der fünfzehnjährigen Susanne, in deren Tagebuch ich lese: Lieber Gott, bitte hilf mir, dass ich nicht immer so wütend werde. Ich will das nicht, das weißt du, aber wenn sie mich so ärgert, könnte ich sie umbringen. Sie ist so gemein zu mir. Immer dreht sich alles nur noch um Martina, um Herbert und Martina, aber ich bin doch auch noch da. Helfe ich ihr denn nicht schon genug? Ihr reicht es nie, sie ist nie mit mir zufrieden. Oft möchte ich nur noch schreien, laut schreien, dass alle mich hören. Lieber Gott, ich will sie ja lieben und nicht immer so böse Gedanken gegen sie haben. Bitte hilf mir dabei, sie ist doch meine Mutter. Du sagst, man muss Vater und Mutter ehren und lieben, auf dass es mir wohlergehe. Ja, das will ich auch, aber sie macht es mir oft so schwer.
Ich betrachte die Fotos der letzten dreißig Jahren mit Matthias. Die vielen Bilder von unseren Urlaubsreisen, deren Qualität durch unsere lächerlichen Streitereien oft dermaßen gelitten hat, dass ich mir danach vornahm, keinen gemeinsamen Urlaub mehr mit ihm zu verbringen. Mit den Jahren nahm die Anzahl der Fotografien ab. Da ich mich mit seinen Augen sah, gefiel ich mir auf den Fotos immer weniger. Mit den Jahren passten sie nicht mehr zu dem inneren Bild, das ich von mir hatte und das in der Entwicklung nachhinkte. Matthias ging es ebenso, er fühlte sich gar von mir betrogen, weil ich mich veränderte. Weil ich das Versprechen nicht halten konnte, das ich ihm nie gegeben hatte, die junge, attraktive Frau zu bleiben, die er vor über dreißig Jahren kennengelernt hatte. Ich glaube, das nimmt er mir bis heute übel.
Es ist spät in der Nacht, als Matthias nach Hause kommt. Wie immer habe ich schnell das Licht gelöscht und mich schlafend gestellt — er soll nicht das Gefühl bekommen, sich rechtfertigen zu müssen. Da wir seit einigen Jahren in getrennten Zimmern schlafen, ist alles viel einfacher geworden. Ich bin allein mit meiner Wut, Enttäuschung und Eifersucht, der steten verhassten Begleiterin in meinem Leben. Mein Misstrauen ist chronisch und unheilbar, gespeist aus der Angst, verlassen oder ausgetauscht zu werden. Am liebsten möchte ich mit der kleinen Susanne betteln: Lieber Gott, bitte, bitte hilf mir …
Zu allem Übel habe ich mir noch eine Erkältung zugezogen, ein Zustand, den Matthias als Bedrohung empfindet, wegen der Ansteckungsgefahr. Durch die erfolglose Behandlung meiner Krebserkrankung ist meine Immunabwehr noch erbärmlicher, als sie es früher schon immer gewesen ist, und jeder Luftzug erzeugt jetzt Halsschmerzen.
Schlaflos, einsam und verlassen, wie ich mich fühle, denke ich an Krankheitstage in meiner Kindheit. Diese Erinnerungen sind unlösbar verbunden mit Oma. In ihrer Zeit musste sie ihre Kinder großziehen — ohne den raschen Gang zum Arzt oder Apotheker; ohne die fiebersenkenden Zäpfchen und den Antibiotikasaft und andere, zum Teil fragwürdige Mittel. Kinder konnten sterben … an Diphterie, Scharlach und sogar an den Masern. Es lag auch am Einsatz der Erwachsenen, ob das kranke Kind eine Chance hatte zu überleben. Oma setzte sich für mich ein. Sie machte mir die Brustwickel, die Quark- und Kartoffelsäckchen und als Ultima Ratio: Senfwickel gegen die Bronchitis, die wie ein Höllenfeuer meine zarte Haut verbrannten. Gegen Fieber halfen Wadenwickel. Sie kochte mir den ungenießbaren Zwiebelhustensaft und andere, widerlich schmeckende, aber heilsame Arzneien. Sie bettete mich auf das Sofa in der Wohnstube, damit ich nicht so allein war. Liebe Oma, dafür hast du dir einen Platz im Himmel verdient — abgesehen von den vielen anderen Gründen. Außerdem sind die vielen Gegrüßet seist du, Maria gar nicht zu zählen, die du im Lauf deiner dreiundachtzig Lebensjahre als Stoßgebete zum Himmel hinaufgeschickt hast. Die können nicht alle unerhört geblieben sein. Mich zu lieben und anzunehmen, war ihr in meinen ersten Lebensjahren nicht möglich. Zu sehr war sie gekränkt durch die Schande, die meine Mutter über die Familie gebracht hatte. Mit der Zeit wurde sie milder und ihr Mitleid mit mir stärker, denn es war offensichtlich, dass ich von meiner Mutter nicht immer gut behandelt wurde.
Unerträglich lange zogen sich die Krankheitstage hin und auch Oma konnte sie mir kaum verkürzen. Das hätte meine Mutter gekonnt, wäre sie da gewesen. Das war sie aber meist nicht, denn sie musste arbeiten, und wenn nicht, beschäftigten sie viele andere Dinge, die wichtiger, sehr viel wichtiger waren als ich. So wartete ich auf sie, meine ganze Kindheit über wartete ich auf Mama. Voller Ungeduld, erregt auf dem kleinen Fußschemel hin und her trippelnd, sah ich zum Fenster hinaus, hinauf zum Waldeck und versuchte, allein durch mein Wollen, die geliebte Gestalt herbeizuzwingen. Wenn sie dann in ihrem flatternden Sommerrock oder im Winter mit dem roten Wollmantel um die Ecke kam, steigerte sich meine Vorfreude auf ihr Kommen zur Hysterie. Oma sagte dann: Kind, du wartest auf deine Mutter, und wenn sie dann endlich kommt, schimpft sie dich ja doch bloß aus. Das ist wohl wahr, liebe Oma, und doch habe ich dich für solche Sätze gehasst.
Paulina Agathe war eine schwermütige Frau und litt unter ihrem Leben, dem Schicksal und ihrer Familie, solange ich sie kannte. In diese leidvolle Welt schloss sie mich ein. „Kind, wenn wir zwei nur schon im Himmel wären“, hörte ich sie oft klagen, dabei konnte ich mir unter dem Himmel gar nichts vorstellen. Oma hatte jedoch auch andere Seiten. In Fragen der Moral war sie unerbittlich, die Autorität der katholischen Kirche absolut. Oft hatten sie Streit, meine Mutter und sie. Während die Tochter sich schnell in heillosen Zorn hineinsteigerte und in der Erregung dann schrie, sagte Oma ihre bösen Sätze spitz und leise. Nie erhob sie die Stimme, während ein zynisches Lächeln ihre schmalen Lippen auseinanderzog. An ihrem Sarkasmus konnte man abprallen, wie an einer gläsernen Wand.
Für mich war sie der verlässliche Hafen, den ich immer anlaufen konnte. Nachdem es einiger Zeit bedurft hatte, mich als Enkeltochter anzunehmen, war sie für mich da. Ich gehörte nicht zu den Schlüsselkindern, die es in der Nachkriegszeit häufig gab. Ich war privilegiert, denn ich wusste immer, wo ich sie finden konnte. Der Radius ihrer Aktivitäten war für mich überschaubar. Begab sie sich außerhalb dieser kleinen Welt, musste ich mitkommen. Ohne sie kann ich mir meine Kindheit nicht vorstellen, denn sie war immer da. Paulina Agathe … was für ein schöner Name für eine Großmutter, die immer schon alt war. Bei meiner Geburt war sie in meinem Alter und fühlte sich vom Leben misshandelt. „Kind, wenn wir zwei nur schon im Himmel wären.“ Ja, Oma, von dir habe ich gelernt, dass das Leben ein Jammertal ist, dem ich jetzt entfliehen werde. Ich hoffe, du hattest recht und wartest da oben auf mich.
Meine Großmutter fühlte sich ihr ganzes Leben lang als Opfer: Opfer der zwei Weltkriege, der Geldentwertung, der Heirat mit dem falschen Mann, dem Verlust von Sohn und Schwiegersohn — gefallen im Zweiten Weltkrieg. Sie kümmerte sich um deren Frauen und Kinder, die bei ihr ein- und ausgingen. Die jüngste Katastrophe hatte meine Mutter mit meinem Erscheinen über die Familie gebracht. All das konnte Paulina Agathe kaum mehr ertragen. Ihr ausgemergelter Körper, bei dem die papierdünne Haut sich über das beinahe sichtbare Skelett spannte, wollte kein Gewicht zulegen. Da half auch die zusätzliche Butterration nichts, die als Fettaugen in ihrem Malzkaffee schwamm. Ihr chronischer Husten mit dem ekelerregenden Auswurf zehrte all ihre Energie auf.
Geboren 1887 in einem kleinen Dorf auf der Baar, dieser imposanten Hochebene zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, verlor Paulina Agathe im Alter von acht Jahren ihre Mutter. Als einziges Mädchen musste sie den schwermütig gewordenen Vater, der nicht über den Tod seiner Frau hinwegkam, und den drei Brüdern den Haushalt führen. Nebenher besuchte sie die Schule, die ihr wichtig war. Eine lieblose Tante brachte ihr das Nötigste bei und unterstützte sie notdürftig. Mein Urgroßvater, der sich immer mehr in seine Melancholie flüchtete, vernachlässigte zunehmend seine Arbeit und schrieb Heimatgedichte. Als Kind war ich auf einem Schulausflug sehr stolz, meinem Lehrer und den Mitschülern auf dem annähernd tausend Meter hohen Lupfen ein Gedicht meines Urgroßvaters vorzulesen, das in die Holzwand des alten Gipfelturms eingeschnitzt war. Er hatte seiner Tochter eine großzügige Aussteuer versprochen, wenn sie einmal heiraten werde. Wichtig waren zunächst die Söhne, sie mussten eine Existenz aufbauen. Zu der Aussteuer kam es nicht, das Geld wurde entwertet, und sie ging leer aus. Der Mann, den sie sich erwählt hatte, brachte ihr auch keinen Wohlstand. Er war ein einfacher Transportarbeiter, ehrlich, fleißig und kinderlieb, jedoch nicht so ehrgeizig, wie sie ihn gerne gesehen hätte. Der Erste Weltkrieg erschütterte ihr Leben, sie blieb mit zwei kleinen Kindern — Karl und Maria — allein, während ihr Mann in den Krieg an die Westfront ziehen musste. Stets musste sie das Schlimmste befürchten, doch er hatte Glück, wurde bald leicht verwundet und als Zwangsarbeiter auf einem Bauernhof verpflichtet. Wohlgenährt und mit einigen Kenntnissen der französischen Sprache kam er nach Kriegsende nach Hause.