Martin Romey

KÖRPER-HAFT


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Bettes gelöst wurden. Die Rollen des Bettes gaben ein leicht schmatzendes Geräusch von sich und ich sah, wie die beiden das Bett auf den hell erleuchteten Türspalt zuschoben.

      »Jetzt kann er vermutlich das Licht am Ende des Tunnels sehen«, kicherte die zweite Stimme.

      »Halt endlich die Klappe und mach die Tür zu«, beendete die erste Stimme das Gespräch.

      Der Lichtbalken wurde schmäler und verschwand schließlich ganz.

      Bahnhofstoilette

      »Klack« machte die Tür und bei mir fiel endlich der Groschen, den ich vor lauter Ungläubigkeit minutenlang in der Schwebe gehalten hatte. Nr. 7 war tot! Ein uraltes Kinderlied schob sich ohne jede Ankündigung in mein Bewusstsein:

       Sieben kleine Negerlein

       und einer ist nicht aufgewacht

       da waren`s nur noch sechs.

      »Wir müssen Professor Marquez anrufen, dass etwas schief gegangen ist«, echote es in meinem Kopf. Aber war dieses »etwas« ein Einzelfall oder nur die Blüte eines Pilzgeflechtes? Was wäre, wenn das Serum alle sieben Versuchskaninchen ins Land der ewigen Ruhe befördern würde?

      Eine Todesspritze mit Zeitschaltuhr! Der Hypochonder in mir schrie auf: »Was ist mit Deinen Rückenschmerzen? Das ist doch nicht normal! Zufälle gibt es nur in schlechten Romanen, aber nicht im echten Leben!« Der Schreck fuhr mir bis ins Mark, ich merkte, wie die Panik wie eine heiße Feuerwalze in mir aufstieg und kalten Angstschweiß auf meine Stirn zauberte. Für einen Augenblick hatte mein vegetatives Nervensystem wohl vergessen die Atmung sicherzustellen, was ich aber panikartig sofort nachholte und nach Luft rang.

      Ich hatte den Eindruck, dass ich mit einem Zug die gesamte Luft des Zimmers durch die Nase gesogen hatte. Da war der Geruch nach Krankenhaus. Eine Mischung aus Reinigungsmittel, Medikamenten und der Ausdünstung von kranken Menschen. Im Nachgang glaubte ich, das noch zarte Bouquet der Verwesung zu riechen. Aber sicher konnte ich mir da nicht sein, da ein anderer Geruch, nein Gestank, alles andere immer stärker werdend überlagerte. Ein Geruch, den man tatsächlich mit nur einem Wort beschreiben konnte:

      BAHNHOFSTOILETTE

      Der Geruch hing dumpf und unbeweglich in der Luft, ließ sich auch mit den besten Ablenkungsversuchen nicht aus der Welt schaffen. Selbst das flache Durch-den-Mund-Atmen brachte keine Erleichterung. Der Gestank legte sich wie eine schwere alte Decke über alles und schloss es unerbittlich ein. Dies schien kein normaler Tag zu sein. Nr. 7 tot, kein morgendliches Fitnessprogramm und: keine Luft!

      Ausmisten

      Endlich ging die Tür auf und Mosquito und Daniel, den ich in Gedanken immer noch Brötchen nannte, schoben ihre Service-Wägelchen herein.

      Mosquito donnerte los. »Es ist Freitag und Zeit zum … Scheiße, was ist denn hier los.«

      »Du hast es erfasst!«, kommentierte Brötchen ungerührt und ging zum großen Fensterflügel, der sich über die Mittelachse öffnen ließ.

      Endlich zog frische Luft von außen herein. Obwohl Ende Februar immer noch Schnee lag, war die kalte frische Luft, die hereinströmte, ein echtes Geschenk an die Geruchsnerven. Auf Mosquito schien sie allerdings keinen beruhigenden Einfluss zu haben:

      »Wer von Euch Bettnässern ist hier das Oberstinktier? Ich sage Euch nur eins, das Chef-Opossum hat es bei mir im wahrsten Sinne des Wortes verkackt! Nr. 7 kann’s nicht sein, der ist auf der Flucht. Nr. 6 pennt immer noch und macht keine Anstalten, aus dem Reich der Träume zu kommen. Aber was ist mit Dir Nr. 5? Du bist doch ein geborener Schisser!«

      Verdammt! Konnte dieser Gestank tatsächlich von mir stammen? Und wenn ja, was heckte dieser perverse Psychopath als Nächstes aus? Die Quelle des Gestankes schien tatsächlich ganz in meiner Nähe zu liegen. Und jetzt, da Mosquito auf mich zu schritt, bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun. Mosquito beugte sich über mein Gesicht und funkelte mich durch seine Nickelbrille an.

      »Angst? Du kleines Arschloch?!«

      Dann rückte er zurück, nur um gleich wieder nach vorne zu schnellen und sein Gesicht erst haarscharf vor meinem zum Stehen kommen zu lassen. Sein Blick war unmissverständlich: »Wie kann ich diesen Käfer so langsam wie möglich sezieren, sodass er so lange wie möglich noch zappelt, bevor er stirbt?«

      »Buh!«

      Ich schreckte innerlich tatsächlich zusammen und meine Augen weiteten sich. Mosquito freute sich wie ein kleines Kind: »Siehst Du, wie diesem kleinen, wohlbehüteten Muttersöhnchen die Düse geht? Auf seinem Vitalometer ist der Puls von 80 plötzlich auf 140 geschossen. Das macht viel mehr Laune als auf dem Jahrmarkt Hau den Lukas zu spielen!«

      »Jetzt hör endlich auf mit Deinen albernen Spielchen«, brummte Brötchen. »Wir haben noch eine Menge anderes Zeug zu tun. Nr. 6 habe ich gecheckt, der ist in Ordnung und bewegen sollen wir ihn ja noch nicht, bis er zu sich gekommen ist. Also kümmere ich mich jetzt um Nr. 5 und Du ziehst dir endlich den Mundschutz und die Gummihandschuhe an und machst mit Nr. 4 weiter. Fang endlich an zu arbeiten!«

      »Du bist vielleicht `ne Spaßbremse«, bäffte Mosquito zurück, zog aber tatsächlich die schwarzen, bis zum Ellenbogen reichenden Gummihandschuhe mit einem schmatzenden Geräusch an.

      Inzwischen hatte Brötchen angefangen, meinen Bart inklusive des Schädels zu rasieren. Dann schrubbte er mich ab, so emotionslos, als sei ich ein dreckiger, abgewetzter Barhocker in einer Bahnhofskneipe. Dann spürte ich seine Hände in einem Bereich, der eigentlich nur meinen vorbehalten war. Oder Händen, denen ich nur zu gerne gestattete, mich dort zu liebkosen. Aber in diese Kategorie fielen die groben, schwieligen Fernfahrerfinger von Brötchen garantiert nicht. Auch die Vorstellung, dass er die langen, schwarzen, gestülpten Gummihandschuhe trug, machte die Vorstellung nicht gerade angenehmer.

      Es war einfach entwürdigend, regungslos dazuliegen und diese Reinigungsprozedur über sich ergehen lassen zu müssen. Es war, als wolle man sich vor Scham von sich selbst wegdrehen. Weil ich dennoch verstand, dass sie notwendig war, würde ich mich im Laufe der Zeit vielleicht daran gewöhnen können.

      Als geradezu unerträglich erniedrigend empfand ich es jedoch, weder verbal noch körperlich in der Lage zu sein, mich gegen die Anfeindungen von Mosquito zu wehren. Selbst wenn ich ihm Rache schwor, vor mir selbst feierlich gelobte, ihm all das heimzuzahlen, wenn ich meine Haftstrafe abgebüßt hatte … was würde es bringen, ihn vor der Presse bloßzustellen, oder ihm aufzulauern und eine überzubraten? Meine derzeitige Situation bis zur Entlassung würde damit um keinen Deut erträglicher. Es sei denn, man glaubt daran, dass einem der Gedanke an Rache Befriedigung bringen kann. Ich denke jedoch, dass einen die Rache auffrisst und man ein persönliches Mandala daraus macht, das einen nur noch tiefer in den Abgrund reißt.

      Die einzige Möglichkeit sich gegen Mosquito zu stellen war, sich ihm zu entziehen. Aber wie? Brötchen hatte seine Gummihandschuhe inzwischen ausgezogen. Er hatte den Kopfkissenbezug gerade neu bezogen und schüttelte das Kissen auf. Mit der Handkante drückte er eine Kerbe ins Kissen, um meinen Kopf besser darin betten zu können.

      Da war es wieder, mein Werbefuzzi-Halbwissen, das es mir bisher ermöglicht hatte, meinen Lebensstandard auf hohem Niveau zu halten. Die beiden Worte Kopfkissen und Kerbe spülten bei mir eine Geschichte aus dem Unterbewussten herauf, die ich irgendwann einmal gehört oder gelesen hatte und die sich irgendwie in meinem Gedächtnis verhakt hatte:

       Russland kann nicht eingenommen werden. Es ist einfach zu groß. Wenn es von einer Armee angegriffen und eine Kerbe ins Reich geschlagen wird, so weicht es zurück wie ein weiches Kissen, nur um danach die Angreifer von der Rückseite zu umschließen und zu verschlucken!

      Ich war mir nicht sicher, von wem diese Aussage stammte. Ich glaubte mich jedoch zu erinnern, dass es sich um irgendeinen großen Feldherrn