Nachbarwohnung nicht sehen können. Ich wusste von daheim, wie beliebt es war, Nachbarschaftsbesucher zu inspizieren.
»Wollen Sie zu Lizzy?« hörte ich eine angenehme Stimme, die ich zu kennen glaubte. Vor Lizzys Tür stand ein schmächtiges Mädchen mit großen Kopfhörern auf den Ohren und einer dunklen Brille auf der Nase. Sie lächelte mir zu.
»Sie ist noch in ihrem Fußpflegesalon. Wenn Sie wollen, können sie drinnen warten.«
Ich begriff noch immer nicht, wen ich vor mir hatte, staunte nur über die Worte.
»Ich denke, Lizzy besitzt ein Nagelstudio. « Ich stotterte und fühlte mich wie der letzte Idiot.
»Sagt sie das?«
»Aber hallo!«, entfuhr es mir.
»Auch Füße haben Nägel …« Die Kleine lächelte und ihre Augen blitzten wie funkelnde Steine. Sie hatte die Brille und auch das Monster von Kopfhörer abgenommen und wies nickend zur Tür, die noch immer offen stand.
»Laila?«
Ich hatte sie wirklich nicht erkannt. Sie trug ausgewaschene, hautenge Jeans und einen ebenso engen Pulli, bei dessen Anblick mir der Atem stockte. Ihre langen Haare waren mit einem großen Kneifer locker nach oben gesteckt. Wie eine Krone ragten die Spitzen über den wohlgeformten Kopf. Ihr Alter zu schätzen oder die Herkunft zu erraten, gelang mir auch diesmal nicht. Sie wirkte wie ein großes, kluges Kind, dem vorzeitig ansehnliche Brüste gewachsen waren. Matti Braun folgte dem großen Kind staunend.
Den schmalen Flur trennte ein blauer Vorhang, der in üppigen Falten gerafft, den Blick auf eine blaue Bodenvase frei gab, deren rostrote Sanddornzweige einen trocken-süßlichen Duft verströmten, der mich taumelig machte. Unsere Schritte dämpfte ein Kelim-Teppich, ebenso rostrot wie der Sanddorn. An der Wand hingen zwei Bilder, deren Motive aus naher Distanz nicht zu deuten waren. Zugegeben, ich hatte zum Leidwesen meines Vize-Chefs Tarrach kein Kunstverständnis. Sein Standardspruch: Wer nichts von Kunst versteht, sollte nicht in der Werbung arbeiten, kränkte mich zutiefst. Manchmal wusste ich selbst nicht, was mich in diese Branche verschlagen hatte.
Laila öffnete eine der Türen, die vom Flur abging und war für kurze Zeit verschwunden. Es war die Küche, aus der ein anderer, ein heißer Mandelduft entwich und den Geruch vom Sanddorn in den dunkelsten Schatten der Geruchlosigkeit verbannte.
Kuchen? Sollte es in meiner Generation Frauen geben, die backen können?
»Wer wohnt noch hier?«, rief ich ins Nichts.
»Lizzy«, rief Laila zurück. »Sonst niemand.«
Verlegen lächelnd trat sie wieder in den Flur, über den schmalen Händen filzige Topflappen gestülpt. »Noch mal gut gegangen. Wenn Sie nicht geläutet hätten …«
Sie wies mit der Hand in Richtung Küche und ich wagte einen Blick hinein. Auf dem Herd stand ein dampfender Gugelhupf. Vor Staunen blieb mir der Mund offen stehen, beinahe wäre mir der Sabber aus dem Mund gelaufen, der vor lauter Appetit in Strömen geflossen kam.
Die Küche war blitzblank. Helle, freundliche Farben atmeten Gemütlichkeit. Nichts verriet, dass hier noch vor kurzem gebacken wurde. Ich dachte an meine Oma und irgendwie rührte sich etwas in meiner Brust. In dieser Minute konnte ich nichts anderes glauben, als dass mein Interesse an Laila der Sehnsucht nach meiner geliebten Oma entsprungen war, die ich schon vor einigen Jahren an den Sensenmann abtreten musste. Jeder Verlust tut weh, aber dieser …
Damals brauchte ich einen Ersatz für Omas Streicheleinheiten, den mein unsensibler Vater prompt als anrüchiges Laster bezeichnete.
Wie ich so im Flur stand, kam ich mir unnütz vor, unbeachtet wie selten von Frauen. Ich trat gelangweilt einen Schritt zurück und legte meinen Kopf schräg, um eines der Bilder besser betrachten zu können. Es war kein Bild wie ich Bilder kannte. Es war ein Blick in eine sonderbar verwirrende Welt, die einerseits entschwebte, andererseits ebenso exzentrisch wie sinnlich anmutete und meinen Blick fesselte. Meine Phantasie entdeckte ein erregendes Türchen in herrliche Abgründe, jenseits des Alltags. Diese verschlungenen, spiegelsymmetrischen Farbverläufe muteten wie eine innige Vereinigung an, welche, das blieb der Phantasie überlassen. Die Vorstellung, Laila könnte mir erklären, wie das Bild zu verstehen wäre, belustigte mich ebenso wie der Kampf meiner beiden Hirnhälften.
»Gefällt es Ihnen? «
Sie war lautlos neben mich getreten, schwebend, distanziert. Ihre Haltung ähnelte einer zarten Blume, die sich kerzengerade der Sonne zuwendet. In ihr lag eine sonderbare Mischung aus Verletzlichkeit und Eigenwillen. Das ebenmäßige Gesicht hatte den Ausdruck von Erhabenheit, doch ihre Augen blickten, wie schon an jenem Abend in der Harmonika, scheu, verunsichert, beschämt?
Ich antwortete nicht, tat so, als betörten mich die Farben und Muster. Laila trug den Kuchen zum Tisch vor dem Fenster und winkte mir zu. Hätte sie gewusst, wie ich in Wahrheit mit mir rang, mit meinem Trieb, sie hätte sich nie auf das Gespräch eingelassen. »Was ist das?«, presste ich heraus.
»Mozart«, sagte sie. »Ein Klavierstück. «
Meine lüsternen Gedanken waren vergessen, mein Mutterwitz purzelte sofort auf den rostroten Teppich der Realität. In meiner Verdutztheit musste ich saublöd ausgesehen haben, doch was hatte ich erwartet? Man sagte schließlich, sie sei durchgeknallt. Ungläubig starrte ich auf das Bild und sah in der rechten Ecke: Laila El Sahib 2001. Bei meinem beklagenswerten Verständnis von Kunst stellte das, was ich sah, ein Kunstwerk dar – technisch gesehen – doch es berührte mich eigenartig. Einerseits regte es meine fleischliche Phantasie an, andererseits machte es mich befangen. Der Name in der Ecke stimmte mich zudem traurig. Ich beschloss, einfach zu glauben, dieses Mädchen träumt in ihren Bildern. Sie vergisst auf diesem Wege die wahre Welt. Sie benutzt ihre Phantasie, um glücklich zu sein. Andererseits schien das Bild einer übersensiblen Gefühlswelt zu entspringen. Jeder Maler nimmt sich ein Vorbild, eine Inspiration, oder er hat eine Erleuchtung. Ob das Motiv eine ihrer Wahnvorstellungen widergibt?
»Wollen Sie lieber Kaffee?« Sie schien ganz bei sich, ganz klar. Ihre Stimme klang wie eine konsequente Aufforderung, mich nicht länger bitten zu lassen.
»Ja gerne«, erwiderte ich schnell, ohne bemerkt zu haben, dass sie bereits Tee serviert hatte.
Wir saßen in dieser gemütlichen Küche und warteten auf Lizzy. Die Abendsonne fiel durch das Fenster und zauberte rote Schatten auf Lailas dunkles Haar. Ihr muskatfarbener Teint färbte sich intensiv. Indianer-Rot. Ich rührte in meinem Kaffee herum und begann über den Abend in der «Harmonika» zu reden. Irgendetwas sollte mir den Beweis erbringen, wie viel klare Vernunft in dieser Frau verblieben war. Doch Laila saß da, so jung, so verletzlich, und sie redete in vernünftigen, klaren Sätzen über die arabische Welt nach diesen schrecklichen Ereignissen, und über die Unberechenbarkeit, die jetzt folgen würde. Jedes Wort von ihr drückte eine unbestimmte Vorahnung aus. Wenn mich ihre Blicke trafen, spürte ich eine traurige, machtlose Wut. Laila schien an diesem fernen Flecken der Erde sehr interessiert zu sein und ich glaubte, die Grundfrage über Huhn und Ei herauszuhören, nur sehr viel intelligenter. Sie sprach davon, wie sie sich einst gegen die freie Welt verschworen hätten und nun verschwöre sich die freie Welt gegen sie. Wen Laila auch meinte, sie sprach nur von den Menschen allgemein und von der Menschlichkeit. Alles schien intelligent, ihre Worte, ihre sparsamen Gesten, ihre erhabene Haltung. Schade um so eine, dachte ich. Welches Gen hat ihr wohl einen Defekt vererbt. Welchen? Ob sie in Behandlung ist?
»Sind Sie aus Nahost?«, fragte ich, um Konkretes zu vermeiden. Immerhin hatte ich mich rechtzeitig meiner anerzogenen Höflichkeit gegenüber fremden Personen erinnert.
»Ich bin Deutsche. «
Das hörte sich resolut an, gar nicht unsicher aber auch nicht befreiend. Einmal legte sie beim Nachdenken ihren Finger auf die Lippen, die sich in der Farbe nicht sehr von ihrer Haut unterschieden. Eine Nuance dunkler vielleicht, aber nicht rot, wie bei den meisten Frauen. In dieser einen Sekunde sah ich meine Großmutter leibhaftig vor mir. Wenn ich mich je an etwas aus meiner Kindheit mit innerer Rührung erinnerte, dann war es die Güte meiner Oma Hannah, die mir noch heute viel bedeutete. Wie habe