Rainer Seuring

Eringus, der Drache vom Kinzigtal


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zittern. Noch halb benommen blickt sie sich um. Aber es gibt immer noch nichts zu sehen. Auch zu ihren Füßen ist nichts außer dem Gras, das hier wächst und den Büschen und Bäumen um sie.

      „Ich hab dir doch gesagt, du hast hier nichts zu suchen. Was fällt dir ein? Du machst noch alles kaputt. Verschwinde!“ Die Stimme hallt sehr merkwürdig. Und wer da ruft, ist sehr böse.

      Wieder kommen die Töne, vielmehr jetzt das Rufen, scheinbar aus dem Boden. Magda fällt fast vom Schlag getroffen vorn über. Was ist das? Welch bösen Geister hausen hier? Sie will doch gar nichts kaputt machen.

      „Ich will euch nichts Böses. Verschont mich, ihr Geister!“, ruft sie. „Ihr Götter beschützt mich!“ Als wäre der Teufel hinter ihr her, rennt Magda wieder den Hang hinab. Natürlich stürzt sie dabei immer wieder, weil ihre Füße nicht so schnell laufen können, wie sie möchte. Nur schnell weg. Egal welche Trolle oder Geister hier hausen. Freundlich sind die bestimmt nicht. Zu Tode erschrocken flieht Magda, ohne darauf zu achten, dass sie inzwischen auf einem fest getretenen Weg rennt. Schließlich stürzt sie ein letztes Mal und bleibt völlig erschöpft bäuchlings neben dem Weg liegen.

      Nur langsam kommt Magda wieder zu Atem. In ihr drin ist alles noch völlig aufgewühlt. Sie zittert am ganzen Körper. Teils aus Angst, teils aber auch aus Erschöpfung. Sie ist nicht in der Lage, sich zu erheben. Da hört sie ein Fuhrwerk sich nähern. Die Achsen quietschen rhythmisch. Vom Hügel herab kommt das Gespann. Es ist ein ganz kleiner Wagen, gezogen von einem ganz kleinen Schaf. Und auf dem Kutschbock sitzt ein ganz kleiner Mann. Wirklich ganz klein. Wenn er steht, ist er wohl um die zwei oder zweieinhalb Fuß groß. Höchstens, schätzt Magda. Sie liegt, immer noch völlig entkräftet, auf dem Boden und hat sich nur auf die Seite gedreht.

      „Brrr!“. Der kleine Mann hat das Fuhrwerk gestoppt und blickt zu ihr. „Kann ich euch helfen, Maid?“

      Magda richtet sich etwas auf und stützt sich nun auf den Unterarm. „Nein, vielen Dank, Herr.“, sagt sie artig. Mehr geht nicht. Sie kann nicht begreifen, dass dieser kleine Mann mit dem kleinen Schaf und dem kleinen Fuhrwerk mit ihr spricht. Sie nimmt überhaupt nicht richtig wahr, was gerade passiert.

      Dem kleinen Mann ist ihre Antwort genug. Mit einem Schnalzen bringt er das Schaf wieder in Bewegung. „Ich entbiete euch meinen Gruß“, ruft er noch. Das Fuhrwerk rollt gemütlich weiter und verschwindet hinter dem nächsten Busch.

      Magda schüttelt den Kopf, als könne sie damit ihre wirren Gedanken wieder in Ordnung bringen. Dann setzt sie sich auf. Sie ist wie benommen. Sie glaubt, sie stünde neben sich und sähe auf sich herab. Die Angst vom Berg ist verschwunden, verdrängt von dem Bild des kleinen Mannes. Magda hat schon kleine Menschen gesehen; bei den fahrenden Leuten. Doch die waren irgendwie missgestaltet. Krumme Beine, zu kurze Arme, zu große Köpfe und so. Meist machten sie Späße auf dem Jahrmarkt. Aber dieser kleine Mensch war ….

      Wie ein Mensch eben war. Alles ganz normal, nur sehr sehr klein. Wo war sie hier? Träumte sie? Was war geschehen? Es bleibt ihr nicht viel Zeit, darüber nach zu denken. Als sie sich erhebt und wieder auf den Weg treten will, hört sie vor sich Hufgetrappel und ehe sie es sich versieht, kommt ihr ein anderer kleiner Mann, mit wehender grüner Zipfelmütze, auf einem kleinen Ziegenbock reitend, entgegen galoppiert. Er hält sich an den Hörnern des Bockes fest

      „Aus dem Weg, du dummes Ding. Dass einem die Großen immer im Weg rum stehen müssen! Es ist doch kaum zu glauben. Steh nicht dumm rum, sonst nimmt dich der Bock auf die Hörner.“ Und schon ist der kleine Reiter vorbei.

      Das ist dann doch zu viel für Magda, die Panik ist wieder da. Sie rennt los, laut hysterisch schreiend, ohne Sinn und Verstand, einfach nur weg. Aus diesem Wald muss sie raus. Sei rennt und rennt, bis ihr vor Erschöpfung schwarz vor Augen wird und sie ohnmächtig zusammen bricht.

      Nach der Ohnmacht ist Magda nicht erwacht. Ihr Körper hatte es vorgezogen, nahtlos in einen sehr tiefen und langen Schlaf zu fallen. Der ist aber auch bitter nötig. Viel zu viel hatte die so junge Frau zu ertragen. Diese vielen erschreckenden Erlebnisse. So viel Unbekanntes. Das muss erst verarbeitet werden und das macht der Körper am Besten im Schlaf. Man darf auch nicht vergessen, dass sie schwanger ist und auch das Ungeborene der Ruhe bedurfte. Keiner kann heute noch sagen, wie lange Magda tatsächlich geschlafen hat.

      Als sie dann erwacht, fühlt sie sich ausgeruht und ruhig. Tief im Innern aber ist noch lange nicht alles in Ordnung und sicher hätte es nur eines kleinen Auslösers bedurft und Magda hätte erneut eine Ohnmacht erlitten. Aber es geschieht nichts. Eine Amsel über ihr singt und am Sonnenstand erkennt sie, dass es wohl noch früh am Morgen ist. Die Sonne ist zwar schon aufgegangen, aber sie hat noch nicht die Wipfel der Bäume überstiegen. Die Wiese, auf der sie liegt, ist vom Morgentau noch feucht. Auch ihre Kleider sind deshalb klamm und sie freut sich darauf, in der Sonne zu trocknen. Hunger und Durst hat sie. Für den Durst plätschert in der Nähe ein kleines Rinnsal. Gierig trinkt sie aus dem Bächlein. Auch wenn das Wasser sehr kalt ist. Nur mit dem Essen ist das immer noch so eine Sache. Löwenzahn ist das Einzige, von dem sie weiß, dass es ihr bekommt, das sie findet. Und ein paar Käfer, die sie kennt, kann sie erhaschen. Schweren Herzen überwindet sie sich, Krabbelviecher zu verspeisen. Hauptsache, der Hunger ist erst einmal gestillt und der Magen beschäftigt; auch wenn er massiv revoltiert.

      Sie blickt sich um. Wozu eigentlich? Sie weiß schon lange nicht mehr, wo sie ist. Sie ist weit von zu Hause (wieder steigen ihr Tränen in die Augen) und sie kennt die Gegend nicht. Ach, wie sie ihre kleine Siedlung doch so sehr vermisst. Was nun? Wohin gehen? Natürlich nicht mehr auf den Berg. Keine zehn Pferde würden sie da hinauf schaffen. Aber, ….?

      Wo ist eigentlich der Berg? Ist es der ihr gegenüber? Oder ist es der weiter hinten zur Rechten? Oder ist es nur die kleine Anhöhe hinter ihr? Es gibt keine Orientierung für sie. Seit dem kleinen Ziegenbockreiter ist alles Folgende in Dunkel gehüllt. Sie hat keine Erinnerung, dass sie die große Strasse überquert und auf der anderen Seite, ein wenig westlich gewandt, wieder eine kleine Anhöhe erklommen hat.

      Magda versucht, mit ihrem bescheidenen Wissen, ihr Weiterkommen zu überdenken. Wasser war sehr wichtig, das weiß sie. Und alle Siedlungen die sie kennt oder von denen sie weiß, liegen an einem Wasser. Sei es Fluss oder See. Gut! Wasser ist hier neben ihr. Zwar klein und nicht geeignet, viele Leute und deren Tiere zu versorgen, aber immerhin. Wie immer ist ein großer Umblick nicht möglich. Sie kann also nirgends eine Lichtung sehen, auf der vielleicht Menschen leben würden. Selbst das hätte ihr aber nichts genutzt, denn, und das ist ihr auch klar, es könnte auch eine Wüstung sein. Dort hatten vielleicht früher einmal Menschen gelebt. Weil der Acker aber keinen Ertrag mehr brachte, waren sie weiter gezogen. Außer Disteln und Brennnesseln hätte sie dort nicht viel vorgefunden. Mit viel Glück vielleicht ein halb verfallenes Dach, unter dem sie sich hätte verbergen können. Kleines Wasser läuft in großes Wasser, hatte ihr die Großmutter erklärt. Also muss sie jetzt nur dem kleinen Bach folgen, bis er in einen größeren Bach oder Fluss mündet. Dort sollte sich wohl eine Siedlung in der Nähe finden lassen.

      Nachdem sie ihre Notdurft erledigt und sich im Bach gereinigt hat, beginnt sie ihre, nun endlich, selbst geplante Wanderung auf der Suche nach einer Bleibe. Sie folgt dem Bachlauf abwärts, so gut sie kann. Oft genug, muss sie, wieder einmal, dem Wald und den Sträuchern ausweichen. Aber immer behält sie den Bach im Blick; oder zumindest im Ohr. Es ist nicht einfach; wirklich nicht.

      So ist Magda nun schon einige Zeit gewandert. Gerade eben hat sie eine kleine Rast gemacht. Aus dem Bach hat sie etwas getrunken. Voraus kann sie schon erkennen, dass sich dort wohl eine dichte Hecke gebildet hat, die sie wohl umgehen muss, denn der Bach läuft zwischen den Büschen hindurch. Nur nicht zu früh vom Bach abweichen. Soll sie nun rechts herum laufen oder links? Es möchte sein, der Bach nimmt eine Wendung und sie findet ihn hinter der Hecke nicht mehr. Aber die Entscheidung wird ihr abgenommen.

      Noch während sie darüber nachdenkt, hört sie die Stimme ihrer Tante: “Magda, wo hast du so lange gesteckt? Die Schweine und Gänse wollen versorgt werden. Meinst du, das ginge von alleine?“

      Sie hasst nicht nur die Stimme ihrer Tante. Doch wo ist sie? Magda blickt sich um. Es kann nicht sein,