Peter Sadowski

Der mündige Trinker


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Realitätstraining teilzunehmen. Er sollte also mindestens eine geordnete Unterkunft haben, sich ein Mindestmaß an sozialer Einbindung erhalten haben und seinen Lebensmittelpunkt auch während der Zeiten des Realitätstrainings erreichen können. Wenn der Lebensmittelpunkt während einer Saisonarbeit oder einer Abordnung (z.B. als Beamter der Bundespolizei oder als Soldat) nur vorübergehend in der Region ist, sollte dieser vorübergehende Lebensmittelpunkt während des Realitätstrainings erreichbar sein.

      Die Leistungsfähigkeit sollte nicht deutlich unterdurchschnittlich sein. Zur groben Einschätzung der Leistungsfähigkeit wird vorgeschlagen, gemeinsam mit dem Patienten abzuschätzen, ob er in einem Lehrberuf arbeiten könnte.

      Sollten das Ausmaß der sozialen Einbindung oder die Leistungsfähigkeit im Einzelfall schwächer entwickelt sein, kann eine besonders gut entwickelte Motivationslage ausgleichend wirken. Der Patient kann seine Motivationslage über seine Bereitschaft verdeutlichen, Anstrengungen zu erbringen (z.B. in einer Probezeit zu Behandlungsbeginn).

      Ein Patient zeigt einerseits Hinweise auf Defizite im Leistungsvermögen, bemüht sich andererseits aber intensiv um eine Bearbeitung der Selbstanalyse und sucht in diesem Zusammenhang häufiger Gespräche

      oder

      ein Patient war in Zusammenhang mit einer Scheidung in einer Notunterkunft vor Wohnungslosigkeit geschützt worden; im Zusammenhang mit seinem Wunsch nach Teilnahme an einer Kombi-Therapie hat er eigene Anstrengungen erbracht, um wieder eine Wohnung zu beziehen.

      Aus dem Therapievertrag (siehe www.der-muendige-trinker.de/zum-buch/zusammenwirken-in-einer-klinik.html) folgt noch eine weitere Anforderung an den zukünftigen Patienten: Er sollte zu einem sozialverträglichen Verhalten gegenüber Mitpatienten und Mitarbeitern der Einrichtung in der Lage sein.

      Die Praxis lehrt, dass im Vorfeld zur stationären Behandlung wegen Alkoholabhängigkeit gelegentlich nur eine eingeschränkte Abhängigkeitsakzeptanz erarbeitet wird und dass Abstinenzentscheidungen ab und an durch vehement vorgetragene Absichtserklärungen ersetzt werden. Im intendierten therapeutischen Prozess stehen die Entscheidungen des Patienten zur eigenen Abhängigkeit und zur Abstinenz relativ frühzeitig an. Es bleiben aber Schritte innerhalb des intendierten therapeutischen Prozesses; diese Entscheidungen sind aus der Sicht der Behandlung ausdrücklich keine Voraussetzung für den Eintritt in die stationäre Behandlung.

      2

      Therapiestrategien

      Für das praktische Vorgehen lässt sich keine Handlungsanweisung für jeden einzelnen Fall festlegen; deshalb werden im Sinne von Generalklauseln übergeordnete Prinzipien formuliert, an denen sich die einzelnen Maßnahmen orientieren.

      Die weiter vorne beschriebene Unklarheit über Entstehen und Bewältigung der individuellen Ausprägungen von Abhängigkeit wird vor dem Patienten offen gelegt. Daraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, dass jeder einzelne Patient zukünftig für die eigene Entwicklung selbst Verantwortung übernehmen sollte. Außerdem wird verdeutlicht, dass diejenigen intrapersonalen Bedingungen, die die individuelle Abhängigkeitsentwicklung gestützt hatten, nur über einen länger währenden Prozess zu beeinflussen sind. Die Dauer dieses Prozesses übersteigt in der Regel die Dauer der professionellen Behandlung; auch diese Einschätzung wird dem Patienten vermittelt.

      Es wird eine längere Zeit dauern, bis der einzelne Patient ein ausgewiesener Experte im Bewältigen seiner individuellen Alkoholabhängigkeit geworden ist. Dieser Sachverhalt wird für Patienten durch den Vergleich zwischen den üblichen Behandlungszeiten und Erfahrungen der Patienten über Zeiträume illustriert, die erforderlich sind, um komplexe Verhaltensweisen zu erarbeiten (Erwerb von Professionalität im Beruf, Unfallhäufigkeit und Fahrpraxis bei Neuerwerbern des Führerscheins, Skatspielen, Regattasegeln und ähnliche Beispiele aus der Lebenspraxis der jeweiligen Patientengruppe). Der Patient wird im Rahmen seiner gesamten Verantwortung für den weiteren Prozess, und auch für einzelne Teile innerhalb dieses Prozesses, zwangsläufig Verantwortung übernehmen.

      Ein häufig diskutiertes Thema ist das Ausmaß an Offenheit, das der einzelne Patient in der Maßnahme zur stationären Rehabilitation praktiziert. Es ist schon leicht einsichtig, dass nicht jeder jederzeit alle beschämenden Einzelheiten seiner Vorgeschichte ausbreiten mag.

      Es lässt sich leicht aus der Sicht des Lösens komplexer Probleme argumentieren, dass das zu lösende Problem möglichst genau benannt werden sollte, um dem benannten Problem Lösungsmöglichkeiten zuordnen zu können. Je genauer das Problem definiert ist, umso wahrscheinlicher ist es, adäquate Lösungsmöglichkeiten zu generieren. Dieses Prinzip ist dem einzelnen Patienten aus den psycho-edukativen Veranstaltungen Problemlöse-Training bekannt (siehe Kapitel 8.2). Das Werben um Offenheit beim Patienten bezieht sich auf Situationen, in denen getrunken wurde und auf diejenigen Gedanken und Gefühle, die dem Trinken vorausliefen. Und wenn der Patient nur Teile dieser Informationen in die Bezugsgruppe bringt oder mit den Mitpatienten diskutieren mag, sollte er wenigstens in therapeutischen Einzelgesprächen ein größeres Maß an Offenheit praktizieren.

      Die Standardillustration für diese Notwendigkeit lautet: Es gibt buchstäblich nur einen einzigen Menschen auf dieser Welt, der die nachteiligen Folgen fehlender Offenheit tragen wird: eben derjenige Patient, der sich nicht zu ausreichender Offenheit durchringen kann.

      Deftigeren Naturen, die möglicherweise auch noch zu Spielen wegen der Offenheit einladen, kann man es auch deftiger sagen: Der einzige Mensch, den Sie hier bescheißen können, sind Sie selbst.

      Manchmal hat man als Therapeut Glück, dann benutzen Patienten solche Sprüche wie geflügelte Worte und schaffen auf diese Weise in Bezugsgruppen ein Klima großer Offenheit, ohne dass der Therapeut in diese Bedingungen noch zusätzlich viel Zeit in aufwändige Interventionen investieren müsste.6

      2.2 Transparenz

      Wenn Therapeuten mit ihren Interventionen an die Einsicht und an die Entscheidungen von Patienten appellieren, muss der einsichtige und entscheidende Patient über ein Mindestmaß an relevanten Informationen verfügen. Diese sind dem Patienten im Zusammenhang mit dem Prozess der Rehabilitation zu vermitteln.

      Die Transparenz bezieht sich nicht nur auf Informationen über die Störung und ihre Folgen (Motivation durch Informationen), sondern auch auf die Settingbedingungen. Dabei müssen selbstverständlich Patienten nicht ausführlich über alle innerbetrieblichen Zusammenhänge oder alle Feinheiten der Zusammenarbeit mit Kostenträgern oder Beratungsstellen aufgeklärt werden. In groben Zügen sollten die Patienten aber auf Initiative der Einrichtung informiert werden; insbesondere bei Nachfragen von Patienten sollten diese Nachfragen möglichst erschöpfend behandelt werden.

      Mit diesem Prinzip wird ein ethischer Anspruch verwirklicht. Der grundsätzliche Informationsvorsprung des Therapeuten gegenüber dem Patienten soll nicht künstlich erhöht werden. Aus der Sicht des Patienten soll das Machtgefälle, das aus dem Informationsvorsprung des Therapeuten folgt, grundsätzlich verringerbar sein.

      2.3 Positiv formulierte Ziele

      Es wurde weiter vorne schon darauf hingewiesen, dass in Zuständen von Komplexität und Unbestimmtheit (z.B. Dörner, 1983) schlecht definierte Ziele die Komplexität von Problemen erhöhen, gut definierte dagegen die Problemkomplexität verringern.

      Die Forderung der Kostenträger nach dem Therapieziel Abstinenz ist ein schlecht definiertes Therapieziel. Abstinenz ist die Abwesenheit eines Verhaltens, nämlich des Konsums von Alkohol. Es fehlt die Definition der Alternative.

      In der Praxis können Therapeuten sich mit dem Vorschlag behelfen, zufriedene Abstinenz anzustreben. Die individuelle Zufriedenheit ist dann von jedem einzelnen Patienten zu definieren. Die allgemeinen