacht, es sei Eringus bis sie merkt, dass ihr Magen dringend Beschäftigung brauchte. Sie kriecht unter dem Flügel hervor. Im Schlaf ist sie ganz darunter gerutscht. Nun steht sie auf und sieht sich um, ob etwas Essbares zu finden sei. Leider wieder nichts. Voll Sorge denkt sie an das Kind in ihrem Bauch.

      Jade ist gerade mit ihrer Morgenwäsche beschäftigt. In einem Blütenkelch badet sie und singt ein kleines Lied, das aber leider keiner hören kann. Ihre Stimme ist halt zu schwach. „Guten Morgen, Magda!“, denkt sie und das kann man verstehen. „Was suchst du?“

      „Ich habe seit Tagen nichts mehr zu essen gehabt. Kannst du mir sagen, wo ich etwas finde?“

      „Leider nein. Von Blütennektar wirst du wahrscheinlich nicht satt werden.“ Dann erhellt sich ihr Gesicht. „Mir fällt ein, dass ich im Flug da hinten einem Bienenschwarm ausgewichen bin.“ Ihre Armbewegung ist für Magda leider nicht erkennbar. Und selbst wenn sie es hätte sehen können, hätte es ihr nichts genutzt, denn die Wegweisung war mehr als ungenau. „Magst du Honig?“

      „Sehr gerne.“, lautet Magdas verständliche Antwort. „Wo war das?“

      „Komm ich zeige es dir.“ Dabei fliegt Jade auf Magdas Ohr. „Ich glaube,