Elisabeth Uhlemann

Ledige Kinder


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       Susanne 2009

      Das Hin- und Herschreiben genügte uns bald nicht mehr. Wir wollten uns endlich wiedersehen. Es war nicht einfach, für alle Beteiligten einen passenden Termin zu finden. Schließlich — mit einigen Hindernissen — fanden wir einen, der auch Matthias passte, denn er wollte mitkommen.

      Ungeduldig erwartete ich den Mittwoch, an dem wir uns auf halber Strecke treffen wollten. In diesem verregneten August gelang es uns, einen der wenigen Sonnentage zu erwischen. Ich stöberte in meinem Kleiderschrank und konnte mich nicht entscheiden, fand nichts zum Anziehen. Selbst die kürzlich erworbenen Sommerkleider gefielen mir nicht mehr. Ich wollte unbedingt gut aussehen, auf meinen Freund einen guten Eindruck machen und fand nichts, worin ich mich jung und schön fühlte.

      Auf dem Schiff erfasste mich heftige Unruhe, vor Matthias versuchte ich jedoch Gelassenheit zu demonstrieren. Die Fahrt über den See zog sich hin, mir ging alles zu langsam. Weithin konnte man das schweizer Ufer überschauen. In der Nähe des Bahnhofs, neben dem Hafen, sah ich einen wartenden Mann am Geländer vor den Bahngleisen stehen. Wir waren aber am Fährhafen verabredet, daher beachtete ich ihn nicht weiter. Unverkennbar befanden wir uns noch in der Urlaubszeit, überall sah man Touristen. Das Gewühl ankommender und wartender Passagiere löste sich allmählich auf. Von meinem Freund war nichts zu sehen.

      Schon musste ich gegen die aufkeimende Enttäuschung ankämpfen. Er hatte vielleicht im letzten Moment die Lust an einem Wiedersehen verloren, es sich anders überlegt. Wie ängstlich fieberte ich in diesem Augenblick einem Menschen entgegen, der mir möglicherweise einen Spiegel vorhielt, in dem ich mir nicht gefallen würde? Vielleicht interessierte er sich ja gar nicht mehr für mich? Vielleicht war er verärgert, dass ich Matthias mitgebracht hatte? Absurde Fragen gingen mir durch den Kopf, ich war zunehmend irritiert. Matthias neigte hingegen in solchen Momenten nicht zur voreiligen Aufgabe. Wir gingen umher, möglicherweise war ja sein Zug noch nicht angekommen, hatte Verspätung?

      Auf dem kurzen Weg zum Bahnhof schlenderte uns der Mann entgegen, den ich vom Schiff aus am Gleisgeländer hatte stehen sehen. Also doch! Wollte er sich klammheimlich aus dem Staub machen, sich in den nächsten wartenden Zug setzen und zurück nach Zürich fahren, hätte er uns für unsympathisch oder unattraktiv gehalten? Schlank und gut aussehend war er, aber mit dem vierzehnjährigen Jungen, an den ich mich dank der Fotos erinnern konnte, bestand nicht mehr viel Ähnlichkeit. Sein schon ein wenig schütteres Haar war noch beinahe schwarz, seine Gesichtszüge männlich, markant und interessant. Wir beteuerten uns, wie gut wir aussähen. Doch ich war auch erschrocken — fünfundvierzig Jahre trennten uns von unseren Kindergesichtern. Ihm wird es ebenso ergangen sein.

      Ralph gab sich offen und zugewandt, was mich meine Gehemmtheit rasch überwinden ließ. Zwischen uns entwickelten sich bald Nähe und Vertrautheit. Matthias hielt sich wohltuend zurück. Er ließ uns reden und wir verfielen in unseren Heimatdialekt, den er sowieso kaum verstehen konnte. An diesem schönen Tag, an dem die wenigen weißen Wolken dekorativ am spätsommerlich blauen Himmel dahinzogen, schlenderten wir auf der Suche nach einem Restaurant langsam an der Uferpromenade entlang zur Stadtmitte, bereits vertieft in gemeinsame Erinnerungen. Ralph überraschte mit einem alten Fotoalbum seiner Mutter, in dem wir in aller Ausführlichkeit die vielen kleinen Schwarz-Weiß-Fotos, wie man sie in unserer Kindheit kannte, betrachteten. Es berührte mich sehr das kleine Mädchen, das ich war, in drolligen Posen auf den gestellten Bildern zu sehen. Viele der Fotos sah ich zum ersten Mal. Tante Ruth war damals schon im Besitz eines Fotoapparates. Ein Luxus, den sich meine Mutter nie geleistet hätte.

      Gelöst und unbeschwert ließ ich mich fallen in die harmonische Atmosphäre. Ich fühlte mich vertraut und nahe dem wiedergefundenen Freund. Zwischen den beiden Männern schien sich auch keine Spannung aufzubauen. Damit hatte ich nicht wie selbstverständlich rechnen können, denn Matthias kann erstaunlich eifersüchtig reagieren. Vielleicht blieb das aus, weil Ralph freimütig von seiner Homosexualität sprach, uns von seinen langjährigen Lebenspartnern erzählte und damit als potenzieller Rivale nicht infrage kam. Ich versuchte, den Abschied möglichst lange hinauszuschieben. Als er nicht mehr zu verhindern war, weil unser Schiff bereits angelegt hatte, überfielen mich Traurigkeit und Wehmut. Wir versprachen uns baldiges Wiedersehen. Lange noch stand ich in der Abendsonne an der Reling des Fährschiffs und er blieb auf dem Hafengelände zurück. Mir war, als hätte ich einen verlorenen Bruder wiedergefunden. Ein Mensch, der sich an meine Mutter als junge, elegante und attraktive Frau, als eine ‚schwäbische Joan Crawford’ erinnerte, der auch ihre dunklen Seiten gesehen und miterlebt hatte, tauchte plötzlich in meinem Leben auf und löste in mir heftige Unruhe aus. Ein Zeuge aus Kindertagen, der mir bestätigte, was ich mich kaum zu erinnern traute, der meine Großeltern gekannt, der dieselbe Luft in einer schwäbischen Kleinstadt der Nachkriegsjahre geatmet, dieselben Spielräume mit mir geteilt hatte und die gleichen Wege gegangen war. Zutiefst aufgewühlt von dieser Begegnung wurde ich in der Folgezeit überflutet von Erinnerungen.

       Susanne 1950

      Schon wieder bin ich erkältet und ein schrecklicher Husten quält mich. Oma lässt sich endlich erweichen und holt mich aus dem Schlafzimmer und bereitet mir ein Bett in der Stube auf dem Sofa. Jetzt bin ich nicht mehr so allein. Sie kocht den grässlichen Zwiebelhustensaft, dessen süßlicher Geruch mir unangenehm ist. Quarkwickel hat sie mir schon gemacht, jetzt kommen die kochend heißen Kartoffeln dran, die sie mir in einem Säckchen auf die Brust legt. Tagsüber darf ich wenigstens spielen, meine Liesel anziehen, sie in den Puppenwagen legen und mit ihr im Wohnzimmer spazieren gehen. Das Feuer im Ofen prasselt und es ist schön warm. Am Fenster blühen die Eisblumen, sie sind wunderschön. Ich schaue den tanzenden Schneeflocken zu und singe: Schneeflöckchen Weißröckchen, da kommst du geschneit … Die anderen Kinder toben draußen herum und bauen Schneemänner. Reinhold und Manfred werfen Schneebälle nach den Mädchen. Ich langweile mich, aber Oma lässt sich nicht erweichen. Wenn man krank ist, muss man zu Hause bleiben.

      Nachts ist der Husten am schlimmsten. Warme Milch mit Honig mag ich gern, das lindert auch den Schmerz in der Brust. „Wegen dir kann ich keine Nacht mehr schlafen“, zischt Mama wütend, nachdem sie sich ächzend und stöhnend im Bett herumgewälzt und die Decke über den Kopf gezogen hat. Schließlich steht sie doch auf, geht in die eiskalte Küche und macht Milch heiß. Damit ist ihre Geduld mit mir aber restlos aufgebraucht — sie braucht doch ihren Schlaf so dringend.

      Ich bin natürlich selbst schuld, weil ich so lange draußen mit den anderen Kindern im Schnee herumgetollt habe. Weil ich so geschwitzt habe, warf ich meine Mütze und die Handschuhe in den Schnee und zog die Jacke aus. Dabei habe ich nicht gemerkt, wie ich mich erkältet habe, mir war so heiß und meine Haare waren schon klatschnass. Oma sagt dann immer: „Das Kind hat halt meine schwache Brust geerbt“, aber Mama wird böse und sagt, ich sei selber schuld.

       Susanne 2009

      Auf meine Mutter ließ ich nichts kommen, ich liebte sie abgöttisch. Niemand sollte schlecht über sie reden oder denken. Alle in der Familie aber zogen über sie her, beschimpften sie, kaum, dass sie außer Sichtweite war. Tante Maria, Tante Hildegard und Onkel Alfons — das schwarze Schaf der Familie. Zu mir waren alle nett und mochten mich gern, Onkel Alfons sogar so gern, dass er mich an Stellen meines Körpers anfasste, die man als Onkel normalerweise nicht berührt. Ich fand das in erster Linie merkwürdig. Nachdem ich es eine Weile zugelassen hatte, weil ich es auch aufregend fand, brachte ich ihn dazu aufzuhören, denn ich wusste genau, dass man das nicht darf. Meine Mutter wäre außer sich gewesen, hätte sie davon erfahren. Ich weiß gar nicht, was sie mit ihm angestellt hätte. Das wollte ich nicht, denn schließlich war er es, dem ich so wichtige Fragen stellen konnte wie die, ob ich später einmal eine schöne Frau werden würde. Die Kinder auf der Straße beschimpften mich wegen meiner Schlitzaugen als ‚der Chinese’. Er beruhigte mich und prophezeite mir, dass sich meine Augen durch das Wachsen des Gesichtes zu normaler Größe entwickeln