hatte, weiter am Ball zu bleiben. Und bei ihm war ich mir absolut nicht sicher, ob er es wegen seiner persönlichen Reputation in der Öffentlichkeit, des Geldes oder tatsächlich wegen mir tat. Was also blieb mir übrig, als mich selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen?
»Und jetzt kommen wir zu den Dehnübungen, denn nur wer körperlich flexibel ist, kann dies auch geistig sein!«, gab der braungebrannte Bettenmogul zum Besten. »Als Erstes werden die Füße von der Matratze nach hinten gedrückt, um einer Sehnenverkürzung entgegenzuwirken. Immer schön in die Dehnung atmen!«, kam schon der nächste Tipp von Mc Lay. Ich versuchte diese aktive Zeit dafür zu nutzen, mir einen Schlachtplan für die nächsten Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre zusammenzuzimmern. Wenn ich mich nicht von der Hirnwäsche des Erziehungsprogramms fortspülen lassen wollte, musste ich folgende Regeln einhalten:
1.) Die Augen während des Erziehungsprogramms nicht länger als fünf Sekunden schließen, da ich ansonsten von einem immer stärker werdenden Elektroschock zur Aufmerksamkeit gezwungen werde.
2.) Die gezeigten Bilder und den Ton nicht an mich herankommen lassen. So wie das aktive Ignorieren von Pop-Up-Seiten im Internet.
3.) Nicht auffallen! Vollzugskonform erscheinen!
4.) Versuchen, während des Erziehungsprogramms den eigenen zu Gedanken folgen.
5.) Darüber nachdenken, ob Sunnys Tod ein Unfall war oder tatsächlich ein Mord, den jemand erfolgreich versucht hatte, mir in die Schuhe zu schieben.
Wenn es eine sechste Regel gegeben hätte, dann hätte sie gelautet: Keine weiteren Regeln – fünf sind eigentlich schon fast zu viel! Zu viele Regeln führen immer dazu, dass man erst eine nicht einhält, dann die nächste und am Schluss fällt das gesamte Regelwerk mangels Konsequenz und Übersichtlichkeit auseinander.
»So und jetzt bleiben wir ruhig liegen, entspannen uns und fühlen unseren Körper!«
Was glaubte dieser Betten-Fitness-Idiot eigentlich, was ich den ganzen lieben langen Tag machte? Im Park spazieren? Nicht einmal in der Nase bohren war mir vergönnt! Ich lag hier wie eine einbalsamierte Mumie, wurde von einem Wunderbett gebogen, gefaltet und gestreckt, damit die Bandagen elastisch und beweglich bleiben!
Der Walbuckel
Hätte ich gewusst, was als Nächstes kommt, hätte ich liebend gerne eine weitere Runde mit John Mc Lay und seinem durchtrainierten Fitnessteam verbracht. »Guten Morgen meine lieben irregeleiteten Schäfchen«, fing Bruder Martin an, salbungsvoll aus dem Holo-Flat-Pad zu sülzen. »Nachdem wir uns jetzt schon ein wenig kennengelernt haben, möchte ich Euch in den nächsten zwei Stunden aus der Bibel vorlesen und das Gelesene für Euch interpretieren. Ich habe Euch heute die Geschichte von Kain und Abel mitgebracht. Eine, wie ich finde, äußerst passende Geschichte – denn Ihr seid alle böse, jeder auf seine Art …« Beinahe hätte ich mich mitreißen lassen, nur um herauszubekommen, weswegen ich angeblich so böse sei. Ich beschloss dann aber doch, an meinem Fünf-Punkte-Plan festzuhalten.
Um nicht aufzufallen, hatte ich den Ton soweit heruntergedreht, dass ich meine Aufmerksamkeit dem Gesagten entziehen konnte, jedoch nicht soweit, dass es auf den Kontrollprotokollen aufgefallen wäre. Als Nächstes versuchte ich durch die Bilder zu schauen, die Bruder Martin in seiner ermüdenden Litanei sozusagen als Diaschau begleiteten. Und obwohl die Bilder alles andere als spannend waren oder vielleicht gerade darum, erwischte ich mich immer wieder dabei, wie ich sie betrachtete. Ich versuchte mich daraufhin auf den oberen Bildschirmrand zu konzentrieren und Bruder Martins Missionierungsshow auszublenden. Umsonst … »Du bist böse! ... Du bist böse! ..." Der Satz wiederholte sich ständig und die Lettern vergrößerten sich, bis sie den Rand des Bildschirmes überschritten, um vom Fluchtpunkt aus wieder auf mich zuzurasen. »Du bist böse, böse – böse ...« – Wenn das so weiterginge, würde ich zuerst einen furchtbaren Schädel bekommen und dann vermutlich mürbe werden.
Plötzlich fiel mir der Rafting-Guide und was er uns über Kehrwasser eingebläut hatte wieder ein und erinnerte mich daran, dass ich nach einem Ruhepunkt in dieser aggressiven Bild-Beeinflussung suchen wollte. Aber wie konnte mein persönliches Kehrwasser aussehen?
Wie sah ein echtes Kehrwasser aus? Ich dachte an unsere Rafting-Tour und hatte plötzlich diesen tosenden Wildwasserfluss vor Augen. Vor uns ragte wie der Buckel eines Wales ein dunkelgrauer Granitblock aus den tosenden Fluten hervor. Er lag direkt in der Hauptströmung, das Wasser schob sich weiß schäumend an diesem Walbuckel empor, um seitlich in einer Art Strudel auf beiden Seiten herunterzufließen.
»Hinter dem Buckel liegt ein Kehrwasser«, hörte ich unseren Guide schreien. »Wir fahren da jetzt rein, also paddelt was das Zeug hält!« Wir kämpften uns durch Wellenberge und aufsteigende Gischt, die von unserem Raft klatschend aufgeworfen wurde. »Wenn wir hinter dem Felsblock ins Kehrwasser fahren – gut festhalten!« Er steuerte das Raft in einem spitzen Winkel direkt hinter den Felsen. Wir hatten das Boot ordentlich beschleunigt, als wir hinter dem Walbuckel einfuhren. »Festhalten!« Dann riss es das Raft in einem gewaltigen Ruck herum, sodass es von einer Sekunde zur anderen mit der Spitze flussaufwärts zeigte. »Paddelt!«, schrie es wieder von hinten. »Hopp-Hopp, noch ein paar Schläge, dann haben wir es geschafft.«
Und tatsächlich: Ruhig schaukelnd lag das Raft hinter dem Felsblock. Die ganze Spannung war abgefallen, das Herz hämmerte noch immer wie verrückt und pumpte damit nur noch schneller die ausgestoßenen Endorphine durch den Körper, um ein grandioses Glücksgefühl zu erzeugen. Wir johlten wie verrückt, sodass uns die Angler am Ufer vermutlich für einen sturzbetrunkenen Kegelklub hielten, dessen Mitglieder sich erst ordentlich einen ansaufen mussten, um die Courage zu haben, ins Boot zu steigen.
Wir schrien, johlten und klopften uns auf die Schultern, an einer Stelle im Fluss, die so viel Ruhe und Kraft in einem in sich barg. Ein Yin und Yang mitten im Wildwasser! Im Nachhinein schämte ich mich für das Gegröle, es war diesem Punkt der Ruhe nicht angemessen, wir hatten ihn regelrecht entweiht. Mit nur wenigen, ruhigen aber gezielten Paddelschlägen hielt unser Guide das gesamte Raft ruhig im Kehrwasser. Vor uns lag der riesige Buckel des dunkelgrauen Granitfelsens, der durch die Nässe schon fast ölig aussah und an ein paar Stellen dunkelgrüne Bärte aus Algen hatte. Dies machte den Vergleich mit dem glänzenden Walbuckel nur noch plastischer. Das Wasser türmte sich aus unserer Sicht jetzt hinter dem Wal auf, um auf beiden Seiten gut einen Meter tiefer herunterzuschießen und tösend herumzuwirbeln. Beide Wirbel bildeten das Kehrwasser, in dem wir mit unserem Boot saßen. Das Wasser pulste in ungleichem Rhythmus hoch und runter. Es war kalt, klar, kraftvoll, laut und doch so unendlich beruhigend.
Ein elektrisches Kribbeln durchlief meine Körper und eine Frauenstimme forderte: »Bitte kreuzen Sie eine Antwort an!« Was für eine Antwort?
Über mir schwebten ein paar einfache Mathematikaufgaben, deren richtige Antworten mit dem Auge angeblinzelt werden mussten. Multiple Choice zum Blinzeln … Das elektrische Kribbeln verstärkte sich. »Das interaktive Mittagsprogramm ist nicht zum Träumen da Nr. 5!« Ich blinzelte schnell ein paar Kreuzchen auf den Bildschirm. »Na also, so schwer war es doch gar nicht, oder?« Das interaktive Mittagsprogramm? Gerade eben hatte ich noch mit einem Raft im Kehrwasser gesessen und dem Fließen und Pulsen des Wassers zugeschaut. Und kurz davor hatte Bruder Martin mit seinem militanten Religionsunterricht angefangen …
So langsam ging mir ein Licht auf. Ich hatte nach einem Kehrwasser Ausschau gehalten, dass mich von Bruder Martin und seiner religiösen Gehirnwäsche ablenken sollte. Ich war auf der Suche nach einem Kehrwasser im Datenstrom der Beeinflussung gewesen, ohne zu wissen, wie es wohl aussehen mochte und wie ich es dann überhaupt finden und nutzen könnte! Dabei war das gesuchte Kehrwasser im Datenstrom bereits das Kehrwasser in meiner Vorstellung! Erneut zog ein elektrisches Kribbeln durch meinen Körper. »Sie überlegen zu lange für Ihre Antworten Nr. 5!«
Da war vielleicht wirklich was dran! Vielleicht ging ich das Ganze zu intellektuell an …