Jannis Oberdieck

Die Banalen und die Bösen


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diese Partei im Grunde aufkauften und Millionen in deren Wahlpropaganda steckten (die Geburtsstunde unserer „gemeinsamen Werte“, bei denen es sich offenbar um Investitionswerte handelt). Daraus hätte man zwar ein wunderbares Lehrstück darüber machen können, wie Geld und Propaganda Mehrheitswillen zurechtbiegen, aber natürlich ist das nicht Aufgabe dieser Doppelseite.

      Interessant hingegen wird es für mich, wenn beim Lesen diese leichte Befremdung aufsteigt, dass etwas nicht stimmt, ohne es zunächst genauer benennen zu können. Wie etwa bei der irritierten Feststellung, dass „Soziale Marktwirtschaft“ eigentlich groß geschrieben werden sollte. Da muss man das Buch schon zur Seite legen, eine Zeitlang aus dem Fenster starren und in sich hineinhorchen, ehe man darauf kommt: Als simples Adjektiv, welches dieses Nomen beständig begleitet, wird damit natürlich suggeriert, dass Marktwirtschaft bereits an sich so sozial sei wie alles, was Arbeit schafft. Wenn ich auf derartige Dinge komme (und manchmal dauert es durchaus Tage), habe ich immer das befreiende Gefühl, mich aus meiner Ministeriumsblase mit ihren ganz eigenen Selbstverständlichkeiten und Sprachregelungen erfolgreich herausgewunden zu haben. Ein Kurzurlaub, der den Kopf wieder frei macht.

      Außerdem hilft derartige Lektüre sehr dabei, Orientierung darüber zu gewinnen, was gegenwärtig anerkannte Meinung sein soll. Diese Dinge ändern sich nämlich leider häufiger, als man glaubt, und oft in sehr unvorhersehbarer Weise. Es gibt jedoch kaum etwas Unangenehmeres als eine Präsentation vor höchsten Entscheidungsträgern, bei der man anhand entsetzter Blicke feststellen muss, den momentan offiziellen Konsens eindeutig verfehlt, das Ohr ganz entschieden nicht am Puls der Zeit gehabt zu haben. Zeitungslektüre hilft hierbei schon sehr, doch Schulbuchlektüre erst macht klar, in welchem Ausmaß sich Grundlagen kontinentaldriftmäßig verschoben haben. Nehmen wir einfach mal diese Doppelseite darüber, wie Gewaltenteilung funktioniert, ebenfalls für Klasse 9.

      Die Gewaltenteilung wird darin zunächst einmal ganz klassisch, aber abstrakt und weitgehend sinnfrei erläutert: Legislative – Exekutive – Judikative. Dann jedoch wird es kompliziert: Als Vierte Gewalt werden die Medien präsentiert, da sie die Regierung ebenfalls angeblich kontrollieren, als Fünfte Gewalt der Föderalismus. Dann werden unterschiedliche Formen der Gewaltenteilung vorgestellt, horizontale und vertikale, temporale, soziale, dezisive und konstitutionelle. Zu diesem Zeitpunkt geht sogar bei mir als geübtem Leser bereits alles durcheinander. Genau deshalb folgen wohl Übungsaufgaben, bei denen man anhand endlich konkreter Beispiele erklären soll, welche Form der Gewaltenteilung jeweils vorliege. Gleich erstes Beispiel ist jedoch ein Polizist (Exekutive), der ein Bußgeld verhängt. Damit ist die Verwirrung endgültig komplett, denn natürlich haben Polizisten bei derartigen Dingen einen gewissen Ermessensspielraum, der eigentlich Kennzeichen der Judikative ist und nur aus praktischen Gründen ausgelagert wurde, eigentlich also ein Beispiel für aufgegebene Gewaltenteilung. Die weiteren Aufgaben sind von ähnlicher Qualität, so dass letztendlich nur bleibt, alle unterschiedlichen Formen auswendig zu lernen und zu hoffen, dass die Zuordnung in der Klassenarbeit doch leichter fällt. Und natürlich bleibt ebenfalls, dass Deutschland so viel Gewaltenteilung hat, dass da niemand mehr durchsteigt.

      Dabei ist die Sache im Grunde ganz einfach: Das Prinzip der Gewaltenteilung geht ursprünglich auf John Locke zurück und wurde in der bis vor kurzem noch gängigen Dreiteilung Legislative – Exekutive – Judikative von Montesquieu ausgearbeitet. Es soll verhindern, dass eine Regierung so viel Macht erhält, dass sie nicht mehr vom Volk zu kontrollieren ist. Montesquieu hält dabei zwei Punkte für entscheidend: 1) Gesetze werden nicht von der Regierung erlassen, sondern vom Parlament als gewählter Volksvertretung, die Regierung setzt sie lediglich um und wird dabei vom Parlament kontrolliert, demgegenüber sie rechenschaftspflichtig ist. 2) Die Judikative kontrolliert, ob Gesetze und Umsetzung verfassungskonform sind, denn die Verfassung wird als ursprünglich vom Volk stammend angenommen.

      Formuliert man das Ganze jedoch derart, wird sofort offensichtlich, dass es in Deutschland mehr oder weniger keinerlei Gewaltenteilung gibt. Gehen wir das Ganze von hinten nach vorne durch: Unsere Verfassung halte ich persönlich, wie es sich für einen Staatsbeamten gehört, für überwiegend sehr gut, jedoch äußerst lückenhaft. Über bestimmte und eigentlich unverzichtbare Punkte wie etwa Gesetzesvorgaben zur Absicherung innerparteilicher Demokratie konnte man sich damals aufgrund massiver Interessenskonflikte nicht einigen, daher ließ man sie einfach weg. Ergebnis ist, dass Parteiführungen heute im Grunde machen können, was sie wollen, allen Unzufriedenen legt man den Wechsel zu einer anderen Partei nahe, für deren Gründung es etliche Millionen sowie eine möglichst neutral berichtende Presse bräuchte. Trotzdem könnte sich das Bundesverfassungsgericht noch auf die verabschiedeten Teile unserer Verfassung beziehen und Parlament und Regierung auf deren Einhaltung hin verpflichten. Dummer Weise jedoch werden die Posten im Bundesverfassungsgericht hierzulande nicht wie anderenorts ausgeschrieben und in öffentlichen Anhörungen besetzt, sondern von einem kleinen Kreis von Bundestagsmitgliedern (meiner Kenntnis nach vier Personen) gemäß eigenem Gutdünken vergeben. Diese Auswahl sorgt dafür, dass das Bundesverfassungsgericht üblicher Weise erst dort milde tadelnd einschreitet, wo Zustände bereits als unhaltbar öffentlich wurden, insbesondere und vor allem im Bereich der Sozialpolitik.

      Viel schwerer wiegt jedoch, dass Legislative und Exekutive in Deutschland nicht wirklich getrennt sind. Ein Gesetzesvorschlag lässt sich nicht mal eben so herunterschreiben: Man braucht dafür Experten, die einerseits unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sowie die bislang gängige Rechtsauslegung einschätzen können, und andererseits dafür sorgen, dass dieses Gesetz nicht mit gleich- oder höherwertigen Gesetzen kollidiert. Eben diese Experten sitzen an drei Orten: in den Ministerien, „der Wirtschaft“ und den Sozialverbänden. Die Sozialverbände jedoch ersticken mittlerweile derart in Arbeit, dass sie nicht nebenbei auch noch umfassendere Gesetzesvorschläge ausarbeiten können. Fertige Gesetzesvorschläge von „der Wirtschaft“ zu übernehmen, ist für Oppositionsparteien nicht ratsam, da hat man oft unangenehme Überraschungen erlebt. Also kommen die allermeisten Gesetzesvorschläge eben aus Ministerien, d.h. von unserer Regierung: Sobald eine Partei die Regierungsgewalt erringt und somit Zugang zum Expertenwissen erlangt, will sie ihre Zeit nutzen und so viele Gesetze wie möglich machen. Was, nebenbei bemerkt, dazu führt, dass Richter angesichts dieses unablässigen Gesetzesoutputs zunehmend hoffnungslos überfordert sind.

      Nun gut, wird man sagen, auch wenn die Gesetzesinitiative damit in erster Linie bei unserer Regierung liegt, letztlich ist es doch das Parlament, das über sie abstimmt? Ja, natürlich. Und damit könnte man sich auch zufrieden geben, wenn man die Legislative auf ein einfaches „Ja“, „Nein“ oder „Ja mit kleinen Änderungen“ reduzieren will, was nicht Sinn der Sache ist, schließlich soll sie im Unterschied zur Regierung den Kontakt zum Volke halten (welch frommer Wunsch ohne innerparteiliche Demokratie!) und dessen Willen in Gesetzesform bringen. Dass eine Regierung dafür keine Zeit und kein Interesse mehr hat, versteht sich vermutlich von selbst, aber über den privilegierten Zugang zu Experten den Volkswillen als eigentliche Gesetzesquelle fast gänzlich auszuschalten, ist schon ein starkes Stück.

      Noch schlimmer wird das Ganze dadurch, dass unsere Regierung mit im Bundestag sitzt und Regierungsmitglieder sogar Posten in der Fraktionsführung übernehmen. Diese Fraktionsführung nämlich, sozusagen die Ersten Vorsitzenden, regelt, welcher Abgeordneter sich zu welchem Thema wie lange äußern darf (wenn überhaupt) und legt zudem fest, wie die Fraktion in mehr als 99% aller Fälle geschlossen abzustimmen hat. Dadurch verhindert man erst einmal zuverlässig, dass die Regierung im Bundestag von ihrer eigenen Partei kritisiert wird: Genau das aber wäre wichtig, damit Nachwuchspolitiker sich dort profilieren könnten und die Partei überhaupt irgendeine Kontrolle über ihre Mitglieder in der Regierung behielte. Und da die Regierungspartei normaler Weise die Mehrheit im Bundestag innehat, wird sie im Grunde seit 1961 dank Fraktionszwang jedes von ihr gewünschte Gesetz durchbringen. Erst wenn ein Gesetz auch Bundesländer berührt und damit im Bundesrat zustimmungspflichtig wird, muss die Regierung ihre nächste Trumpfkarte ausspielen, die Budgetkontrolle, um sich die nötigen Stimmen damit gegebenenfalls zu kaufen (meistens in Vermittlung über das dafür gegründete Verkehrsministerium). Problematisch sind lediglich Gesetze, die eine Zweidrittelmehrheit brauchen, weil sie offenkundig nicht mit unserer Verfassung vereinbar sind, statt diese lediglich einzuschränken.

      Kurzum: In Deutschland sind Parlament und Bundesverfassungsgericht so weitgehend