Elisabeth Uhlemann

Ledige Kinder


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sie niemals loslassen. Bald war in mir eine unerträglich schmerzhafte Leere, die ich durch nichts füllen konnte, von der ich immer wieder überwältigt wurde.

      Theresia Klaiber — das war meine Mutter, als sie noch nicht in den ersehnten Stand der Ehe eingetreten war. In ihrer Jugend nannten sie alle ‚Klaibertheres’, bis sie sich vehement dagegen wehrte, und auch Ralph sie ‚Tante Theresia’ nennen musste. Seine Mutter musste für mich ‚Tante Ruth’ sein. Ledige Kinder waren wir und das war zu dieser Zeit, kurz nach dem Krieg, eine Schande. Die Familienehre war befleckt.

      Ralph und ich tauschten E-Mails aus. In einer fand ich einen Anhang. Er schrieb:

       Nach dem Tod meiner Mutter lässt mich die Vergangenheit nicht los. Ich würde so gern mehr wissen über die Zeit damals. Obwohl meine Erinnerung noch lebendig ist, droht doch vieles im Nebel des Vergessens unterzugehen. Mir fiel Theresia ein, eine der früheren Freundinnen meiner Mutter. Sie hielt bis zum Tod meiner Großmutter Kontakt zu ihr, besuchte sie auch noch im Pflegeheim. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass sie Oma am Todestag zusammen mit Theresia besucht hatte und diese bei Oma war, als sie starb. Meine Mutter hatte im Flur mit einer Schwester geplaudert. Theresia musste noch viel wissen aus der Zeit meiner Kindheit, dachte ich. Häufig war sie mit ihrer Tochter Susanne bei uns zu Besuch. Die hatte ich ganz und gar aus den Augen verloren. Ihr französischer Vater hatte ihre Mutter ebenso im Stich gelassen, wie mein Vater das mit meiner Mutter getan hatte. Als Kind war sie in Ordnung. Wir hatten Spaß miteinander, wenn unsere Mütter Ausflüge und Spaziergänge mit uns unternahmen. Im Sommer tobten wir durch das Schwimmbad, zogen im Winter die Schlitten unseren Hausberg hinauf, um im Schuss den langen Weg ins Tal hinab zu sausen. Danach kamen Tante Theresia und Susanne meist noch mit zu uns nach Hause, es gab Kaffee und Kuchen. Wie wir wohnten auch sie bei den Großeltern, doch im Gegensatz zu meinen waren ihre Großeltern ungastlich. Ich glaube, sie mochten uns nicht. Jedenfalls gab es dort nie Kaffee und Kuchen wie bei uns.

       Tante Theresia, wie ich sie respektvoll zu nennen hatte, kann jedoch nicht mehr Auskunft geben. Sie lebt jetzt im selben Heim, in dem meine Oma gestorben ist. Ihr Mann klärte mich freundlich auf und gab mir die Telefonnummer von Susanne.

       Die ‚Klaibertheres’, an die ich mich erinnere, war eine hübsche, mittelgroße Frau, wohlproportioniert und schlank. Sie trug ihr fein gewelltes Haar kurz, nach der Mode der Zeit. Ich sehe noch ihre mandelförmigen, schwarzen Augen, eine kleine, ebenmäßige Nase, der Mund schön geschwungen und dezent rot bemalt. Ihre Gesichtszüge erschienen fein, die Haut makellos. Sie wusste, was sie kleidete, legte Wert auf Eleganz, gute Stoffe. Was sie anhatte saß, was sie sagte auch. Wenn sie zu reden begann, hörte sie so schnell nicht mehr auf. Niemand widersprach.

       Vor meiner Mutter war meine Tante Else ihre Freundin gewesen, daher kam sie schon lange vor meiner Geburt regelmäßig zu uns zu Besuch. Vor, nach oder anstatt des sonntäglichen Gottesdienstes saß sie bei uns auf dem Küchenstuhl und sah Oma beim Kochen und Backen zu. Bei sich zu Hause kochte sie die Rezepte nach: Pichelsteiner, Markklößchen oder Frankfurter Kranz. Wenn ihr ein Gericht gelungen war, hielt sie damit nicht hinterm Berg. Ihre Markklößchen-Suppe war dann auch schon mal besser, als die von Oma. Sie konnte nicht aufhören sich zu loben. So war sie, Superlative, immer Superlative. Ein guter Einkauf, eine Begegnung, die Schulnoten von Susanne: alles außergewöhnlich. Es war kaum möglich sich ebenbürtig ins Gespräch einzubringen. Man geriet in die Rolle des Zuhörers und nahm es in Kauf, weil man sie kannte. In allem was sie war, tat und sagte lag Überzeugung. Ihre Wahrnehmung war stark auf sich selbst gerichtet. In der Erregung wurde ihre Stimme schneidend und ihre schwarzen Augen blitzten gefährlich auf. Etwas Finsteres lag dann in ihrem Gesicht. Wenn Suse vermeintlich etwas falsch machte, stieß ihre Mutter dieses ‚Susssanne’ messerscharf aus und klatschte es ihr ins Gesicht, wie eine Ohrfeige. Es ist mir noch im Ohr, wie sie Susanne als ein ‚Aas’ beschimpfte. Sie teilte schnell aus, ohne zu zögern. Für mich war sie wie eine schwäbische Version der Hollywood-Ikone Joan Crawford, der sie auch ein wenig ähnlich sah. Man weiß, dass die ihre Tochter ziemlich schlecht behandelt hatte. Theresia sprach fließend Französisch, sie hatte nach dem Krieg bei den französischen Besatzern gearbeitet und ihre Sprache gelernt. Sie verbrachte auch einige Zeit in Frankreich, da war Susanne schon auf der Welt. Ihr Vater gehörte zu den Besatzern, ein höherer Rang beim Militär, hieß es, doch darüber sprach man nicht.

       Das Dunkle unserer Herkunft bildete das Verbindungsglied zwischen Tante Theresia und meiner Mutter, zwischen Susanne und mir. Nachdem meine Tante Else mit ihrem Mann in die Schweiz gezogen war und als Freundin nicht mehr zur Verfügung gestanden hatte, wurde meine Mutter zu Klaiberthereses engster Vertrauten. Ausgehtag war der Samstagabend: Kino, Tanz, Männer.

      Ich las diesen Text so oft, dass ich ihn beinahe auswendig aufsagen konnte. Bilder fügten sich zu Szenen, die Erinnerung an diese lange vergangene Zeit kam zurück. Ich bewunderte und beneidete Ralph für sein gutes Gedächtnis, denn ja, ich erkannte meine Mutter in seiner Beschreibung. Ihre Unduldsamkeit mir gegenüber, die lockere Hand die Ohrfeigen austeilte hatte schon früh dazu geführt, dass ich Antennen für ihre Launen entwickelte. Denn von ihrer rasch und häufig wechselnden Laune hing ab, was ich mir erlauben konnte, ohne ihren Unmut zu provozieren, was mir oft nicht gelang. Es machte sich jedoch auch ein starkes Unbehagen bemerkbar, sie von einem Außenstehenden dermaßen scharf gezeichnet zu sehen. Einer Frau, die heute noch, selbst in ihrem desolaten Zustand, vehement respektvollen Umgang einfordert. Dieses Bedürfnis schien mir durch seine Äußerungen verletzt worden zu sein. Wie sehr befand ich mich immer noch in ihrem Bann, noch immer traute ich mich nicht, die Realität unserer Beziehung anzuerkennen. In dieser ambivalenten Gefühlslage war ich noch eine ganze Weile gefangen und suchte nach einer passenden Antwort. In meinem Gehirn jedoch schien eine Art Erhellung stattzufinden, denn plötzlich fielen mir immer mehr Einzelheiten aus meiner Kindheit ein, die ich schon längst verpackt, verstaut und damit unschädlich glaubte.

      Während der Sommer seinem Höhepunkt entgegen eilte und ich meinen zauberhaften Garten genießen wollte, erlebte ich in diesem Jahr alles anders. Dieses Stückchen Erde, das Matthias und ich in mühevoller Arbeit nach unseren mediterran geprägten Vorlieben angelegt hatten, erfreute uns in jedem Jahr überreichlich. Die Pfingstrosensträucher trugen schwer an der Last ihrer riesigen, prächtigen, pinkfarbenen Blüten. Bambusstäbe, die in unsrem Bambuswäldchen wuchsen, unterstützten ihren aufrechten Stand. Aus den Yucca-Palmen, die die hölzerne Terrasse umrandeten, sprossen bereits zahlreiche Blütenstände in die Höhe, die sich bald in ein meterhohes weißes Blütenparadies verwandeln würden. Die Düfte von Jasmin, Phlox und Rosen, unterlegt vom Lavendel, der in diesem Jahr besonders üppig blühte, verbanden sich zu einer wunderbaren Symphonie, zarter und eleganter als jedes mir bekannte Parfum. Dies alles rückte in den Hintergrund meiner Wahrnehmung, denn mein Geist schweifte ab und stöberte in der Vergangenheit. Matthias zeigte sich irritiert. Das war verständlich, denn ich war für ihn nicht anwesend. Ich konnte nicht anders, als mich mit meiner Vergangenheit beschäftigen. In meinem Kopf hatte sich alles verselbstständigt, ich war nicht mehr Herrin in meinem eigenen Haus.

       Susanne 1949

      Ein Gitterbett steht im Wohnzimmer meiner Großeltern. Ich kann weder laufen noch sprechen, mich aber an den Gitterstäben hochziehen. Oma geht im Zimmer umher, sie ist beschäftigt. Sie beachtet mich nicht, wie sehr ich auch versuche, mich ihr verständlich zu machen. Niemand schaut mich an, nimmt mich auf den Arm, spielt mit mir. Mama ist nicht da, ich beginne zu weinen.

      Ich kann sprechen und gehen, bin schon mehr als zwei Jahre alt. Meine Mutter bringt mich früh in den katholischen Kindergarten in der Gutenbergstraße. Es ist noch dunkel, als sie mich vor dem verschlossenen Tor abstellt. Sie muss zur Arbeit, es geht nicht anders. Ihre Ermahnung, ja nicht zu weinen, wirkt nicht lange. Ich will ja tapfer sein, aber die Angst vor dem Verlassen sein, der Dunkelheit, die mich umgibt, überwältigt mich schließlich. Endlich erscheint Schwester Hariolfa in der Tür und nimmt mich aus dem Kinderwagen. Ich schluchze noch ein wenig und klammere mich an sie. Mit ihrer großen weißen Flügelhaube und dem schwarzen Habit ist sie der Inbegriff der Sicherheit und Geborgenheit für mich. Sie holt