Martin Romey

KÖRPER-HAFT


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gehen wir mal davon aus, Du bist ein junger Hund und ich habe Dich gerade bekommen. Wie bringe ich Dich also dazu, dass Du mir nicht mehr in die Bude kackst? Hä!? Die erste Möglichkeit ist, Dich draußen in den Zwinger zu sperren. Die zweite Möglichkeit ist, Dich auf die eine oder andere Art einfach loszuwerden. Und die dritte Möglichkeit ist, Dich aufzunehmen und Dir Manieren beizubringen. Und wie bringt man einem jungen Hund Manieren bei, der gerade einen stinkenden Haufen auf dem Wohnzimmerteppich hinterlassen hat? Da gibt es nur eine Möglichkeit. Man drückt dem Hündchen die Schnauze in die eigene Scheiße!«

      Das war der Punkt, an dem ich einen folgenschweren Fehler beging. Ich öffnete die Augen und schielte nach links, um zu sehen, ob das, was ich befürchtete, tatsächlich passieren würde. Doch da lauerte Mosquito, den Blick direkt zu mir gerichtet. »Ich wusste doch, dass Du wach bist. Habe ich also Dein Interesse geweckt. Nr. 4 hier ist auch schon ganz gespannt. Ich seh’s an seinen Augen. Da lodert ein Feuer, das sogar noch ein bisschen mehr verschlingen könnte als eine ganze Familie. Nicht war Nr. 4?« Er starrte ihn mit seinen unnatürlich wirkenden Augen durch die Gläser seiner Nickelbrille an.

      »Nun, wie sagt man so schön, Vorfreude ist die schönste Freude. Ich auf jeden Fall freu mich. Du auch?« Dann schob er seine schwarzen, stark verschmutzten Gummihandschuh-Hände in das Sichtfeld von Nr. 4 und schmierte ihm genussvoll das unter die Nase, was an anderer Stelle seinen Körper verlassen hatte. »Na da wird Deine Nase aber Augen machen!« Zufrieden mit sich selbst, stand er dann beobachtend neben Nr. 4 und tupfte gespielt geziert mit dem abgespreizten kleinen Finger noch einmal nach. Prüfend schaute er auf den Vitalometer. »Na also, ich wusste doch, dass da noch was geht!« Zufrieden drehte er sich zu mir. Vermutlich etwas zu spät schloss ich die Augen und versuchte mich wieder in mein Kehrwasser zu flüchten. Ich versuchte mich zu entspannen, obwohl ich hörte, dass Mosquito auf dem Weg zu mir war. Ungefähr so, wie wenn der Zahnarzt den Bohrer anschaltet und sich mit diesem ganz eigenen singenden Geräusch auf die Suche nach dem Nerv macht. Ich wartete, aber nichts geschah. Inzwischen hatte ich schon bis auf 320 gezählt, um das Zeitgefühl nicht völlig zu verlieren. Ich wusste nur zu gut, dass er neben mir stand, um mir in die Augen schauen zu können, während er mich quälte.

      Gerade als ich bei 430 angekommen war, fühlte ich, wie Mosquito mir etwas Kaltes, Feuchtes und furchtbar Stinkendes unter die Nase schmierte. »Nur für den Fall, dass Du ähnliche Aktionen vorhast wie Dein Nachbar. Prävention macht sich immer bezahlt! Mit diesem Bärtchen siehst Du aus wie einer der bekanntesten Männer der Geschichte.« Mir war vollkommen klar, wen er meinte und mit dem ich absolut keine Ähnlichkeit haben wollte. In Gedanken war ich bei einem ganz anderen bekannten Mann der Geschichte. Einem der ebenfalls an Russland gescheitert war, weil es wie ein weiches Kissen zurückwich, um gegnerische Armeen zu umschließen und zu verschlingen …

      Bisher schien mein Plan aufzugehen. Ich hielt die Augen geschlossen und versuchte meinen Puls so ruhig wie möglich zu halten, während meine Nase versuchte, diesen widerwärtigen Geruch zu ignorieren.

      »Los, mach endlich die Augen auf, Du Ratte«, hörte ich Mosquito ärgerlich sagen.

      Anscheinend gefiel es ihm überhaupt nicht, dass meine Reaktion nicht so ausfiel, wie er es sich erhofft hatte. »Also gut, vielleicht pennst Du ja tatsächlich. Mal sehen ob Nr. 1 etwas unterhaltsamer ist. Ein kleines Bärtchen steht ihm sicherlich auch gut … Und während ich mich um Nr. 1 kümmere, kann ich Euch beide ja noch ein Weilchen im Auge behalten … Aus der Ferne ist es immer noch ein Genuss Euch zuzusehen. Nr.1 macht seinem Namen übrigens alle Ehre. Er ist mit 182 Schlägen pro Minute der Gewinner des heutigen Puls-Bingos …«

      Ich schaffte es tatsächlich, den Gestank weitgehend zu ignorieren und mich wieder in mein Kehrwasser zu flüchten. Bevor ich dort vollkommen ankommen war, fasste mein Hirn ohne mein Zutun noch einmal zusammen, was ich über Mosquito wusste: Er schien tatsächlich keine Freunde zu haben, liebte Hunde und hatte irgendetwas gegen Brötchen in der Hand.

      Erlösung

      Mein Trick mit dem Kehrwasser funktionierte überraschend gut. Kaum hatte ich die Situation auf dem Fluss vor meinem geistigen Auge, beruhigte ich mich zutiefst und konnte meine Umgebung ausschalten. Das pulsende Wasser vor dem Walbuckel verschaffte mir einen tiefen Frieden. Immer wenn ich versuchte die Details dieses Bildes stärker zu fassen und nach meiner Vorstellung zu formen, verblasste das Bild und geriet ins Wanken. Wenn ich jedoch losließ, wurde es von ganz alleine detailgetreuer und wirkte nur noch beruhigender auf mich.

      Das Raft und auch meine Kollegen kamen darin praktisch gar nicht mehr vor. Es gab nur noch den Fels und die beiden Strömungen, die gegeneinander und doch miteinander arbeiteten, um die Beständigkeit des Wandels zu symbolisieren. Manchmal hatte ich den Eindruck, mit einem glücklichen Gefühl voll und ganz in diesen Strömungen aufzugehen und selbst zum Fluss zu werden. Ich hatte keine Ahnung, ob dies – wie auch die Rückenschmerzen? – eine Nebenwirkung von Professor Marquez’ Serum war oder schlichtweg ein Ergebnis der psychischen Anspannung. Oder näherte sich der Wahnsinn bereits auf leisen Sohlen? Völlig egal, ein Besuch im Kehrwasser strengte mich zwar an, war aber auch zutiefst beruhigend.

      Nach einer unbestimmten Zeit zog ich mich aus meinem Kehrwasser wieder heraus und spürte meinen schmerzenden Rücken wieder. Etwas unter meiner Nase juckte fürchterlich. Der Geruch von Kot stieg in meiner Nase auf, allerdings deutlich weniger intensiv als zuvor. Entweder hatte ich mich daran gewöhnt oder der Gestank hatte tatsächlich nachgelassen. Ich tippte auf Variante eins. Es verhielt sich vermutlich wie bei Parfum: Wenn man es zu lange benutzt und ständig unter der Nase hat, versucht der Geruchssinn, diesen Eindruck auszublenden, um sich den wichtigeren Aufgaben zu widmen. Wie zum Beispiel überleben! Riecht Nahrung zum Beispiel bitter, geht der Geruchssinn davon aus, dass es den Magen angreift oder vielleicht sogar giftig ist. Bei Parfumfetischisten führt diese Geruchsunterdrückung meist dazu, dass immer mehr Duftwasser aufgetragen wird, bis Mann oder Frau stinkt wie ein einbalsamierter Iltis. Das ehemals dezente Düftchen wird für Außenstehende zur Duftkeule, aus deren Reichweite man sich am besten so schnell wie möglich entfernt.

      Das Jucken unter der Nase hatte dafür an Reiz zugenommen und wurde fast unerträglich. Normalerweise hätte ich mich mit einem Finger gekratzt. Aber was half einem ein Finger, wenn die daran hängende Hand und der dazugehörige Arm neben einem liegen, als gehören sie nicht dazu. Das gleiche galt für den anderen Arm, beide Beine, den Kopf, die … Mir wurde bewusst, dass ich meinen Körper mit seinen Bestandteilen mittlerweile als Fremdkörper betrachtete. Nur die Schmerzen im Rücken und das furchtbare Jucken unter der Nase verhinderten, dass ich den Bezug zu ihm völlig verlor. Aber was sollte ich tun? Die Augen aufzuschlagen war nach meiner bisherigen Erfahrung nicht die beste Idee. Vielleicht wartete Mosquito immer noch auf seinen großen Auftritt. Und selbst wenn er inzwischen den Raum verlassen hatte – was sollte ich machen? Das rote Kreuz auf meinem Holo-Flat-Pad aktivieren? Nur um zu riskieren, dass ich damit Mosquito zurück an mein Bett lotste und ihm damit eine doppelte Genugtuung verschaffte? Nein Danke! Und Bruder Martin über das Kruzifix auf dem Schirm rufen? Vielleicht steckte er mit Mosquito unter einer Decke? Was bei einem Priester eine äußerst prekäre Lage, wenn auch nicht ungewöhnlich wäre. Und selbst, wenn sie nichts miteinander zu tun hatten … würde Bruder Martin dann nicht eine Meldung machen und der Verdacht automatisch auf mich zurückfallen? Nach dem Motto: Nr. 5 hat gepetzt! Ich konnte es drehen und wenden: Es war ein Teufelskreis! Am Schluss würde ich immer die Retourkutsche bekommen.

      Eingeschworen

      Ich hörte, wie die Tür geöffnet und kurz darauf geschlossen wurde. Das Rascheln von langer Kleidung und schnellen Schritten folgte. Dann stoppten die Geräusche ungefähr in der Zimmermitte. Bruder Martin?

      »Meine lieben Schäfchen, nachdem wir heute einen Ihrer werten Mitstreiter umgelegt …«, er bemerkte seinen Lapsus sofort, »… äh umverlegt haben, möchte ich Sie darüber informieren, dass kein Grund zur Beunruhigung besteht. Wir mussten ihn lediglich auf eine andere Station verlegen, die seiner speziellen gesundheitlichen Situation gerecht wird.«

      Na