Dr. Wolfgang Mehringer

neukunst oder der Maulwurf


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- die gigantischen, fauchenden, zischenden, ratternden Dampflokomotiven. Motorräder - mit Tankstellen im Hintergrund - bezog er auch in den Zeichnungen der ersten Jahre seiner Gymnasialzeit mit ein . Das heißt, wenn es sich, thematisch gesehen irgendwie machen ließ. Schwierig wurde das dann etwa beim Malen von Christi Geburt. (Traditionellerweise musste zunächst alles gezeichnet und durfte dann ausgemalt werden). Später hatten ihn dann die Seen und Berge in Bayern sehr beeindruckt, die im Urlaub mit seinen Eltern im Voralpenland vor ihm auftauchten. Diese Objekte tauchten wiederum sehr oft - fast wie bei manchen Renaissance - Malern - im Hintergrund seiner, von dem auf Kunst bezogenen gymnasialen Erziehungsplan geforderten Werke auf. So etwas wie eine Entscheidungsschlacht, seinen Zugang zur Kunst betreffend, schien sich dann bei seinem Eintritt in die Pubertät mit fünfzehn Jahren abzuzeichnen. Der Kunsterzieher (er hieß inzwischen nicht mehr Zeichenlehrer), ein noch jugendlich wirkender Herr namens Lenz, trennte im Unterricht, so erkannte es Philip, seine „Schafe“, das waren die mit den guten Noten, von den Böcken. Philip erinnerte sich an dessen übermäßig großen kugeligen Kopf, und dass er überdies auch fast ständig in seltsamster Weise lächelte. Philips Widerstand gegen ihn wuchs. Fraglos spielte dabei auch der Umstand eine Rolle, dass Philip für seine, durchaus mit einer gewissen Hingabe fabrizierten Werke meist mit der Note „mangelhaft“ oder, wenn es mal „gut“ ging, gerade mal mit „ausreichend“ bedacht wurde. Eines Tages dann, beim Thema „Käfer“, die mit Tusche und Feder gezeichnet werden mussten, beschloss Philip zu rebellieren. Er kreierte zwei Typen von Phantasiekäfern, längliche und rundliche, teilweise auch irgendwie auf dem Rücken liegend und strampelnd. Und dabei stets lächelnd. Herr Lenz stellte sich neben ihn. Philip arbeitete ruhig an seinen Käfern weiter. Er hörte, wie Herr Lenz einen unruhigen Atem bekam. Und plötzlich - Philip konnte sich noch genau daran erinnern (es war wirklich sehr eklig) - flog ein kleines grünes Etwas auf seinen Zeichenblock. Im Augenblick musste Philip lachen, als er daran dachte. Damals hatte aber nur sein Unterbewusstsein reagiert und ihn dabei nicht zum Denken kommen lassen, etwa zur Behandlung der Frage, ob er dieses Ding, diesen „Beitrag“ zu seinem Werk vielleicht dem Klassenlehrer oder gar dem Schulleiter vor Augen führen sollte.

      Sein Instinkt hatte vermutlich das Ergebnis einer solchen Aktion blitzschnell erkannt: Man würde aus einer solchen „Fliege“ keinen Elefanten machen. Im Grunde seines Herzens war ihm Herr Lenz ja auch völlig „wurscht“. Das heißt, er wollte eigentlich nur seine Ruhe vor ihm haben und alle Probleme, die dessen Existenz mit sich brachten, möglichst schnell loswerden. In diesem Sinne erfolgte dann auch seine Reaktion. Mit dem Mittelfinger der linken Hand (in seiner rechten ruhte die Zeichenfeder) schnippte er das grüne Ding einfach weg - es war wirklich weg! Philip wusste in diesem Augenblick allerdings nicht, ob Herr Lenz den Ablauf des Verfahrens registriert hatte. Nach einer Weile - Philip hatte inzwischen seine Arbeit fortgesetzt – fragte ihn Herr Lenz dann ganz plötzlich: Was?! - wollen Sie denn mal werden? Philip blickte kurz zu ihm hoch und sagte trocken: Zeichenlehrer. Worauf sich Herr Lenz eilends von ihm wegbewegte. Für die Käfer gab es dann - natürlich - die schlechtest mögliche Note, eine sechs, „ungenügend“, ebenso wie für eine weitere Zeichnung. In dieser ließ Philip auf einer Bühne zwei Degenfechter einander umarmen. Als Kommentar hatte Herr Lenz darunter geschrieben: Quatsch! (Die künstlerische Freiheit wurde also durch weitgehendst unbekannte Vorschriften infrage gestellt). Immerhin war Philip Herrn Lenz zum Ende des Schuljahres auch schon wieder los.

      Und es begannen . - es war kaum zu glauben - paradiesische Zeiten in Sachen „Kunsterziehung“! La mer von Claude Debussy gurgelte Philip und seinen Mitkämpferinnen und -kämpfern um die Ohren und sie malten das so, ganz ohne irgendwelche Vorschriften, unglaublich! Impressionismus pur! Dann folgte das Thema „Flucht“ - irgendwelche davoneilende Wesen also, in allen möglichen Farben. Es folgten dann auch einige ruhigere Geschichten - Stilleben sozusagen, in verschiedenen Variationen. Das Malfieber grassierte. Da gab es dann plötzlich - quasi völlig neu geborene - Malköniginnen und auch einen Malkaiser. Philip zählte nicht zu diesen - dank ihrer Fähigkeiten - Auserwählten, genoss aber doch auch sehr die Begegnung mit dieser neuen Welt, die zu entdecken, zu erfahren war. Ihr „Meister“ (wie sie ihn nannten) machte mit ihnen zudem Ausflüge in vergangene Kunst – Zeiten, die sie wahnsinnig spannend fanden. Dann wieder ein neues Thema: Plakate entwerfen. Auch für Philip wieder „viel Spaß“ (wie man das heute so nennt). Philip ließ abstrahierte Figuren und ihre Schatten ineinandergleiten. Die Ergebnisse in der Klasse wurden dann - bereits beim ersten Mal - an die Wand „gepinnt“ und gemeinsam, freundschaftlichst und konstruktiv besprochen. Ja, sagte der der Meister, da ist ein Plakat - das ist anders. Das springt ins Auge, das überstrahlt halt alle anderen. Philip konnte es kaum fassen. Das war - sein Plakat!! Von da an war auch er ein „König“. Bei jedem Thema - tatsächlich! - ein Plakat betreffend, war er „Spitze“. Und niemand neidete ihm das! „Kunsterziehung“ wurde in dieser Zeit für Philip etwas völlig anderes als nur ein Schulfach. Der Expressionismus, allen voran Franz Marc - „die roten Pferde“! - war eine unbeschreibliche Entdeckung für ihn. Philip begann nachzudenken, als er in der Mappe blätterte. Damals hatte er erfahren, dass es viele Arten von „Schönheit“ gab. Auch die während der Zeit des Nationalsozialismus verfemten Malarbeiten und Zeichnungen von Karl Hubbuch, der die brutalen Seiten des gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck brachte, waren „schön“: mit der darin vermittelten „Spannung“, mit der Gruppierung von Menschen in ihrer Lebenswelt, mit der detaillierten handwerklichen Durchführung der künstlerischen Arbeit. Genau das traf den Punkt. Eben dieses war ihm in der Ausstellung, die er vor kurzem besucht hatte, praktisch nicht begegnet. Dennoch musste man auch den Werken solcher „Neukunst“ mit den gleichen Maßstäben begegnen können! Langsam wurde ihm klarer, worauf es hinauslief. Es ging um eine Fortsetzung, um die präzise Klärung jener Wahrnehmungen, wie er sie in der Schule erfahren hatte Er lächelte bei dem Gedanken, dass er mit solchen Maßstäben dann auch seine eigenen „Werke“ zu beurteilen hätte. Es war natürlich auch klar, dass bei allen in späterer Zeit besuchten Ausstellungen seine in der Jugend geprägten Vorstellungen eine entscheidende Rolle spielten. Sicherlich, es war zu wenig um zu einer einigermaßen gerechten Beurteilung zu gelangen. Es würde nunmehr seine Aufgabe sein, an einer Präzisierung der bereits schemenhaft vorhandenen Maßstäbe zu arbeiten. Damit würde auch genauer jener „Knick“ in der Entwicklung der modernen Kunst zu orten sein, der wegweisend wurde zu jener „Kunstwelt“, wie sie ihm jüngst begegnet war. (Dabei war ihm klar, dass eine Beschreibung der Phänomene jenes Knicks - oder Bruches ! - etwas anderes war als das Eindringen in ein ursächliches Verständnis). Ein Punkt, der dabei eine Rolle zu spielen schien, lag - so vermutete Philip – im Entstehen und in der Entwicklung der „Abstraktion“. Er kannte verschiedene Bilder von Kandinsky, die frühen gegenständlichen und die späteren abstrakten. Es gab dazu Parallelen in der kulturellen Entwicklung, die Entdeckung etwa der Relativitätstheorie und der Quantenphysik, oder auch, um im Bereich der Kunst zu bleiben, Strawinskys „Sacre du Printemps“ (Man hat das Werk „Atombombe“ der Musik genannt; es gab Tote bei seiner Uraufführung). Aber - und Philip fand das doch ziemlich verblüffend und beachtenswert bei der Entwicklung von Kriterien zur Bewertung von Kunst - er hatte eigentlich kaum Probleme bei der Beurteilung der Qualität beider Richtungen bei Kandinsky gehabt; salopp gesprochen fand er sie „ähnlich“ (Er musste noch herausfinden, worauf das beruhte - -).

      Philip begann zu sinnieren - über den Aspekt eines „Bruchs“ in der modernen Kunst. Die Veränderungen in der Kunst betreffend, da gab es in der Moderne wohl so etwas wie einen ganz spezifischen, besonderen „Antrieb“. Wenn er es überlegte: Die Zielsetzung, etwas „neues“ zu schaffen war eigentlich nicht neu. Schwerwiegend waren dabei die tief reichenden kulturellen Wandlungen. Davon abgesehen, waren die alten Meister ja bemüht, thematisch und künstlerisch - handwerklich besonderes zustande zubringen. So etwas wie ein von der Natur für den Menschen - gleichermaßen übrigens auch für alle Säugetiere - entwickeltes Prinzip zur Optimierung des Überlebens steckte dahinter. Durch das Aufspüren von Möglichkeiten auf der Basis steter Suche verbessern sich die Lebenschancen. Letzten Endes ist dies die Ursache auch für die menschliche Kulturgeschichte. Mit dem Ziel einer möglichst raschen Erweiterung aller Möglichkeiten - dies also ist eine Spezialität der Moderne - wurde dann ein vermeintliches Hindernis beseitigt: die Anbindung der Kunst an Gegebenheiten der Kultur, die man als eine Art von Gefängnisaufenthalt (in irrigster Weise!) interpretierte. Mit dem Ruf „Freiheit für die Kunst“ zog man somit