Martin Romey

KÖRPER-HAFT


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Manchmal weiß man wirklich nicht, ob alles um einen herum die Realität ist oder es sich um irgendwelche Hirngespinste oder einen Traum handelt. Man hat keine Möglichkeit, es zu überprüfen.

      Jegliche Interaktion funktionierte nur über den Fernseher an der Decke. Das Fenster zur Welt! Und was für eines! Ich selbst hielt mich eigentlich für einen etwas introvertierten Typ. Aber völlig ohne Gespräche, ohne Anregungen von Außen trocknet die Seele aus. Sie wird dürr, staubig und bekommt im Laufe der Zeit immer mehr Risse.

      Kein Gespräch, nicht einmal laute Selbstgespräche waren möglich. Nur der Dialog mit sich selbst im Geiste. Und dabei begab man sich ständig in die Gefahr, ein dauerhaftes zweites »Ich« zu kreieren, nur um einen adäquaten Gesprächspartner zu haben. Ganz nach dem Motto: Wenn sonst schon keiner mit mir spricht, möchte ich mich wenigstens mit einem meiner Egos unterhalten können.

      Nicht einmal das ruhelose Auf- und Ablaufen eines Tigers im Käfig konnte ich imitieren. Da hatte es der Mann mit der eisernen Maske aus Alexandré Dumas Roman richtig gut gehabt. Der konnte mit seinem Blecheimer auf dem Schädel wenigstens hin- und herlaufen und zur Aggressionsbewältigung irgendetwas umtreten, was im Weg herumstand.

      Ich hingegen lag wie einbetoniert in meinem Körper und beneidete den Mann mit der eisernen Maske auch darum, dass er kleine Notizen in die steinernen Wände seiner Zelle hatte ritzen können. Kleine Gedächtnisstützen, denn wenn man lange mit sich alleine ist, wird das Wissen schwammig und die Wahrheit wächsern und man ändert sie gerne in die Form, wie man sie gerne hätte. So wie sie nach längerem hin- und herschieben am plausibelsten aussieht. Selbst die düstersten Varianten der Phantasie werden so stark verändert, dass die Farbe Schwarz noch düsterer wird. Doch der Wahrheitsgehalt wird immer schwammiger und diffuser. Am Ende werden (wie in der Farblehre) selbst alle Grundfarben Gelb, Blau und Rot nach dem Zusammenmischen wieder schwarz. Wenn auch ein sehr unsauberes Schwarz ...

      Ich hatte keinerlei Möglichkeit, irgendwelche Notizen in Stein zu ritzen oder sonst irgendwie Aufzeichnungen zu machen. Ein Tagebuch oder auch nur ein Terminkalender ermöglichte es, sein Leben zu dokumentieren. Um mich herum schien nur eine Welt zu existieren, deren Wahrheitsgehalt ich nicht überprüfen konnte. Ich hatte keinerlei Möglichkeit etwas schriftlich zu fixieren – weder auf einem Stück Papier noch in elektronischer Form. Ich hatte nie geglaubt, dass ich das Schreiben so vermissen würde. Was war das Leben wert, wenn man seine eigene Existenz nicht dokumentieren und damit dingfest machen konnte. Man gab mir viele bunte Programme und Bilder, aber nichts womit ich der Wirklichkeit nachspüren konnte. Das vermutlich wichtigste Werkzeug zum Überleben besaß ich selbst. Es war das Kino in meinem Kopf. Oder, wie ich es für mich nannte: das vielleicht kleinste Kammerspiel der Welt.

      Die Schwermut hatte mich wieder hinuntergezogen in den Sumpf des Selbstmitleides. Schwermut ist wie ein Moor, geboren aus Angst, Verfall und Tod. Solange man an der Oberfläche wandelt, hat alles seinen morbiden Reiz und sieht in der Nachmittagssonne gar schön, zart und zerbrechlich aus. Doch wenn die Dämmerung hereinbricht und man vom Pfad abkommt, sackt man zuerst bis zu den Knöcheln ein und die feuchte Kälte kriecht die Knochen hinauf. Die Kälte fängt an, einen zu lähmen. Langsam sinkt man immer tiefer und mit jedem Zentimeter abwärts verliert man die Kraft dagegen anzukämpfen …

      Erschrocken über mich selbst sprang ich im Geiste wieder zurück auf den Pfad und rannte der Sonne hinterher. Ich war schon wieder dabei, mich in mein eigenes Requiem einzugrooven. Schluss damit! Ich hatte Wochenende und konnte tun und lassen, was ich wollte. Nur im Rahmen meiner derzeitigen Fähigkeiten, aber nichtsdestotrotz. Ich hatte das vielleicht kleinste Kammerspiel der Welt in meinem Kopf, einen High-Tech-Fernseher über mir und ich beschloss, beides besser kennenzulernen und zu nutzen.

      Obwohl kein BSS-Pflichtprogramm auf der Tagesordnung stand, begann ich damit, mir das Buddhismusprogramm näher anzuschauen. Ich war angenehm überrascht. Es war nicht bedingungslos religiös motiviert, sondern wirkte eher wie eine Reportage im Stile von National Geographics. Auf ruhige, angenehm nüchterne Art wurden sowohl die Entstehung als auch das regional unterschiedliche Praktizieren des Buddhismus behandelt.

      Ich war mehr als erstaunt, dass BSS nicht auch daraus ein Hirnwäscheprogramm mit Vorwäsche und extra Schleudern gemacht hatte. Oder war es einfach nur subtiler und sanfter ausgearbeitet? Vielleicht hatte BSS aber auch nicht damit gerechnet, dass jemand das Programm wählen könnte und sich gar nicht die Mühe gemacht, diese esoterische Minderheit, wie Bruder Martin die Anhänger des Buddhismus abgetan hatte, ernst zu nehmen.

      Ob einfache Ignoranz seitens BSS die Ursache war oder man die Erziehungsmethoden mithilfe des Buddhismus in einer subtileren Verpackung transportieren wollte, blieb mir verborgen. Das Programm hatte jedenfalls zweifellos eine bemerkenswerte Wirkung: Die Bilder drangen förmlich in mich ein, hoben mich sanft in die Höhe und trugen mich schließlich auf und davon. Plötzlich hatte ich den Geruch von Räucherstäbchen in der Nase, die Sonne brannte mir ins Genick. Ein leichter Windhauch brachte keinerlei Erleichterung mit. Die Klamotten waren klatschnass und klebten auf meiner Haut als würde ich in voller Montur einen Saunaaufguss mitmachen. Aber das Schöne daran war … es störte mich nicht. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich völlig frei und ruhig. Mit jedem Atemzug schien ich ein bisschen mehr Zufriedenheit zu inhalieren und einen Teil meiner Sorgen blies ich mit der verbrauchen Luft einfach aus.

      Ich fragte mich beim Ausatmen, warum ich sie als Sorgen überhaupt erst in meinem Körper aufgenommen und mit mir herumgetragen hatte. Der Geruch von Wasser und Pflanzen wehte jetzt auch in meine Nase. Im Geiste schlug ich die Augen auf und fand mich inmitten in einer alten Khmer-Tempelanlage wieder. Vor mir lag einer der Wassergräben, dahinter die großen steinernen Stupas. Ein in leuchtendem Orange gekleideter Mönch zündete keine 30 Meter entfernt auf einem im Freien gelegenen Altar Räucherstäbchen an und setzte sich zur Meditation oder zum Gebet vor einen circa drei Meter hohen steinernen Buddha. Dieser hatte die Haare zu kleinen Röschen zusammengebunden, sodass der Kopf aussah, als säßen viele kleine Kügelchen darauf. »Ayuttayah-Stil«, schoss es durch meinen Kopf und ich musste innerlich grinsen. Neben mir lag ein Fahrrad in der Wiese. An seinem Lenker zog die große silberne Klingel meine Aufmerksamkeit geradezu magisch an. Ein in Relief geprägtes Krokodil war in der Mitte des Kreises zu sehen. Eingerahmt mit den Worten Crocodile an der Oberseite und darunter Trade Mark. Jetzt wusste ich, wo ich war!

      Als ich zu Studentenzeiten mit dem Rucksack kreuz und quer durch Thailand gezogen war, hatte ich mich über eine Woche in Sukkothai aufgehalten. Wenn ich es richtig in Erinnerung hatte, konnte man am Nordtor von Alt-Sukkothai Fahrräder ausleihen, um die riesige Tempelanlage zu erkunden. Selbst in vollen drei Tagen war es unmöglich, das gesamte Gebiet zu erkunden. Und da ich mir Zeit gelassen hatte, an einzelnen Punkten zu verweilen, war ich auch nach sieben Tagen nicht an allen Ecken der riesigen Tempelanlage gewesen. Jedenfalls hatte ich mich eines Tages neben meinem Fahrrad ins Gras gesetzt und die silbern glänzende Crocodile-Klingel fotografiert. Deswegen erkannte ich sie sofort wieder.

      Ich hatte damals versucht den Tempel, die ganze Umgebung und die friedliche Stille in mich aufzusaugen. Und wie es aussah, war mir das tatsächlich gelungen. Mehr noch, ich hatte sie bis heute in meinem Inneren konserviert. Es hatte nur eines kleinen Anstoßes bedurft und ich war dort. Und wie ich dort war! Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, mich in diesem Augenblick inmitten der Tempelanlage zu befinden. Ich genoss die Sonne, die mir heiß auf den Rücken schien. Die Wärme tat mir gut und entspannte mich und meinen Körper.

      Erschöpft, aber dennoch entspannt und zufrieden, kehrte ich aus meinen »Träumereien« – oder war es doch mehr gewesen? – zurück. Ich merkte, wie ich etwas von der Ruhe und dem Frieden mitgenommen hatte. So wie ich es auch immer getan hatte, wenn ich dort durchs Land reiste und mich unter die Einheimischen mischte.

      Es war schön dort gewesen. Schön und furchtbar heiß. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, dass ich beim Fotografieren aufpassen musste, dass mir die dicken Schweißtropfen nicht auf die Kamera fielen. Manchmal hatte ich die Elektronik der Kamera einfach auf Not-Aus geschaltet, weil sie zu heiß wurde. Dann musste ich die Bilder, die ich machen wollte, in meinem Gedächtnis einbrennen oder warten, bis die Kamera wieder cool genug war, um aufnahmefähig zu sein. Ich lächelte zufrieden in mich hinein.