Rainer Seuring

Eringus, der Drache vom Kinzigtal


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Servatius berichtet wieder gar schaurige Geschichten. Doch Magda achtet überhaupt nicht auf das, was der Bruder alles so erzählt. Das hätte sie aber wohl besser tun sollen, denn er spricht von merkwürdigen und absonderlichen Geschehnissen in dieser Gegend. Er sagt, die Menschen hier erzählten von wundersamen Wesen, von Teufeln und Hexen, sogar von einem menschenfressenden Drachen würde gesprochen. Schon unzählige Menschen seien hier in der Nähe in einem Zauberwald verschwunden und niemals mehr wieder gesehen worden. Vom Berg kämen ganz fürchterliche Geräusche, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen.

       All das nimmt Magda nicht zur Kenntnis. Die fürchterliche Vorstellung des Klosterlebens zwingt sie dazu, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Nein, ins Kloster will sie nicht. Die Aussicht auf vielleicht regelmäßiges Essen wird von der Vorstellung der harten Erziehung und Arbeit mehr als aufgewogen. Nein, nein und abermals nein. Doch wo will sie hin. Kein freier Bauer wird sie aufnehmen. Eine vagabundierende Fremde, gar vom fahrenden Volk und in ihrem Zustand. Da gäbe es bald noch ein Balg mit durch zu füttern. Und die Zeiten waren hart für die freien Bauern. Da ging es den Unfreien sehr viel besser. Doch die Herren hier in der Gegend kannten sich und hatten Beziehungen zueinander. Da spräche sich schnell zu ihrem Herren herum, wo sie sich versteckt hielte. Und was ihr dann blühen möge, will sie sich nicht vorstellen. Nein, das kann sie nicht machen. Vielleicht doch auf fahrendes Volk warten. Für einige Zeit könnte sie sich wohl im Wald ernähren. Sie hatte von Großmutter gelernt, was alles essbar war. Bestimmt käme schon bald ein Trupp von Schaustellern, Gauklern oder Musikanten vorbei. Hier war die große Handelsstrasse nach irgendeiner ganz großen Siedlung. Viele von der anderen Seite des Maynes aus Franconovurd fuhren dort hin, um Handel zu treiben. Oft hatte sie aus der Ferne ganze Gruppen von großen vollbeladenen Wagen gesehen. Es waren immer viele Menschen dabei, aus Angst, Räuber würden die reichen Händler überfallen. Oh, was, wenn sie nun bösen Räubern in die Hände fiele? Was würden die mit ihr machen? Gut, wenn sie ihnen vielleicht dienen könnte. Kochen oder so. Schlecht, wenn sie ihr ein Leid antun würden. Auf den Festen in den umliegenden Siedlungen wurde viel erzählt. Manche sollen sogar kleine Kinder auf fressen. Frauen Gewalt antun, war oft noch das harmloseste. Andere wieder sagen, dass das nur ganz arme Kerle seien, die vielleicht zu Unrecht von den Herren verfolgt würden, weil sie angeblich etwas Böses getan hatten. War es etwas Böses, wenn man sich aus dem Teich eines Herren einen Fisch oder aus dem Wald eines Abtes einen Hasen gejagt hat, nur weil man vor Armut Frau und Kinder nicht mehr ernähren kann? Das Recht war bei den Herren und die sagten, dass es etwas Böses ist.

      Magda ist die ganze Zeit, bei diesen Gedanken langsamer werdend, vor sich hin getrottet und der Mönch achtet nicht darauf, dass das Mädchen hinter ihm zurück bleibt. Nun merkt Magda, dass der Bruder recht weit vor ihr ist. Jetzt könnte er sie nicht mehr greifen, wenn sie fort liefe. Doch auch Servatius fällt eben dieser Umstand auf. Er dreht sich gerade zu ihr um. Das ist die Gelegenheit; jetzt oder nie. Fluchs wendet sich Magda zu ihrer Linken und läuft den Abhang hinauf.

      „Bleib stehen, Kind. Lauf nicht weg. Hast du mir nicht zugehört? Weißt du nicht, wo wir hier sind? Das ist gefährlich!“

      Die Rufe des Mönchs halten Magda nicht auf. Nein, sie hat nicht zugehört und was der Schwätzer alles erzählt hat, hat sie sowieso nicht interessiert. Dummes Zeug von einem Christus, Gottes Sohn und Himmelszeichen und was sonst alles. Sie will nicht ins Kloster und deshalb musste sie jetzt flüchten und ihren eigenen Weg suchen. Alles war sicher besser, als ins Kloster zu gehen. Immer weiter und so schnell sie nur kann, läuft sie auf dem mit altem Laub und Nadeln bedeckten Boden hinauf. Schlägt sich durch dichtes Unterholz zwischen den Bäumen hindurch. Sie springt über umgestürzte Baumriesen, die ihre teils noch mit Erde ummantelten Wurzeln in die Luft strecken. Hinter einer besonders großen Wurzel versteckt sie sich. Schwer atmend kauert sie sich in ihr Versteck, umgeben moosbedeckten Stämmen und Stümpfen und Felsbrocken, und lauscht, ob ihr der Mönch folgen würde. Schließlich war er ihrem Herren im Wort dafür, sie zum Kloster zu bringen. Aber sie hört nichts.

      Bruder Servatius hat auch gar keine Lust, ihr hinterdrein zu rennen. Er würde sich nicht in diese Gefahr begeben. Da sei Gott vor. Er sieht noch kurz Magda hinterher und wartet, ob sie vielleicht doch, wegen seiner Rufe zurück käme. Als dies nicht geschieht, dreht er sich wieder um und geht seines Weges. Sein Weg war noch weit und bei nächster Gelegenheit würde er dem Grafen eine Botschaft zukommen lassen. Wer weiß, wann sich diese Gelegenheit ergeben wird?

      Als Magda meinte, genug gewartet zu haben, erhebt sie sich wieder hinter dem Felsen und sieht sich um. Auf die Strasse zurück will sie jetzt erst einmal nicht. Vielleicht, wenn sie noch höher ginge, würde sie von oben erkennen, wo sie hingehen könnte. Vielleicht war der Rauch aus irgendeinem Ofen über den Bäumen zu sehen. Wenn Sie zurück wollte, müsste sie mit der Sonne im Rücken gehen, denn bisher waren sie fast immer der Sonne entgegen gelaufen. Irgendwo dahinten wäre dann wohl ihr Zuhause. Dabei kommen ihr Tränen in die Augen. Jetzt ist sie allein. Ganz allein. Jetzt hat sie auch kein Zuhause mehr. Dort durfte sie nicht hin, wollte sie nicht vom Herren schlimm bestraft werden. Sie findet keine Lösung, doch im Wald will sie nicht bleiben. Wenn es dunkel würde und sie schliefe, käme vielleicht ein Wolf oder gar ein Bär und fräße sie. Sie hatte gehört, dass der Graf schon seit längerem hinter einem großen Bären her jage, ihn aber noch nicht erlegen konnte. Sie musste etwas finden, wo sie sicher war. Also aufwärts.

      Es ist sehr beschwerlich, denn sie findet keinen Weg. Oft schon hat sie sich getäuscht und eine Terrasse am Berg für einen Weg gehalten. In diesem Teil des Waldes lief wohl nie ein Mensch. Und auch größeres Wild hatte sich hier keinen Pfad gebahnt. Es fehlen die verbissenen und geschälten Jungbäume. Zuweilen ist der Hang so steil oder unwegsam, dass sie ein gutes Stück zurück muss, um ihr Glück an einer anderen Stelle zu versuchen. Sie klettert über alte umgefallene Bäume oder kriecht darunter durch. Oftmals nimmt sie dabei eine Spinne oder einen Käfer in ihren Haaren mit. Auch das eine oder andere Bächlein oder Rinnsal gilt es zu überqueren. Immer wieder dreht sie sich auf der nächsten kleinen Lichtung um. Doch es ist ihr immer noch nicht hoch genug. Nichts ist über den Wipfeln der Bäume zu sehen und der Blick ins Tal wird durch die Bäume unter ihr immer noch verwehrt. Verbissen kämpft sich Magda vorwärts. Der Magen knurrt gewaltig. Außer ein paar mageren Kräutern hat sie bisher nichts gefunden. Es ist noch nicht die Zeit, dass die Natur ihren Tisch reich gedeckt hat. Wilde Beeren oder Pilze gibt es noch nicht. Magda denkt nun doch schon ein wenig anders über ihre Zukunft im Wald. Es würde eine hungrige Zeit werden. Und wenn sie sich vielleicht etwas jagen würde? Aber wem würde das gehören? War sie dann auch ein böser Räuber? Aber jagen kann sie ja nicht, hat sie nie gelernt. Sie versteht nichts von Fallen bauen. Pfeil und Bogen oder einen Spieß hat sie nicht und könnte auch damit nicht umgehen. Ein Messer hat sie auch nicht, womit vielleicht ein Fisch auszunehmen wäre. „Oh Magen, hör auf zu knurren.“ Die letzte Speise hat sie gestern vom Mönch bekommen. Einen kleinen Kanten altes Brot und etwas Brei. Das war aber auch gestern schon gleich wieder verdaut worden.

      In diesem Moment öffnet sich der Wald zu einer größeren Lichtung. Vor ihr steigt der Fels wieder einmal steil an und Magda sucht, wo sie weiter kann. Da beschleicht sie das Gefühl, als sei sie nicht mehr alleine. Sie ist sich nicht sicher, aber waren da eben nicht Stimmen zu hören? Wie angewurzelt bleibt sie stehen und lauscht. Angespannt und bereit, hinter den nächsten Busch ins Versteck zu springen.

      Nein, da hört man gar nichts. Hätte Magda mehr Erfahrung gehabt, hätte sie gewusst: Einen vollkommen stillen Wald gibt es nur, wenn die Tiere Gefahr spüren. Dann verharrt alles in Erwartung, was gleich geschähe. So auch hier. Kein Vöglein erhebt seine Stimme. Der Wind hält inne und schweigt; scheinbar. Kein Rascheln des Mäusleins im Gesträuch.

      Es gibt keine Worte, um die plötzlich aus dem Boden hervorbrechenden Töne zu beschreiben. Nie hat Magda jemals solch fürchterlich schrilles, grelles, langgezogen leidvolles Quietschen gehört. Erschrocken presst sie die Hände auf die Ohren, was aber nur wenig hilft. Durch die Hände hindurch drängt die Kakophonie. Hinzu bringt ein so dumpfes starkes Brummen, welches das Quietschen begleitet, den Boden derart zum vibrieren, dass sich die Schwingungen auf ihren Körper übertragen. Bei jedem Atemzug zittert die Luft in ihren Lungen. Nicht eine Minute länger würde sie diesen Lärm ertragen, ohne Wahnsinnig zu werden. Panik steigt in Magda auf.

      Und