Elisabeth Uhlemann

Ledige Kinder


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und schwieg. Ihr Lieblingsbruder, mein Großonkel Albert, kam als schwerkranker Mann aus diesem schrecklichen Krieg zurück. Wenn ich Oma manchmal begleiten durfte, wenn sie ihre Verwandtschaft besuchte, fürchtete ich mich vor ihm, denn er schien mir unberechenbar. Einmal war er freundlich und zugewandt, das nächste Mal versteckte er sich auf dem Heuboden und schrie herunter: „Warum nur hast du das Kind mitgebracht, bring es weg!“ Oft weinte er. Manchmal schrie er auch herum und war dann richtig böse. Tante Marie, seine schöne Frau, verwöhnte mich umso mehr mit Kuchen und Süßigkeiten. Sie erklärte das Verhalten ihres Mannes mit seinen schrecklichen Kriegserfahrungen. Der ältere Bruder, Onkel Adolf, hatte den elterlichen Hof geerbt und war ein wohlhabender Mann. Bei ihm gab es Säue und Kühe, Hühner und Enten und den unvergleichlichen Geruch, den ein Stall mit angrenzendem Misthaufen verströmt. Ich fühlte mich wohl, der Tiere wegen. Von meinem Großvater wusste ich aber, dass die ‚reiche Verwandtschaft’ seiner Familie während der Hungerszeit nicht mit Nahrungsmitteln ausgeholfen hatte, obwohl es ‚denen’ leicht möglich gewesen wäre. Deshalb begleitete er seine Frau nie, wenn sie ihren Heimatort besuchte — er wollte von einer solchen Verwandtschaft nichts mehr wissen. Also begegnete auch ich Onkel Adolf mit großen Vorbehalten. Dennoch gehörte es zu den besonderen Ereignissen meines Kinderlebens, wenn ich Oma begleiten und mit dem großen Postauto die weite Reise unternehmen durfte.

      Im Gegensatz zu unserer vom Jugendwahn befallenen Gesellschaft wollte Oma nicht jung sein. „Schmieren und salben hilft allenthalben“, spottete sie angesichts der Verwendung der aufkommenden Kosmetika. Nivea-Creme galt ihr schon als ungebührlicher Luxus. Sie hütete sich vor den Strahlen der Sonne, denn das mache alt und hässlich, was man an den armen Bauersfrauen ja sehen könne. In gewisser Weise war sie jedoch unglaublich eitel: Eines nachts wachten meine Mutter und ich gleichzeitig auf und meinten, prasselnden Regen zu hören. Da schrillte ihre Stimme bereits voller Panik: „Das ist kein Regen“, während sie aus dem Bett sprang und die schweren Vorhänge zurückzog. Entsetzt sah ich von der Veranda der Nachbarn lodernde Flammen am hölzernen Rahmen unseres Fensters emporzüngeln. Sofort begann sie laut zum Fenster hinaus zu schreien: „Feurio, feurio!“ So peinlich ich das auch fand, es funktionierte, denn irgendjemand verständigte die Feuerwehr. Wir stürmten in das Schlafzimmer der Großeltern. Opa zog sich ruhig an und Oma saß auf der Bettkante, unschlüssig, was sie denn nun anziehen sollte. Das Nachbarhaus, nur durch eine dünne Holzwand von dem unseren getrennt, brannte lichterloh, zu uns schlugen die Flammen durchs Fenster hinein und Oma überlegte, was sie anziehen sollte! Die Feuerwehrleute machten ihrer Unschlüssigkeit ein Ende und evakuierte uns. Ich stand mitten in der Nacht im Nachthemdchen vor dem brennenden Haus auf der Straße. Bei den Nachbarn kam ich unter, Frau Storz bettete mich auf ihr Sofa im Wohnzimmer. In unserem Schlafzimmer konnte man danach wochenlang nicht schlafen, der Gestank nach kaltem Rauch und Feuchtigkeit war unerträglich.

       4

      Manchmal telefoniere ich, wenn Matthias mich allein lässt, mit meinem Freund. Ralph treffe ich nicht immer in guter Laune an. Wenn der Tagesumsatz in seinem exklusiven Geschäft zu wünschen übrig lässt ist er verdrossen. Er kennt Existenzangst. Wir können jedoch auch miteinander reden, wenn wir verzagt und unglücklich sind, wenn die Angst uns umtreibt. Mit ihm spreche ich auch über meine Krankheit und die gemeine Angst, die mich gelegentlich überfällt. Er hält das aus, wiegelt nicht ab, spendet keinen billigen Trost.

      An einem heißen Mittwochvormittag im Juni 2006, Matthias und ich waren gerade von einem kurzen Urlaub am Gardasee zurückgekommen, rief er an — Ralph, einfach so, nach fünfundvierzig Jahren. Bereits am Vormittag brannte die Sonne gnadenlos von einem strahlend blauen Himmel herab und machte die Gartenarbeit beschwerlich. Ich war wütend und zornig, weil unser Urlaub alles andere als harmonisch gewesen war. Trotz des schönen Wetters und dem vorzüglichen Hotel, in dem wir logiert hatten, war es uns nicht gut gegangen. Ich hatte Matthias als übellaunig und gereizt erlebt. Seine schlechte Laune hatte sich wie eine Decke aus Ruß und Staub bereits über die Fahrt gelegt. Dass während der schnellen Fahrt das Display seines Autos plötzlich piepte und rot blinkende Signale von sich gab, machte die Situation nicht besser. Aus seiner Sicht war natürlich ich Verursacherin der gereizten Atmosphäre gewesen. Ich hatte mich über dies und jenes beschwert und das sei ‚zickig und nervig’, meinte er. Außerdem begleitet uns schon seit Jahren sein Ärger über meinen in die Jahre gekommenen, fülliger gewordenen Körper, der ihm nicht mehr gefällt, in jeden Urlaub.

      Die ‚Badeanzugaffäre’, wie ich diese Beziehungskatastrophe seit einiger Zeit schon nannte, hatte wieder ihren Lauf genommen. Deshalb bevorzuge ich inzwischen die kühlen Jahreszeiten, in denen man sich auch bei nicht perfekter Figur ansehnlich präsentieren kann. Ich ließ also meinen Ärger am üppig gewachsenen Unkraut aus, das den Garten in der kurzen Zeit unserer Abwesenheit in einen kleinen Dschungel verwandelt hatte. Das Unkraut wie das Übel mit der Wurzel herauszureißen, linderte meinen Zorn ein wenig. Mit klebrigen Haarsträhnen im Gesicht, schweißnass und mit Erde beschmutzt, nahm ich das Telefon entgegen, das Matthias mir mit einem Schulterzucken reichte, da er mit dem genannten Namen nichts anzufangen wusste. Wie elektrisiert übernahm ich das Telefon, denn schlagartig wusste ich, um wen es sich handelte. Es hätte nicht seiner umständlichen Erklärungsversuche bedurft, als könnte er sich nicht vorstellen, dass man sich an ihn erinnern kann. Ralph, der Gefährte meiner Kindheit. ’Freund‚ hätte ich ihn früher nicht genannt, das wäre zu weit gegangen. Im Lauf der Jahre hatte ich immer wieder an ihn gedacht. Er lebte in der Schweiz, das wusste ich, stellte ihn mir erfolgreich und wohlhabend vor, mit Frau und Kindern. Nun erschien er mir wie ein Bote aus fernen Zeiten, als Zeuge meiner Vergangenheit. Wir sprachen länger als eine Stunde miteinander und tauschten uns aus über unsere Lebenssituation und die Wege, die uns dahin geführt hatten. Sofort spürte ich eine große Nähe. Beide wollten wir uns treffen, uns wiedersehen und unsere Kindheit wiederfinden. Er verblüffte mich mit seinen vielen Erinnerungen, denen ich wenig entgegenzusetzen wusste — ich hatte so vieles vergessen. Auch konnte ich ihn mir nicht vorstellen. Kein Gesicht tauchte in meinem Kopf auf, das zu ihm gepasst hätte. Seine sonore Stimme weckte keine Assoziationen in mir. Da meine Mutter an einer Demenz leidet, ängstigte mich dieses Vakuum in meinem Kopf. Seine Mutter war vor einiger Zeit verstorben, und er hatte sich an meine gewandt, um Informationen über die gemeinsame Zeit zu bekommen, denn unsere Mütter waren einmal Freundinnen gewesen.

      Drei Tage später hielt ich einen Brief aus der Schweiz in meinen Händen. Mir fielen ein paar alte Fotografien entgegen, die mir völlig unbekannt vorkamen. Ich erkannte meine Mutter und mich als kleines Mädchen im Schwimmbad — eng aneinandergeschmiegt, die Haare wohl von ihr selbst als ‚Bubikopf’ kurz geschnitten, ein breites Grinsen im runden Gesicht. Meine Mutter, schlank und gut aussehend, kokettiert mit der Kamera. Ein anderes Foto zeigt uns auf dem Schlitten sitzend auf einem tief verschneiten Waldweg. Ich war schon älter und sie trug ihren Pelzmantel — Waschbär, teuer, ratenbezahlt und Skandalon in der Familie. Er verleiht ihr die Statur eines Braunbären. Beide tragen wir kleine Kopftücher, unter dem Kinn zusammengebunden … entsprach das einmal der Mode? Ein anderes Foto zeigt mich mit Ralph. Wir sind ungefähr sechs Jahre alt, gleichgroß und könnten Geschwister sein, so wie ich ihm den Arm um die Schulter lege. Ich erinnere mich aber, dass auf diesen Spaziergängen, die mir oft zu lang und langweilig waren, unsere Mütter uns aufforderten Arm in Arm wie ein Ehepaar, oder eben umarmt, zu gehen. Darüber amüsierten sie sich. Wir nicht.

      Tagelang brütete ich über diesen Fotos und dem freundlichen Brief, aus dem hervorging, wie sehr Ralph an einer Beziehung zu mir interessiert war. Er kündigte noch mehr Fotografien an und machte mich neugierig.

      Neu und aufregend, mitunter auch bedrohlich zeigten sich die Erinnerungen, die sich durch die Begegnung mit Ralph Zugang zu meinem Bewusstsein erzwangen. An manchen Tagen schien ein innerer Staudamm zu brechen und Erinnerungsströme bahnten sich gefährlich und wild ihren Weg. Gleichzeitig fühlte ich mich lebendig, wie lange nicht mehr, herausgerissen aus meinem bis dahin gemächlich dahintrottenden Alltagsleben. „Die Klaibertheres“, lachte er am Telefon und meinte meine Mutter, deren Eigenarten er beschrieb. Eigenschaften, unter denen ich mein ganzes Leben lang, ja bis heute zu leiden habe. Zeit meines Lebens kannte ich kein annähernd so bedeutsames Thema, wie das der Beziehung zwischen meiner Mutter und mir — es ließ mich