dem Teflon-Mann. Erwartet sie, dass es mir Leid tut? Nichts bleibt an mir haften. Gar nichts.
»Dass ich ihr nicht widersprochen habe?«
»Dass du so kalt bist.«
Kalt? Wieso kalt? Judith passte eben nicht zu mir.
»Er ist doch nur ehrlich«, wirft Frank ein, bevor ich antworten kann. Ehrlich. Eigentlich bin ich nur unsicher. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll in solchen Situationen, und dann sage ich, wenn überhaupt, immer nur das, was mir als erstes in den Sinn kommt. Dabei wünsche ich mir, ich könnte immer das Richtige tun.
Ich habe stets und überall das Gefühl, meine Rolle nicht ausfüllen zu können, fühle mich immer zu klein für die Fußstapfen, in die ich treten soll. Obwohl meine Eltern aus Bayern nach Niedersachsen gezogen waren, meine Oma in Bayern lebt, meine ganze Familie, spreche ich nicht ein Wort Bayrisch. Ich kann mit den Worten nichts anfangen. Oachkatzlschwoaf – ein Wort wie aus einer anderen Welt.
»Du sprichst kein Bayrisch?«, fragte mich einmal ein Bekannter meiner Großeltern, als wir wieder einmal im tiefsten Oberbayern zu Besuch waren.
»Nein«, sagte ich und wurde rot. So rot wie man nur werden kann, wenn einem die eigene Unzulänglichkeit so direkt unter die Nase gerieben wird.
Ich will aus diesem Leben ausbrechen, so wie mein Vater es getan hat, ich will neu anfangen. Es muss doch eine richtige Seite geben, eine Seite, auf der ich mich richtig verhalte, in der mir die Unsicherheit genommen wird. Eine Seite, auf der ich alles richtig mache.
Maike und Fabian streiten. War ich so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekommen habe, worum es geht? Nach einer Stunde werden die beiden des Streitens müde, hat Frank genug vergebens versucht, zu schlichten, und wir beschließen, Katja und Gregor zu trennen.
Was sie dort gemacht hatten, alleine, in der Dunkelheit, sagt Katja nicht. Aber Frank kann sich die Nachfrage nicht verkneifen, kurz nach Mitternacht, von seinem Bett aus.
»Habt ihr gepoppt?«
»Ich sag dazu nichts.«
»Hast du sie gefingert?«
»Nein«, sagt Gregor in der Dunkelheit. Wie auch, sie hat doch ihre Tage. Zumindest ist er ehrlich. »Und jetzt lass mich in Ruhe.«
Ich bewundere Frank dafür, dass er so frei reden kann.
»Hat sie dir einen geblasen?«
»Sie hat mir nur einen runtergeholt, okay?«
Mein Zwerchfell tanzt. Nur einen runtergeholt. So ein Arschloch. Katja holt ihm einen runter, obwohl er nichts von ihr will, und er tut so, als sei das nicht die geilste Sache der Welt. Er erwähnt es so beiläufig wie jemand, der im Lotto gewinnt und behauptet, er habe eigentlich schon genug Geld, aber ja, die Million nähme er gerne. Wichser. Arme Katja. Blöde Katja. Dumme Nuss.
»Hast du sie drum gebeten?«, frage ich zurück.
»Nein. Sie wollte es. Freiwillig.«
»Die Katja, du, die hat es faustdick hinter den Ohren«, sagt Frank noch. Dann quietscht die Matratze und das Gespräch versickert in der dunklen Porösität der Nacht.
Draußen vor dem Fenster rauscht der Verkehr.
2.
Das Centre Pompidou ist Ausdruck der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ich versuche vergeblich, den Sinn daran zu entdecken, durch Räume mit Bildern zu schleichen, die jemand anders gemalt hat. Warum soll ich mir ansehen, was andere geschaffen haben? Ich kann nicht einmal eine Figur aus Eicheln und Streichhölzern bauen - warum soll es mich begeistern, dass andere etwas geschaffen haben und im Museum hängt? Gregor ist der Meinung, dass man diese Bilder gesehen haben muss. Dann wird das wohl so sein.
»Das gehört zur Allgemeinbildung«, sagt er mit einem Seitenblick auf Maike. Die reagiert prompt.
»Nur weil man sich nicht für diesen Kram interessiert, ist man doch nicht ungebildet«, blafft sie so empört, dass ich Tränen erwarte, die aber nicht kommen. Zum Glück bin ich nicht mit ihr zusammen. Ich wüsste nicht, wie ich sie wieder beruhigen sollte.
»Du bist so arrogant«, sagt Fabian. Gregor zuckt mit den Schultern und grinst ein wenig verlegen. Auf dem Weg auf das Dach des Centres fotografiert Fabian seine schmollende Freundin. Katja ist ohnehin beleidigt, weil Gregor nicht ihre Hand halten will. Sie singt wieder das Lied von der RER. Jetzt dreht sie völlig durch. Herrlich.
Maike mag Paris nicht und will an den Strand. Paris ist ihr zu windig und zu dreckig und zu laut. Mir ist Paris noch viel zu vertraut. Gegen Mittag zu McDonald’s. Wieso haben die Franzosen zwei verschiedene Preise für ihre Produkte? Wenn man die Burger im Restaurant isst, sind sie teurer. Natürlich setzen wir uns vor dem Laden auf die Straße und essen dort. Jeder Franc zählt.
Gregor erklärt uns in der Zwischenzeit mit vollem Mund den Grund. Warum die Franzosen jedoch eine niedrigere Mehrwertsteuer zahlen, wenn sie das Essen außer Haus servieren, weiß er auch nicht. Die spinnen, die Franzosen. Fabian meint, er habe das Gleiche sagen wollen. Glaub ich ihm.
Auf dem Père Lachaise gehen wir natürlich zum Grab von Jim Morrison, für Gregor und Frank ein Idol. Der Name weckt bei mir nur die Assoziationen Top Gun, Top Secret und Willow, was an Val Kilmer liegen muss. Ich kenne die Doors erst seit dem Film von Oliver Stone.
»Oliver Stoned«, korrigiert mich Frank, der sich an jeder Straßenecke eine neue Zigarette dreht und einen Platz zum Barzen sucht. Ich fühle mich ganz fehl am Platz. Es muss anders sein, eine bedeutende, wichtige Situation an einem ganz wichtigen Ort. Es fühlt sich so hohl an, falsch und unecht an. Wir sollten hier etwas erleben, wovon ich später einmal erzählen kann.
Kann der Besuch des Grabes eines Mannes, der starb, als wir noch nicht einmal auf der Welt waren, dagegen überhaupt eine Bedeutung haben? Was will Gregor damit zum Ausdruck bringen? Verehrung? Wir machen einen Strich auf die Liste, und doch ist es so, als hätten wir uns bei dem Versuch, bei etwas wirklich Bedeutendem dabei zu sein, am Grab von Jim Morrison verlaufen.
Katja erzählt uns auf dem Weg zur Seine von ihrem Erlebnis auf dem Weltjugendtag in Polen im vorigen Jahr, von der Rede Johannes Paul II und dem intensiven Erlebnis der Gemeinschaft. Die Provokation kommt mir ziemlich leicht über die Lippen.
»Ah, der Papst. Der senile alte Sack soll doch den Löffel abgeben.«
»Und dann? Dann kommt ein neuer Papst.«
Gregor sagt zur Abwechslung gar nichts, im schlechtesten Moment überhaupt. Er lässt mich mit dieser ziemlich pauschalen Aussage alleine, ein dahingesagter Satz, der Katja nur aus der Reserve locken sollte. Ich sehe zu Fabian hinüber. Der zuckt mit den Schultern, als wolle er sagen: Da hast du dich zu weit aus dem Fenster gelehnt, jetzt genieß den Flug alleine.
Mir fällt nichts mehr dazu ein. Gott sei Dank bin ich Atheist. Auch nur so ein geklauter Satz von Luis Bunuel. Nicht einen einzigen seiner Filme habe ich gesehen, selbst das Zitat kann ich ihm nur zuordnen, weil ich es auf einem T-Shirt gelesen habe. Vielleicht ist es gar nicht von ihm oder nicht vollständig oder bedeutet etwas ganz anderes. Wenn ich etwas vermeintlich Intelligentes sage, wiederhole ich nur das, was andere gesagt haben. Denke ich überhaupt eigene Gedanken?
Eigentlich bin ich der hohlste Mensch der Welt. Ich weiß nichts, meinen Gedanken fehlt die Tiefe. Ich habe von keiner Sache wirklich Ahnung, selbst mein Filmwissen ist nur Kulisse, oberflächlich und unwichtig. Ich kenne nur die Antworten, aber nicht, was sie bedeuten. Ohne zu verstehen plappere ich nach, was andere geschrieben haben. Bin ich Künstler? Habe ich ein Buch geschrieben, einen Film gedreht oder ein Lied komponiert?
Nichts, was ich jemals gemacht habe, hat irgendeinen Wert. Und ihr wisst es, ihr wisst genau, wie schlecht ich bin. Kein Wunder, dass kein Mädchen lange mit mir zusammen sein will. Judith hat genau gewusst, warum sie nach der Kunststunde auf mich zukam.
Unser Abendessen besteht aus einem Döner und versalzenen Pommes. Fabian wäre lieber wieder zu McDonald’s gegangen. Wir kaufen uns noch zwei Zehnerpacks Bier in den kleinen Flaschen,