auch häufiger durch biologisch-physiologische Aspekte ergänzt (Bühringer et. al., 2000, Bühringer 2001). Eine allseits anerkannte und umfassende Theorie über das Entstehen von Alkoholabhängigkeit ist hier aber zurzeit nicht bekannt. So wird davon ausgegangen, dass es keine einheitliche Theorie über das Entstehen von Alkoholabhängigkeit gibt. Dies wird auch von anderen Fachleuten ausdrücklich bestätigt (z.B. Tretter & Müller, 2001; Petry, 1996).
Die traditionell deskriptiven Näherungen im ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 1991) und in DSM IV benennen in den Hinweisen zur Differenzialdiagnostik nur einzelne Kriterien und zusätzlich jeweils den Hinweis auf eine gestörte Selbststeuerung („…anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen“, ICD10 GM, 2004).
Die zurzeit laufenden Anstrengungen, evidenzbasierte Behandlungsleitlinien zu erarbeiten, machen ebenfalls deutlich, dass eine allseits anerkannte Theorie über die Genese der Störung zurzeit nicht verfügbar ist (Arbeitsgemeinschaft medizinischer Fachgesellschaften, Stand laut Veröffentlichung im Internet 4/2004).
So ist also jedes Konzept zur Behandlung von Alkoholabhängigkeit aus den vorhandenen wissenschaftlichen Grundlagen über das Entstehen und Verändern von Einstellungen und Verhaltensweisen abzuleiten. In dieser Beschreibung einer therapeutischen Vorgehensweise muss nicht, im Sinne eines Lehrbuchs, der gesamte theoretische Hintergrund jeder Intervention ausgeleuchtet werden. Gleichwohl werden immer wieder Hinweise auf die psychologischen Grundlagen des Vorgehens in den einzelnen Kapiteln eingestreut.
1.2.1 Modellannahmen über die Störungsentwicklung
Das Behandlungskonzept der Fachklinik für Abhängigkeitsrehabilitation in der Johanna-Odebrecht-Stiftung (Sadowski & Kirchner, 2001) geht von zwei grundsätzlichen Annahmen im Zusammenhang mit der Entstehung der Störung aus: Zum einen wird der fortgeschrittene Zustand der Störungsentwicklung, der in der stationären Entwöhnungsbehandlung gesehen wird, in Zusammenhang gebracht mit Aspekten einer gestörten Selbststeuerung (Konsum trotz nachteiliger Folgen; ICD10, Dilling, Mombour, & Schmidt, 1991; ICD-10 GM 2004, DMDI und DSM IV, Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003).
Hinter dieser Annahme steht ein Menschenbild, nach dem es nicht erstrebenswert ist, sich fortdauernd zu schädigen; es wird davon ausgegangen, dass ein jeder grundsätzlich Interesse am körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefinden hat. Selbst wenn man sich eine solche Auffassung nur unter Bedenken zu Eigen machen wollte, wäre man zu einer solchen Haltung verpflichtet, solange man als Therapeut Leistungen für gesetzliche Kostenträger erbringt. Aus der Garantie des Grundgesetzes auf Achtung der Würde des Menschen und auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergibt sich diese Verpflichtung zwingend.
Aus dieser Annahme über die Störungsentwicklung folgt zwangsläufig, dass Patienten ein Angebot zur verbesserten Selbststeuerung zu machen ist.
Die zweite Annahme zur Störungsentwicklung ist, dass zur gestörten Selbststeuerung etwas hinzugetreten ist, was mit der erwarteten Wirkung des Suchtmittels Alkohol zu tun hat. Vereinfacht könnte man sagen, dass die erwartete Wirkung des Alkohols eine Funktion erfüllt hat. Die Funktion hatte sich entfaltet in Auseinandersetzung mit Lebenssituationen und der inneren Repräsentation (über Gedanken bzw. Gefühle) von Lebenssituationen oder in beidem. Der Wunsch nach der erwarteten Wirkung des Alkohols kann sowohl angestoßen worden sein über soziale Bedingungen als auch in Auseinandersetzung mit biologisch-physiologischen Aspekten.
Der Interventionspunkt aus der Sicht der Therapie wird aber immer die Verarbeitung der situativen Bedingungen bzw. der biologischen Gegebenheiten sein.
Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2000) unterscheiden zwischen Alpha-, Beta-, und Gamma-Variablen, die auf das Erleben und Verhalten vom Menschen bestimmenden Einfluss ausüben. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit werden die Beta-Variablen der Selbstmanagement-Therapie genauso angesehen wie die psychischen Bedingungen innerhalb eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodelles.
Wenn also aus der Sicht eines Patienten eine soziale Bedingung, wie z.B. Arbeitslosigkeit, eine bestimmende Rolle bei der Entwicklung seines Alkoholkonsums gespielt hat, wird man aus psychotherapeutischer Sicht die innere Repräsentation dieser sozialen Bedingungen, (das Erleben) also eine intrapsychische Variable, als vermittelnde Variable zwischen der sozialen Bedingung und dem Konsum von Alkohol festzumachen versuchen.
Ähnlich wird bei biologischen Bedingungen argumentiert: Wenn z.B. bei einem Individuum eine Imbalance zwischen bestimmten Neurotransmittern bestimmte Stimmungslagen fördern sollte, könnte möglicherweise eine Verordnung von z.B. Serotonin-(Noradrenalin)-Wiederaufnahme-Hemmern oder anderen Medikamenten eine Linderung nach sich ziehen. Möglicherweise hat dieses Individuum im Sinne einer Eigenmedikation auf diese biologische Bedingung mit dem Konsum von Alkohol Einfluss nehmen wollen.
Nach der psychotherapeutischen Logik der Selbstmanagement-Therapie wären die Folgen der biologischen Bedingung (der Imbalance von Neurotransmittern), also die unerwünschten Stimmungslagen, zuerst zu identifizieren. Dann wären zum Alkoholkonsum alternative Reaktionen zu entwickeln (z.B. Umbewerten, Aushalten, Beeinflussen der Stimmungslagen ohne den Konsum von zustandsverändernden Stoffen).
Die Option auf eine Medikation bleibt dabei grundsätzlich erhalten, wird aber als letzte Möglichkeit gesehen, wenn der Einfluss des Individuums zur anderweitigen Bewältigung der unerwünschten Stimmungslagen nicht ausreicht.
1.2.2 Zur Rekonstruktion der individuellen Störungsentwicklung
Diese funktionalen Zusammenhänge lassen sich grundsätzlich ordnen, wenn man statistisch relevante Mengen von Patienten untersucht. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen (ein gewisser Prozentsatz von Alkoholikern hat Defizite in der Selbstsicherheit, im Kommunikationsverhalten, beim Lösen komplexer Probleme oder beim Entwickeln von Lebensperspektiven usw.) können gut geeignet sein, Hypothesen über das individuelle Bedingungsgefüge desjenigen Patienten zu entwickeln, mit dem in einer aktuellen Situation eine therapeutische Intervention angestrebt wird.
Ein zwingender Interventionspunkt lässt sich für den Einzelfall aus diesen statistischen Zusammenhängen jedoch nicht erschließen.
Deshalb sind die besonderen Zusammenhänge eines jeden Einzelfalles in einem Prozess der funktionalen Diagnose zu erarbeiten.
Die (radikalen) Konstruktivisten, z.B. Watzlawick (1976) haben überzeugend dargelegt, dass in der Rückschau keine Wahrheit über solche Entwicklungen herzustellen ist. Für den Bereich der Psychotherapie haben sich z.B. Caspar, F. (1996) und andere mit der Rekonstruktion von Störungsverläufen beschäftigt und sind zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Für den engeren Bereich der Behandlung von Alkoholabhängigkeit haben vor Jahren schon Antons und Schulz (1981) darauf hingewiesen, dass die Retrospektive grundsätzlich nicht geeignet ist, das individuelle Bedingungsgefüge bei Beginn der Störungsentwicklung zu erhellen.
Wenn sich individuelle Therapieziele ergeben haben, werden alle zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt werden, eine Annäherung an die gemeinsam definierten Therapieziele zu erreichen. Bei der Wahl der einzusetzenden therapeutischen Mittel werden die Überlegungen von Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2000) zu würdigen sein:
Selbstmanagement-Therapie propagiert eine große Nähe zu empirisch-wissenschaftlichen Standpunkten und versucht in dieser Hinsicht, vor allem Erkenntnisse der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen für den klinischen Bereich zu nutzen. Dies bedeutet auch das Einnehmen eines pragmatischen Standpunkts, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden anhand ihres Nutzens für das Erreichen bestimmter Ziele beurteilt und eingesetzt werden (ebd. S.16, Hervorhebung im Original).
1.2.3 Zustandsabhängiges Lernen
Bei der Vermittlung von Informationen über Abhängigkeit an die Patienten fehlt in Suchtkliniken selten der Hinweis darauf, dass durch erneuten Konsum von Alkohol nach einer Behandlung die Wahrscheinlichkeit stark ansteigt, dass der Patient wieder in eine ungünstige Entwicklung abrutscht, wie sie vor der Behandlung bestanden hatte.
Unserer Begründung