Elisabeth Uhlemann

Ledige Kinder


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hinterlassen … man war jedenfalls nicht zimperlich in unserer Familie. Auch meine Mutter neigte zur Grausamkeit. Ein Lieblingsspiel an langen, verregneten Sonntagnachmittagen, wenn man nicht aus dem Haus gehen konnte, war, Gedichte zu rezitieren. Vor einem ihrer Lieblingsgedichte fürchtete ich mich am meisten:

       Wehe wenn sie losgelassen

       Wachsend ohne Widerstand.

       Durch die volkbelebten Gassen

       Wälzt der ungeheure Brand!

       Denn die Elemente hassen

       Das Gebild der Menschenhand.

      

      Sie deklamierte das wie ein überkandidelter Schauspieler. Ihre Augen formten sich zu Kugeln, die herauszufallen drohten, das Schwarz ihrer Pupillen stand in erschreckendem Kontrast zum umgebenden Weiß des Augapfels, die Stimme war furchterregend. Ich schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, meine Grenzen waren weit überschritten, Angst trug den Sieg über die Lust davon. Weinend flehte ich um Gnade, aber es war Teil des Spiels, sie wurde nicht gewährt. Wenn die Angst übermächtig wurde und ich zu schluchzen begann, kippte das Spiel. “Schokolade, hier gibt es Schokolade“, hörte ich nach einiger Zeit in mein Ohr wispern, konnte mich aber nicht durchringen, sie so günstig davonkommen zu lassen. Ein wenig büßen musste sie schon. Also weinte ich lauter, um auf die seelische Grausamkeit aufmerksam zu machen, die mir widerfahren war. Allerdings durfte ich nicht übertreiben, denn ihre Wiedergutmachungsversuche konnten sich schnell in Ungeduld und Ärger verwandeln. Bestrafung meinerseits kam nicht infrage. Meine Macht, nötigenfalls unterstützt von der absoluten Autorität meines Großvaters, wurde gebrochen durch ihre Möglichkeiten, wie beispielsweise mich in die Drogerie zu schicken um Ibidum zu kaufen. Für mich war das Lateinisch, andere hörten: Ich bin dumm. Das Gelächter der Drogistinnen klingt mir heute noch im Ohr.

       Da werden Weiber zu Hyänen

       Und treiben mit Entsetzen Scherz,

       Noch zuckend mit des Panthers Zähnen,

       Zerreißen sie des Feindes Herz.

      O ja, sie beherrschte die gesamte ‚Glocke’.

       Susanne 1954

      Ich sehne mich danach, mit Mama zusammen zu sein, am liebsten mit ihr allein. Aber ich muss sie oft teilen — mit Kolleginnen und Freundinnen, die wir besuchen. Oder mit Tante Ruth, mit der wir häufig gemeinsame Spaziergänge und anderes unternehmen. Ich mag sie nicht, weil sie mit meiner Mama Geheimnisse teilt und sie mir wegnimmt. Sonntags gehen wir immer noch zu ihr nach Hause zum Kaffeetrinken. Mir kommt es so vor, als drängten wir uns auf. Ich glaube, dass die Einladung nur aus Höflichkeit ausgesprochen wird. Wenn mich dieses unangenehme Gefühl überkommt, zupfe ich heimlich an ihrem Rock, um sie darauf aufmerksam zu machen. Es ist mir so peinlich, aber das mag sie nicht. Unwirsch schüttelt sie mich ab. Oma mag Tante Ruth nicht. Wir dürfen sie nicht mit nach Hause nehmen. Sie sagt, die übe einen schlechten Einfluss auf Mama aus. Außerdem bekomme sie bald das zweite ledige Kind, das zweite schon! Das Spielen mit Ralph ist in Ordnung. Er spielt lieber mit Puppen, als ich. Der Kaufladen, den er zu Weihnachten bekommen hat, ist toll. Ich muss immer einkaufen, dabei will ich lieber die Verkäuferin sein. Alles, was man kaufen kann, gibt es in kleinen Schachteln und Dosen. An Jungensachen hat er wenig Interesse. Seine Oma ist eine liebe Frau und sagt lustige Sachen wie: In der Palz geht der Paar mit der Peip in de Kerk, oder so ähnlich. Sie kommt nämlich aus der Pfalz und ihre Sprache verbreitet eine fröhliche Stimmung. Vor seinem Großvater fürchte ich mich, er hat eine Glatze und ist ziemlich streng. Mama ist gerne bei denen. Sie mag Ralphs Oma lieber als unsere Oma, glaube ich. Außerdem benötigt sie halt Publikum. Ich genüge ihr oft nicht, dabei liebe und bewundere ich sie so. Sie genießt es, einen Kreis von Zuhörern für ihre Witze und Weisheiten um sich zu haben. Ich schaue sie gern an. Von allen Frauen, die ich kenne, ist meine Mama die Schönste. Ihr feines schwarzes Haar ist lockig, aber nur, weil sie sich immer Dauerwellen machen lässt. Wenn sie sich zum Ausgehen fein macht, bekomme ich nicht genug davon, sie zu beobachten, wie sie sich den Finger anfeuchtet und damit ihre schön geschwungenen Augenbrauen glatt streicht. Sie malt ihre Lippen mit dem dunkelroten Lippenstift an und reibt danach Ober-und Unterlippe mehrmals aufeinander, um die Farbe gleichmäßig zu verteilen. Ich mache das auch so — ohne Lippenstift natürlich, dafür bin ich noch zu klein. Wenn sie ausgeht, darf ich ihr zuschauen, wie sie sich anzieht. Ihre schöne Unterwäsche liebe ich sehr, besonders die Spitzenunterröcke. Mama sagt, eine Frau dürfe nie ‚Oben hui und unten pfui’ sein. Tante Maria hingegen meint, eine Frau, die so etwas nötig habe, verfolge bestimmte Absichten. Welche das sein sollen, weiß ich nicht, aber es scheinen keine guten zu sein. Solche Streitereien verwirren mich, denn die Schwestern sind nicht wählerisch mit ihren Worten. Aber natürlich halte ich immer zu meiner Mama, die so viel jünger und schöner ist als Tante Maria. Wir sind eben modern. Aber Tante Maria mag ich auch sehr, weil sie mir immer etwas zum Naschen aus der Stadt mitbringt.

      Als ich noch sehr klein war, versuchte ich, mir ebenfalls die Lippen anzumalen. Im großen Spiegel sah ich, dass ich meinen Mund nicht gut getroffen hatte. Die feuchte Wäsche an der Leine draußen schien mir gut geeignet, die Farbe abzuwischen und es noch mal zu versuchen. Kaum hatte ich mein Gesicht in einem weißen Unterhemd versenkt, stand Mama schon im Zimmer und schrie mich an: „Jetzt muss ich alles noch mal waschen und Lippenstiftfarbe geht besonders schwer raus, die wird aus Läuseblut gemacht!“ Sie war außer sich. Solche Katastrophen passieren mir ständig, dabei will ich doch nur so schön sein wie sie.

      Ihre Augen können leuchten wie zwei Sterne, wenn sie sich nicht ärgern muss, was aber oft der Fall ist. Dann verwandeln sich diese Augen, werden riesengroß und rund. Sie verfolgen mich bis in den Schlaf hinein. Oft kann ich gar nicht einschlafen, weil ich solche Angst habe. Häufig bemerke ich gar nicht, dass sie bereits wütend ist, während ich noch herumalbere. Dabei ist sie schon ganz streng geworden und schimpft mich aus. Dann schreit sie mich mit einer unglaublich lauten Stimme an. Vor der fürchte ich mich am meisten. Das tut so weh, denn oft verstehe ich gar nicht, womit ich sie so verärgert habe. Es scheint mir, als gelänge es mir einfach nicht, ein gutes und liebes Kind zu sein. ‚Gassenengel’ nennt sie mich, weil ich bei anderen Leuten so einen guten Eindruck machen kann und mich zu Hause schlecht benehme, sagt sie. Manchmal bin ich auch ein ‚Aas’ oder gar ein ‚Rabenaas’. Das Schreien ist das Schlimmste. Wenn sie schreit, flüchte ich mich in die hinterste Ecke des Kleiderschranks und halte mir die Ohren zu. Ich kenne niemand, der so schreien kann wie sie, außer Onkel Alfons, aber seine Stimme wird nicht so hoch und schrill.

      Immer wenn Onkel Alfons Oma besuchen kommt, warte ich beinahe schon darauf, dass die Schreierei losgeht. Da fallen Wörter wie ‚Puff’ und ‚Zuchthaus’, und dass einer den anderen dort landen sieht. Oma macht ein leidendes und gequältes Gesicht, aber sie hat keine Angst, denn die beiden streiten sich, glaube ich, eigentlich darum, wen ihre Mutter mehr liebt als den anderen. Onkel Alfons braucht, wenn er uns besuchen kommt, immer Geld, das er nicht hat. Ich glaube gehört zu haben, dass er sich Geld aus seinem Geschäft ausgeliehen hat und es jetzt wieder hinbringen muss, sonst kommt er ins Gefängnis. Das ist zum Glück nicht so schlimm wie Zuchthaus, aber auch nicht gut. Was für eine Schande das nun schon wieder für die Familie wäre! Also gibt Oma ihm das Geld, das sie immer in ihrem Kleiderschrank in einer Schachtel versteckt hat. Sie weint ein bisschen um ihr mühsam Erspartes, murmelt vor sich hin: „Er ist halt doch auch mein Bub.“ Mama macht das nur noch wütender. Tagelang dauert der Streit mit Oma noch an, weil sie so einen ‚Verbrecher’ auch noch unterstützt.

      Zum Glück gibt es Opa. Der arbeitet den ganzen Tag beim Transport-Hotz. Mit einer großen Kutsche, gezogen von zwei schönen, großen Pferden, fährt er in der ganzen Stadt herum und liefert im Sommer Eisblöcke, im Winter Kohle und Briketts. Wenn ich ihn sehe, bin ich unendlich stolz auf ihn. Leider verdient er nicht so viel Geld, wie er sollte. Das liegt daran, dass er seit seiner Lehrlingszeit