Peter Sadowski

Der mündige Trinker


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zu vollstrecken; das ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft.

      Wenn Mitarbeiter einer therapeutischen Einrichtung sich professionell damit beschäftigen, Patienten zu vermehrter eigenverantwortlicher Gestaltung ihres Lebens zu ermuntern, besteht die Gefahr, dass Sie einen Patienten vor Haft schützen wollen – dort wären ja die Bedingungen zur eigenverantwortlichen Gestaltung des Lebens außerordentlich gering. Wer die Macht der Argumente in diesem Sinne einsetzt, läuft Gefahr, vom Patienten als Einrichtung zur Haftvermeidung missbraucht zu werden. Diese Position ist unbedingt zu vermeiden.

      Weniger eindeutig ist die Situation, wenn betriebliche Beratungsstellen oder Betriebsärzte im Auftrag von Arbeitgebern oder Dienstherren einen Patienten dringend zur Aufnahme einer Behandlung raten.

      Manch ein Patient sieht zuerst das Machtgefälle zwischen seinem Arbeitgeber oder Dienstherrn und ihm selbst und erst an zweiter Stelle seine Chance zur Bewältigung oder Klärung eines Alkoholproblems. Aus der Sicht von Mitarbeitern einer Therapieeinrichtung kann es verführerisch sein, stellvertretend die Machtposition des Arbeitgebers oder Dienstherrn beziehungsweise seiner Repräsentanten wie z.B. betriebliche Beratungsstellen bzw. Betriebsarzt zu übernehmen – der Patient würde dann in der Einrichtung schon leichter „führbar“ sein. Aus der Sicht des beschriebenen Vorgehens ist auch diese Position von therapeutischen Mitarbeitern unbedingt zu vermeiden: Es bleibt die Entscheidung des Patienten, sich den Forderungen von außen zu beugen oder es bleiben zu lassen.

      Aus der Sicht der Selbstmanagement-Therapie und aus der Sicht des beschriebenen Vorgehens kann es sogar ausgesprochen sinnvoll sein, die vermeintliche Ohnmacht des Patienten gegenüber Arbeitgeber oder Dienstherrn zu verringern, indem man ihn auf die Möglichkeit einer Rechtsberatung aufmerksam macht. Dann ist für den Patienten die Grundlage verbreitert, sich für oder gegen eine Behandlung zu entscheiden.

      Die Machtausübung über Zugang zu Informationen ist ebenfalls nach Möglichkeit gering zu halten. In der Praxis wird es vermutlich nicht erreichbar sein, dass Patienten und Therapeuten über alle Belange der Therapie vollständig gleichberechtigt verhandeln; der Informationsvorsprung der therapeutischen Mitarbeiter durch Ausbildung und Erfahrung ist dafür einfach zu groß. Der Therapeut kann nur maßvoll umgehen mit seinem Informationsvorsprung und sich bemühen, dass die subjektive Sicht des Patienten möglichst wenig von Gefühlen der Ohnmacht bestimmt wird.

      1.3.3 Transparenz des intendierten therapeutischen Prozesses

      Eine Besonderheit der Selbstmanagement-Therapie befindet sich in dem „Sieben-Phasen-Modell“ (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2000). Danach werden zuerst kooperative Arbeitsbeziehungen aufgebaut und die Änderungsmotivation des Patienten gesichtet und stabilisiert. Erst dann findet eine intensive Auseinandersetzung mit der Störung in einer Verhaltensanalyse statt.

      Für die Behandlung von Alkoholabhängigkeit wurde das Sieben-Phasen-Modell an die Bedingungen der stationären Behandlung angepasst. Die Adaption dieses Prozesses ist für jeden einzelnen Patienten jederzeit durchschaubar zu halten. Innerhalb des intendierten therapeutischen Prozesses wird systematisch der jeweilige Entwicklungsstand des einzelnen Patienten erhoben; bei der Festlegung des Entwicklungsstandes sind Patient und Therapeut gemeinsam beteiligt (siehe auch die Kapitel „Die Bezugsgruppe stellt sich vor“ im Kapitel 6.3.5, und „Der Therapieprozess“, Kapitel 6.4). Auf diese Weise kann sich jeder einzelne Patient eine Vorstellung davon machen, wie weit er in dem intendierten therapeutischen Prozess fortgeschritten ist. Er kann sich auch ein eigenes Bild davon machen, ob die noch abzuarbeitenden Teile des Therapieprozesses im vorgesehenen Zeitrahmen zu bewältigen sind.

      1.3.4 Funktionale Diagnostik

      Die Diagnostik im Rahmen der Selbstmanagement-Therapie zielt zuerst darauf ab, Veränderungsbereiche innerhalb eines bio-psycho-sozialen Systems zu identifizieren. Es werden Ist-Zustände erhoben.

      „Die auf der Diagnostik aufbauende Therapie beabsichtigt eine Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Person“ (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2000, S. 106).

      Die Autoren sehen Unterschiede zur klassischen Diagnostik: Demnach wäre Ziel und Gegenstand der klassischen Diagnostik eine mit Problemen behaftete Person; es ginge um die

       Zuordnung eines Patienten zu einer nosologischen Kategorie und

       aus dieser Zuordnung würden sich die Maßnahmen zur Beseitigung von Ursachen ableiten.

      Die Vorteile einer funktionalen Diagnostik werden darin gesehen, dass der Patient grundsätzlich entpathologisiert wird. Der Zustand des Patienten wird als grundsätzlich veränderungsfähig gesehen.

       Dem einzelnen Patienten wird mindestens implizit Verantwortung für den Veränderungsprozess zugeschrieben;

       ebenso die potenzielle Fähigkeit, an dem Veränderungsprozess mitzuwirken.

      Von Beginn der Behandlung an wird auf diejenigen funktionalen Zusammenhänge zwischen Störungsentwicklung und intrapsychischen Bedingungen geachtet, aus denen sich später die individuellen Therapieziele ergeben.

      1.3.5 Therapeutischer Optimismus

      Auch das ist keine welterschütternde, neue Erkenntnis: Wer psychotherapeutisch tätig ist, sollte selbst daran glauben, dass er gemeinsam mit dem Patienten eine Veränderung zum Besseren bewirken kann. Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2000) weisen in den theoretischen Grundlagen der Selbstmanagement-Therapie daraufhin, dass sie die von ihnen propagierten Fähigkeiten zur Selbstregulation5 als nicht angeboren, sondern prinzipiell lernbar ansehen. An diese Feststellung schließt sich das folgende Zitat an:

      In dieser Hinsicht zeigen wir einen vorsichtigen therapeutischen Optimismus: unserer Ansicht nach sind – zumindest minimal – Aussichten auf Verbesserung bei jeder Person in jeder Situation möglich. Unsere unmittelbare praktische Arbeit ist allerdings so angelegt, dass wir keine ungerechtfertigten Utopien bei Klienten schnüren und auch unveränderliche Tatsachen von veränderbaren Problemen differenzieren .... In diesem Sinne könnte man unsere Haltung als realistischen Optimismus bezeichnen (ebd., S.16).

      1.4 Zur Klinik

      Für die Fachklinik für Abhängigkeitsrehabilitation (in der Johanna-Odebrecht-Stiftung in Greifswald) ist das in diesem Manual beschriebene Vorgehen kompatibel mit dem wissenschaftlich begründeten Konzept, das dem federführenden Kostenträger als Grundlage der Genehmigungsfähigkeit vorliegt (im Sinne der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen, 2001). Der federführende Kostenträger, die Landesversicherungsanstalt Mecklenburg-Vorpommern, hat die allgemeine Belegungsfähigkeit der Einrichtung schriftlich bestätigt.

      Die Fachklinik für Abhängigkeitsrehabilitation ist zertifiziert nach DIN ISO 9000-2001 (DIN, Deutsches Institut für Normung e.V., 2001). Zertifizierer war die Firma Germanischer Lloyd Certification, bescheinigt wurde die Zertifizierung im Jahr 2004. Im Rahmen der Zertifizierung wird überprüft, ob ein beschriebenes Qualitätsmanagement im Klinikalltag verwirklicht wird. Das beschriebene Vorgehen ist kompatibel mit dem vorgelegten Handbuch zum Qualitäts-Management.

      Mit dem beschriebenen Vorgehen einer Kombitherapie mit einer stationären und einer ambulanten Behandlungsphase soll den eingeschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten der Kostenträger Rechnung getragen werden und vermehrt an die Eigenverantwortung der Patienten appelliert werden.

      Die Behandlung ist damit für alle Patienten mit der Diagnose Alkoholabhängigkeit (ICD-10 F 10.2) zugänglich. Die Behandlung weiterer Diagnosen aus dem Feld der Abhängigkeiten ist grundsätzlich möglich; wenn Doppel- bzw. Mehrfachdiagnosen gestellt wurden, kann in einem Vorgespräch, in Absprache mit dem Vorbehandler, eine fachliche Einschätzung zur Erfolgsaussicht aus der Sicht der Fachklinik erarbeitet werden und in die Antragstellung beim jeweiligen Kostenträger