Dr. Wolfgang Mehringer

neukunst oder der Maulwurf


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wurde. Aber - wie gesagt - Kunst bleibt immer an der Hand der sie speisenden Kultur.

      .

      Von den „Freiheitskämpfern“ wurde selbstredend auch eine Kunstbetrachtung in Form von ernsthafter Kritik als Hemmschuh verabscheut. Doch - was hatte Kritik eigentlich mit Handlungsfreiheit zu tun? War es nicht vielmehr so, dass Kritik sich mit ihren Kriterien verantworten musste - oder sollte! - also im Grunde viel mehr im Fokus kritischer gesellschaftlicher Wahrnehmung stand als etwa neue künstlerische Richtungen? Denn diese mussten ja im allgemeinen - wenn sie nicht grob gegen verbreitete sittliche „Normen“ verstießen - in freiheitlich - demokratischen Staaten keinerlei Einschränkungen befürchten. Dabei waren sie auch nicht auf die positive Resonanz irgendeines Teils der Öffentlichkeit angewiesen.

      Andererseits hatte es aber zu allen Zeiten in der Vergangenheit Auseinandersetzungen über die Qualität einzelner Kunstwerke oder auch der sie schaffenden Künstler gegeben. (Auf Künstlerinnen wurde allerdings meistens - aus uns heute nicht mehr verständlichen Gründen - „verzichtet“). Für Philip stand somit allmählich unabdingbar fest: Es musste Kriterien geben zur Qualifizierung einer jeglichen Art von Kunst - gerade auch für die allerneueste, auch wenn darüber, wie es schien, niemand wirklich sprach. (Die Gründe dafür, ganz gleich ob es sich um mystisch - religiöse oder auch um so etwas wie eine Schockstarre handeln sollte, oder sogar um ein außerordentlich komplexes Phänomen, würde er „ein andermal genauer inspizieren wollen“). Oder auch umgekehrt: Mit einem Satz solcher Kriterien musste man Kunst geradezu „definieren“ können. (Er war sich im klaren, dass wohl die meisten Kunstwissenschaftlerinnen, gemeinsam mit ihren Kollegen, beim Ausdruck „definieren“ sich mit einem Wutschrei der Empörung auf ihn stürzen oder aber ihn hohnlachend in eine Ecke schieben würden). Mittels des Spielraums innerhalb der verschiedenen Kriterien würde man alles Schöpferische einstufen und zu einem Gesamturteil über ein Kunstwerk führen können. Alles übrige, was mit solchen Kriterien nicht erfa0bar war, gehörte dann eben auch nicht zur Kunst.

      Mit dem Blick auf eine solche Aussage fühlte sich Philip plötzlich sehr erleichtert. Seinen Träumen würde er nunmehr sehr ruhig entgegensehen können. Er hatte sich nämlich nächtens von merkwürdigen Fabelwesen umstellt gesehen, die von irgendwelchen exotischen Kulturen stammend, auf ihn deutend auf ihn zu gekommen waren. Mit rollenden Augen hatten sie ihn angeglotzt und ihn - er konnte ihre spitzen weißen Zähne dabei deutlich sehen - angeschrien: Und wir? Sind wir denn nichts wert? Es würde ihm bei einer Wiederholung der Vorstellung mit ziemlicher Sicherheit gelingen, diesen Kobolden Beruhigendes mitzuteilen - jetzt, da er glaubte, dem Problem „globaler“ Kunstrichtungen, sprich den Kunstrichtungen aus den verschiedensten Kulturbereichen unserer Welt, in einem wahrhaft globalen Sinne „gerecht“ werden zu können. Schon wieder so ein dummes Wort - was sollte „gerecht werden“ denn für einen Kulturbereich bedeuten, der mit unserem - oder eben Philips - „Kunstbegriff“ überhaupt nichts anfangen konnte. Erfand der Westen nun auch in der Kunst seinen Imperialismus? Philip ergriff an diesem Punkt die Flucht - nach vorn! Kunst - für uns zumindest, die wir Kunst als solche wahrnehmen, ist eben Kunst, wer auch immer sie gemacht hat, oder was auch immer jener oder jene das Werk Erschaffende sich dabei gedacht hat oder gedacht haben sollte - Kunst. Und ein solches Werk würde eben qualitativ nach verschiedenen Kriterien und in deren Zusammenhang beurteilt, bewertet werden können. Oder, für jene, die es nun sehr genau wissen möchten, - für jene definieren eben diese Kriterien die Kunst - - - .

      Sie trafen sich Montag Abend um zwanzig Uhr dreißig, wie stets, im „Pfännle“ - einem winzigen Gasthaus. Der Tisch war vorbestellt. Es war eine Gruppe von einem halben Dutzend kontakt - und diskutierfreudigen Teilnehmern aus einem Französischkurskurs der Volkshochschule („Aspects de notre temps“ ). Auch die Leiterin des Kurses, Mireille, kam oft noch hinzu. Dass sie eine waschechte Pariserin war, konnte niemand feststellen - sie sprach ein in jeder Hinsicht perfektes Hochdeutsch. Sie lebte zusammen mit Jean, einem Deutschen, der ihr geholfen hatte, aus ihrem Elternhaus zu entfliehen. Jeglicher Versuch, bei ihr einen Akzent aufzuspüren, der so typisch französisch sei, scheiterte kläglich. War dies letztlich eine - fast unerwartet positive - Folge des ziemlich gnadenlosen Drills, dem sie in ihrer Kindheit und Jugend ausgesetzt war? - einer Sequenz von Ballett, Theaterkursen, Klavier, Schwimmen und einigem mehr: Sie durfte sogar Deutsch lernen (was ihre Eltern dann wohl bereuten), dies im Hinblick auf Karrierechancen im Nachbarland. Bei alledem hatte man jedoch vergessen, ihr beizubringen, wie man Karriere macht. So war es für sie zunächst auch sehr schwer gewesen, in der Gilde der Französisch - Deutsch - Übersetzer Gnade in Form einer Aufnahme zu finden. Dabei war wohl auch kaum die Tatsache hinderlich gewesen, dass sie alle Prüfungen mit Glanz bestanden hatte. Aber - Merkwürdigkeiten der verschiedensten Art findet man in allen Berufssparten, und über die Probleme, die es in diesem Zusammenhang gab, war wenig bekannt .Zu ihrer Leidenschaft wurde dann etwas, was man in Frankreich aus irgendeinem Grunde weggelassen hatte: eine aktive Beschäftigung mit der bildenden Kunst, im Sinne einer Autodidaktin. Sie sprach aber fast niemals darüber. An diesem schönen Frühsommerabend war sie mit dabei im „Pfännle“. (Nicht dabei - und zwar ständig - war etwa die Hälfte der anderen Beteiligten an ihrem Kurs)

      Nachdem die Mägen dieser durstigen - und teilweise auch hungrigen - Gruppe besänftigt und somit auch überschäumende Erregungen, das aktuelle politische Minenfeld betreffend, abgeklungen waren, zog Eva eine Illustrierte aus ihrer Tasche. (Eva arbeitete als Diplom-Kauffrau in einem kleineren Betrieb). „Speziell für Mireille“, sagte sie. Dann las sie einige Teile aus einem längeren Artikel vor, wobei alle geduldig zuhörten. Anschließend wurde die Illustrierte herumgereicht, um die - leider nur recht kärglich Informationen vermittelnden - Fotos genauer betrachten zu können. In dem Artikel berichtete die Autorin von der Entdeckung - genauer gesagt von der außerordentlich geschickten und dabei gerade auch sehr lukrativen Vermarktung - der malerischen Werke eines fünfjährigen Mädchens, der als „Malgenie“ (von einigen Seiten) bezeichneten Änn. „Der nächste Picasso?“ war die Überschrift zu diesem Bericht. Da das Mädchen mehr oder weniger abstrakte Bilder malte, schien es „somit“ den Werdegang Picassos, mit einer abstrakten Verarbeitung des Gegenständlichen, „irgendwie“ „fortsetzen zu wollen“. Jedenfalls war dies eine gängige Sichtweise. (Literaturzitat 1). Was dieses - oder vielmehr so ein Kind! - dann aber „wirklich“ will, war ein Punkt unter anderem in der nun folgenden Diskussion. Kärglich war zunächst, wie schon angedeutet, die im Hintergrund von einem der Fotos lediglich als Ausschnitt erscheinende Wiedergabe von Bildern der Kleinen. Kontrastierend hierzu ein Foto der glücklichen Eltern, zugeneigt dem in ihrer Mitte eingezwängten und dabei strahlenden Genie, umgeben von einem Wust ziemlich unstrukturiert vollgekleckerter Malgründe. Als Krönung dann ein Porträt von Änn: zweiseitig, lachend, mit einem farbgefüllten Pinsel in der Hand, ölfarbverschmiert an den Händen, am Pullover und am Mund.

      Nachdem zunächst einmal geschwiegen wurde - das war so üblich - „stapfte“ Berhtold als erster los. Berthold, ein höherer Beamter im Kommunalbereich, Jurist, war im Zweitberuf „Eisenbahner“. Zum einen hatte er eine Eisenbahnanlage, die mehrere Zimmer umfasste, in einer Zweitwohnung installiert. Zum anderen hatte er Daten aller Eisenbahnnetzwerke dieser Welt und zudem noch die wichtigsten Details aller jemals gebauten Lokomotiven in seinem Hirn gespeichert. Sein Französisch war gleichermaßen hervorragend, abgesehen vielleicht von seiner ausgeprägt deutschen Aussprache. Die Tonlage des Juristen war nicht zu verkennen, als er nun sagte: Einer sachlichen Klärung bedarf zunächst die Produktion der Bilder. Über eine derartige Ausdauer eines Kindes, das eckenfüllend, wohlgemerkt, aus eigenem Antrieb mehrere Quadratmeter einer Leinwand mit Farbe bepinselt, wird im Allgemeinen nur in Märchen berichtet. Diesbezüglich existieren Videos eines solchen Prozesses auch nur von irgendwelchen Ausschnitten, die sich jeglicher Kontrolle und Nachprüfung entziehen. Fachleute haben in diesem Zusammenhang von Merkmalen gesprochen, die eindeutig auf eine Mitwirkung erwachsener Personen schließen lassen, Dabei denke ich unter anderem an eine Beobachtung der Journalistin, wobei im Rahmen eines Interviews das Kind einem Kaninchen einen Busen malte. Der springende Punkt dabei ist, das dieses Kaninchen auf einer im Raum befindlichen Tafel bereits vorgefertigt war. Wenn der Produktionsprozess nun, dabei besonders in Anbetracht eines erzielbaren Sensationsrausches dank einer Internetcampagne für hunderttausende von Eltern derart durchgeführt, und mit dem Markenzeichen von überragender Genialität gekennzeichnet wurde, stehen