Peter Sadowski

Der mündige Trinker


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Appellen an die Eigenverantwortung ist auch dieser Bereich zu managen.

      Diese Illustration ausnahmsweise „bös“ polemisch und unter Missachtung des Ringens um Political Correctness:

      Es kann vorkommen, dass Patienten Zweifel an der Notwendigkeit bekunden, sich bei jedem Verlassen des Klinikgeländes im Stationszimmer abzumelden und sich nach Rückkehr wieder anzumelden und dabei einen Alkoholtest durchzuführen.

      Sollte es mal brennen, wird gerne argumentiert, würden die Mitarbeiter der Einrichtung der Feuerwehr gerne Informationen geben können, ob unbedingt noch ein Patient aus dem Dachgeschoss zu retten wäre. Hier sei schließlich keine griechische Fähre, bei der im Fall eines Untergangs auch 14 Tage nach dem Unglück nicht klar wäre, wie viele Passagiere auf dem Schiff gewesen seien. Und wenn ein Patient unbedingt erproben möchte, ob er sich traut, alleine auf dem Marktplatz ein Eis zu bestellen und zu verzehren, könnte er sich auch abmelden; damit würde er auch dazu beitragen zu verhindern, dass im Falle einer fehlenden Abmeldung wegen seiner „Laxheit“ ein Feuerwehrmann nicht sein Leben riskieren müsste.

      Wenn ein Patient im Rahmen des Realitätstrainings eine zusätzliche auswärtige Übernachtung wünscht, kann man als Mitarbeiter der Einrichtung ohne weiteres darauf hinweisen, dass die Kostenträger außerordentlich hohe Anforderungen stellen an Heimfahrten vor Ablauf einer bestimmten Zahl von Behandlungswochen oder zusätzliche Befreiungen von der Therapie.

      Wenn ein Patient eine verkürzte Behandlungszeit wünscht und argumentiert, er sei im psychotherapeutischen Prozess besonders schnell fortgeschritten, wird der Bezugstherapeut Fakten einfordern, die diese Bewertung belegen (Woran können wir sehen, dass die Fortschritte so sind, wie sie Ihnen erscheinen?). Und es wird der Bezugstherapeut in bester verhaltenstherapeutischer Tradition seine eigene Einschätzung mit Operationalisierungen belegen.

      In der hier beschriebenen Vorgehensweise ist der intendierte therapeutische Prozess (siehe Kapitel 6.4 „Der therapeutische Prozess wird verdeutlicht“) einschließlich der Operationalisierungen für alle Beteiligten transparent; deshalb ist die Abhängigkeit des Patienten von der Bewertungsmacht der Therapeuten in diesem Fall nicht sehr groß.

      Wenn ein Patient in der dritten Behandlungswoche erklärt, er wollte nach Ende der vierten Behandlungswoche wegen seiner guten Erfolge vorzeitig die Behandlung beenden, ist relativ leicht zu prüfen, ob zum Zeitpunkt des Gesprächs z.B. ein Plausibles Modell zur Entwicklung und Bewältigung der Störung vorgelegt und bearbeitet worden ist und ob daraus individuelle Teiltherapieziele abgeleitet worden sind.

      Wenn der Prozess bis zum Benennen von individuellen Teiltherapiezielen fortgeschritten ist, können sich bei dem Patienten und den Therapeuten durch aus unterschiedliche Bewertungen ergeben.

      Wenn es z.B. zu den individuellen Teiltherapiezielen des Patienten gehörte, selbstsicherer zu werden, kann der bis dahin erreichte Erfolg von Patienten und von Bezugstherapeuten unterschiedlich bewertet werden.

      In diesem Fall sind dann die Systeme zur Fehlerminimierung transparent zu halten, die eingesetzt werden.

      Der Patient kann die eigene Einschätzung vergleichen mit der Einschätzung der anderen Mitglieder seiner Bezugsgruppe und der Therapeut kann seine Einschätzung mit der Einschätzung der anderen Mitglieder des therapeutischen Teams vergleichen. Das Ergebnis dieser beiden Prozesse zur Fehlerminimierung sollte dann in die gemeinsam zu erarbeitende Bewertung einfließen, ob das individuelle Therapieziel Verbesserung der Selbstsicherheit in ausreichendem Maße während der stationären Rehabilitationsphase angestrebt wurde.

      Der Patient ist durch das Offenlegen der Ergebnisse aus den beiden Fehlerminimierungs-Prozessen weniger abhängig von der Bewertungsmacht seines Bezugstherapeuten.

      Wenn z.B. die Einschätzung des Patienten, er habe sich während des Realitätstrainings um eine Steigerung seiner Selbstsicherheit bemüht, indem er konfliktträchtige Themen innerhalb der Familie angesprochen hätte und wenn diese Ergebnisse innerhalb des Realitätstrainings vom Patienten und dem Bezugstherapeuten jeweils gemeinsam geplant worden waren, wird es wenig Einwände gegen die Einschätzung des Patienten geben, dass er ein definiertes Therapieziel angestrebt hat und dass er auf seinem Weg zur Bewältigung seiner Störung bereits einige Erfolge gesammelt hat.

      Wenn der Therapeut in einem solchen Fall nicht darauf hinweisen kann, dass aus dem Plausiblen Modell noch einige wichtigere Ziele anzustreben seien, sollte er in Abstimmung mit dem verantwortlichen Arzt den Entlassmodus „vorzeitig regulär“ für diesen Patienten festlegen und dem Wunsch des Patienten nach Behandlungsverkürzung entsprechen.

      Wenn allerdings der Patient mit dem Verkürzungswunsch ein Plausibles Modell vorgelegt hat, das in den Fehlerminimierungs-Prozessen als unzulänglich bewertet wird, sollten diese Ergebnisse gemeinsam mit dem Patienten gesichtet werden. Die Zusammenschau der Bewertungen (Patient: gutes Plausibles Modell; Mitpatienten: schwaches Plausibles Modell; Bezugstherapeut: schwaches Plausibles Modell; Kleinteam bzw. Reha-Team: schwaches Plausibles Modell) führt dann zu der Entscheidung des Bezugstherapeuten, einer vorzeitig regulären Entlassung nicht zuzustimmen.

      Das Sichten und das Besprechen der Ergebnisse von Fehlerminimierungs-Prozessen kann den Bezugstherapeuten nicht aus seiner Verantwortung zur eigenen Bewertung entlassen; er kann die Entscheidung nicht an die Gremien „Patientenschaft“ oder „Reha-Team“ delegieren. Er kann aber für den betroffenen Patienten transparent machen, auf welcher Grundlage er zu seiner Bewertung zum Therapiestand des Patienten kommt. Die Ausübung von Bewertungsmacht gegenüber dem Patienten wird auf diese Weise möglichst gering gehalten.

      Der motivationale Status eines jeden Patienten wird in der Regel auch von Bedingungen bestimmt, die außerhalb seiner Entscheidung liegen. Manchmal scheinen diese Bedingungen derart bedeutsam zu sein, dass aus der Sicht von Mitarbeitern der Einrichtung die Vermutung begründet ist, der Patient wollte primär in Aussicht stehende Nachteile abwenden; möglicherweise würde er die Einrichtung in diesem Sinne funktionalisieren.

      Aus der Tatsache der Anwesenheit des Patienten in der Einrichtung wird manchmal die Berechtigung abzuleiten versucht, mit detektivischem Ehrgeiz die extrinsischen Motivationsanteile zu sichten und dem Patienten möglicherweise nachzuweisen, dass er die Behandlung eigentlich gar nicht wolle.

      Eine solche Vorgehensweise bedeutet ebenfalls Ausübung von Macht; insbesondere wenn sie die Willenserklärungen des Patienten nicht gebührend würdigt (Antrag auf Behandlung, Freiwilligkeitserklärung, Beschreibung der Motivation im Sozialbericht, Beschreibung der Motivation im ärztlichen Gutachten, Vorgespräch, Antritt der Therapie, Unterschrift unter den Therapievertrag usw.).

      Deshalb ist eine solche Vorgehensweise grundsätzlich zu vermeiden; stattdessen wird in der beschriebenen Vorgehensweise nahezu ausschließlich mit der Implikation gearbeitet, der Patient hätte sich aus eigenem Antrieb für die Aufnahme der stationären Behandlung entschieden.

      Wenn ein Patient in der Vorgeschichte in einem Gerichtsverfahren Rechenschaft über ein bestimmtes Verhalten abgelegt hatte und das Gericht in einem Urteil einer Haftstrafe ausgesprochen hatte und von der Vollstreckung dieser Strafe nur unter der Auflage abgesehen hatte, dass der Verurteilte sich einer Entwöhnungsbehandlung unterzieht, liegt die Vermutung schon mal nahe, dass für diesen Patienten das Durchlaufen des psychotherapeutischen Prozesses nicht allererste Priorität haben könnte.

      Erfahrungsgemäß lassen sich die intrinsischen Motivationsanteile des Patienten eher stärken, wenn man in der Einrichtung mit der Implikation arbeitet, es sei vom Patienten ausgesprochen lebensklug, den Forderungen des Gerichtes zu folgen. Grundsätzlich hätte er ja auch die Freiheit gehabt, der Bewährungsauflage nicht zu folgen und in Haft zu gehen. Der Patient könne ja prüfen, ob eine professionelle Behandlung seiner Alkoholprobleme ohnehin angestanden hätte; durch die Intervention des Gerichtes hätte sich jetzt für den Patienten die Gelegenheit gegeben, sich zu diesem Zeitpunkt für eine Behandlung zu entscheiden.

      Mit einer solchen Argumentation wäre gewissermaßen die Beweislast wieder beim Patienten: Er müsste deutlich machen, dass er keine Maßnahme zur Rehabilitation möchte. Diesem Wunsch wäre konsequenterweise dann auch zu entsprechen, wenn er denn formuliert wird.