Elisabeth Uhlemann

Ledige Kinder


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aus Angst und Verzweiflung vergiftete meine Tage.

      Lange quälte ich mich mit der Frage: Durchhalten bis zum bitteren Ende oder rechtzeitig das Ende selbst herbeiführen? Das ist eine schlimme Geschichte. Solange man sich wohlfühlt, kann man es sich nicht vorstellen, denn die Verzweiflung der üblichen Selbstmörder besteht ja keineswegs. Die Selbsttötung existierte bisher auch nicht in meinem Gedankengut. Natürlich, jeder denkt einmal in einer schwierigen Lebenssituation, er könnte sich umbringen. Dabei stellt man sich in der Regel nichts Konkretes vor. Aber mittlerweile habe ich eine Ahnung davon, was noch alles auf mich zukommen wird — und das macht mir Angst, höllische Angst. Unerträgliche Schmerzen, medizinischem Personal ausgeliefert, das vielleicht lustlos ist, sich überarbeitet und unterbezahlt fühlt und seine schlechte Laune an mir auslassen wird.

      Während der vielen Stunden, die Matthias bei der Arbeit oder auf dem Tennisplatz verbrachte, blieb mir viel Zeit, mich um alles zu kümmern. Die Apotheke ist verkauft. Meine Nachfolger scheinen ihre Arbeit zu beherrschen, denn selten wenden sie sich an mich, um meinen Rat einzuholen. Einige Stammkunden erkundigen sich nach mir, das schmeichelt meiner Eitelkeit. Und doch stelle ich fest, dass Idealismus und Ehrgeiz kaum noch eine Rolle in meinem Leben spielen. Es erscheint mir heute geradezu lächerlich, welch große Bedeutung ich meinem Beruf und früher dem Studium beigemessen habe; wie ernsthaft und pflichtversessen ich tagein tagaus meinen Beruf ausgeübt habe. Wie viele Seminare und Fortbildungsveranstaltungen glaubte ich absolvieren zu müssen, um in unserer schnelllebigen Zeit auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bleiben.

      Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegensieht, irritiert mich. Ich weiß, es ist mein eigenes, aber in den letzten Monaten veränderte es sich dermaßen, dass ich mich morgens kaum traue die Augen aufzuschlagen, vor dem gnadenlosen, unbarmherzigen Spiegel. Andererseits bin ich jetzt endlich dünn. Mein Gesicht zeigt ein schmales Oval, wie früher, als ich noch sehr jung war und häufig den Spiegel befragen musste, ob es sich bei diesem Gesicht tatsächlich um meines handelte. Die Falten habe ich mir schlimmer vorgestellt. Bringe ich ein Lächeln zustande, gefalle ich mir sogar ein wenig.

      Abgemagert, wie ich jetzt bin, müsste ich endlich auch meinem Mann gefallen, der sich seit vielen Jahren über meine Leibesfülle beklagt. Seit er meine fatale Diagnose kennt, wirkt er hilflos und scheint sich gefühlsmäßig totzustellen. Er kann meine Angst und mein Leid nicht ertragen. Wie schön wäre es, dieses Schicksal gemeinsam zu tragen, Hand in Hand dem Schrecken begegnen. Aber das können wir nicht. Lange schon haben wir es verlernt, miteinander zu fühlen und über uns zu sprechen. Er flieht in sportliche Aktivitäten, in seine Arbeit und leidet doch — still vor sich hin.

      Ist es feige von mir, vor den Schmerzen in den Tod fliehen zu wollen? Vielleicht. Während meiner Kindheit und Jugendzeit, bis weit in das Erwachsenenalter hinein, kannte ich einen inneren, bohrenden Schmerz, eine Art Verzweiflung, die mich ständig begleitete. Dieser quälende Zustand vergiftete mein Leben und mein Lieben. Er nahm in meiner Seele so viel Raum ein, dass für Wichtiges oft kein Platz war. Für eigene Kinder zum Beispiel, die ich mir in einem anderen Teil meiner Seele so sehr gewünscht hatte.

      Jetzt, wo ich diesen Schmerz überwunden glaubte, kommt dieser Krebs und frisst mich von innen auf, wird mir mein Leben zur Hölle machen. Das kann ich nicht aushalten, ich will es nicht ertragen, alles in mir lehnt sich dagegen auf. Freilich, wenn es so weit ist, kann es schwierig werden. Mir fällt meine Kinderfreundin Ilse ein. Als Erwachsene hatten wir uns lange schon aus den Augen verloren. Doch eines Tages machte sie mich ausfindig und suchte meinen fachmännischen Rat. Sie litt an Lungenkrebs — austherapiert, wie sie mir erklärte — und wollte von mir die notwendige Dosis der gesammelten Schlaftabletten wissen, um ihren Leidensweg abzukürzen. Später erfuhr ich, dass ihre Mutter ihr auf dem Sterbebett die letzte Zigarette gehalten hat, weil sie zu schwach dafür war. Die Tabletten blieben unangetastet.

      Ilse Rieger … ihre Eltern besaßen eine große Gärtnerei, nicht weit von unserer Wohnung entfernt. Als Kinder und in der frühen Schulzeit spielten wir gern miteinander. Der Familienbetrieb schluckte alle Zeit und Energie ihrer Eltern, und Ilse war sich selbst überlassen. Außer einer alten Tante kümmerte sich kaum jemand um sie. Wollte man mit ihr spielen, musste man in der sengenden Sommerhitze mit ihr Beeren lesen. Abends bekam ich als Belohnung eine Papiertüte voll mit unverkäuflichem, oft auch ungenießbarem Obst geschenkt. Ihre Mutter galt als tüchtige Geschäftsfrau, ich mochte sie nicht.

      Als wir achtunddreißig Jahre alt waren, und sie sich an mich erinnert hatte, um sich meines pharmakologischen Wissens zu bedienen, erzählte sie mir von ihrem, wie sie es nannte, verpfuschten Leben. Sie hatte versucht, auf vielfältige Weise der mütterlichen Gewaltherrschaft zu entkommen. Dabei hatte ihr Weg sie ins Ausland geführt. Drogen, Alkohol und gewalttätige Männer begannen sie immer mehr zu zerstören. Eine ungewollte Mutterschaft brachte sie wieder zu sich und in die alte Abhängigkeit von ihren Eltern. Sie wurde zur Kettenraucherin, die immer nur Liebe und Geborgenheit gesucht hatte.

      Es war ein schöner, warmer Spätsommernachmittag. Wir saßen auf meinem Balkon, tranken Kaffee und rauchten — eine Zigarette nach der anderen. Ilse sah aus wie eine alte Frau, ich konnte ihr kaum ins Gesicht schauen. „Schau mich nur an“, sagte sie, „ich bin auch gekommen, um dich zu warnen: Hör auf mit dem Rauchen, ehe es zu spät ist.“ Damals rauchte ich jeden Tag eine ganze Schachtel Zigaretten und lebte mit schlechtem Gewissen — in der ständigen Angst vor Krebs, Herzinfarkt und anderen Scheußlichkeiten. „Warum sollte ich jetzt aufhören?“, fragte sie mich, „jetzt, wo alles zu spät ist.“ Ihre Mahnung, sie als abschreckendes Beispiel zu nehmen, nützte nichts, ebenso wie der gesetzlich verordnete Hinweis auf den Zigarettenschachteln auf einen frühen Tod.

      Erst einige Jahre später konnte ich endlich damit aufhören. Matthias hatte schon immer unter meinem Laster gelitten und es kaum ertragen. Wie oft hatten wir uns deshalb in heftige Streitereien verkeilt. Der Lungenkrebs ist mir erspart geblieben, der Herzinfarkt auch, meine beiden Beine sind auch nicht dem Raucherschicksal zum Opfer gefallen. Dafür wächst ein anderer Tumor in meinem Bauch; breitet sich aus wie ein Hefekuchen und hat schon viele kleine Küchlein geboren.

       3

      Mit der üblichen Begrüßung kommt mein Mann nach Hause, wirft seine Aktentasche in die Ecke und hängt seine alte Lederjacke an die Garderobe. Es gibt eine kleine Umarmung und ein zartes, keusches Küsschen auf den Mund — das Minimum an Zärtlichkeit, das wir uns als Ritual bewahrt haben, um nicht völlig in die Lieblosigkeit der verbrauchten und ausgezehrten Langzeitehe zu verfallen.

      „Wie erging es dir heute?“, fragt er und auch das entspricht unserer Routine. „Danke, es geht, und dir? Wie war dein Arbeitstag?“ — „Ach das Übliche, du weißt schon … “ Natürlich weiß ich das, was soll schon sein. Er liebt es nicht, von seiner Arbeit zu erzählen, ganz anders als ich. Im Gegensatz zu früher habe ich jetzt aber nichts mehr zu erzählen. Ich habe den Kaffee vorbereitet und seinen Lieblingskuchen gebacken. Es ist Freitag und er freut sich auf sein freies Wochenende. „Gehst du heute Tennisspielen?“, frage ich und weiß doch schon die Antwort. Wie jeden Freitagnachmittag wird er sich mit seinen Tennisfreunden und Tennisfreundinnen treffen. Eine Welt, zu der ich nie einen Zugang hatte, weil er mich daran nicht teilhaben ließ. Mit meiner Eifersucht musste ich immer allein zurechtkommen.

      Er legt sich auf sein Sofa, um einen kleinen Nachmittagsschlaf zu halten. Danach wird er für viele Stunden ausgehen — Tennis spielen, über Tennis reden, essen, trinken und Spaß haben. Der sprachlose Zustand, in den wir uns seit dem Bekanntwerden meiner Krankheit selbst versetzt haben, entsetzt mich. Als wäre ich nicht mehr ich, als hätte er Angst vor mir. Früher mied man die Krebskranken, weil man an Ansteckung glaubte; noch früher sah man in der Krankheit wahrscheinlich eine Strafe Gottes für die Sünden, die man begangen hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob davon nicht doch noch etwas übrig geblieben ist.

      Früher war ich überzeugt, unter Liebenden gäbe es keine Schranken. Das stimmt bei uns schon lange nicht mehr, wenn es überhaupt jemals so war. Aber warum auch sollte ich ihm den Tag verderben, über meine Ängste und Schmerzen klagen, über meine Verzweiflung reden? Ich bleibe jetzt am liebsten allein. So kann ich ungestört meinen Gedanken und Erinnerungen