Martin Romey

KÖRPER-HAFT


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andere Station zuständig war. Eine ganz andere Station!

      »Es besteht also, wie gesagt, kein Grund zur Beunruhigung«, fuhr er fort.

      Wenn man zweimal kurz hintereinander zu hören bekommt, dass kein Grund zur Beunruhigung besteht, sollten sofort alle Warnglocken läuten, es sei denn man lässt sich wirklich von jeder Pappnase einwickeln wie ein toter Fisch.

      Parallel zu meinen Gedanken spielte ich an den Einstellungen zu meinem Holo-Flat-Pad herum und blinzelte mich durch das Menü Personenstatus, um mich selbst zu betrachten. Dabei entdeckte ich, dass es die Möglichkeit von Tele- und Weitwinkeleinstellung zur Steuerung gab. Ich konnte also zum einen so nahe heranzoomen, dass ich die Kraterränder meiner neu entstandenen Hautunreinheiten sehen konnte. Oder, was viel interessanter war, ich konnte im Weitwinkelmodus das gesamte Zimmer und meine Zellengenossen aus der Vogelperspektive überblicken.

      »Ich wollte nur nach dem Rechten schauen und mich vergewissern, dass es ihnen allen gut geht! – Mein Gott, wer hat ihnen denn das angetan?«, keuchte Bruder Martin mit sich überschlagender Stimme.

      Durch die Hologramme, die über Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 4 flirrten, konnte ich aus den Augenwinkeln sehen, wie Bruder Martin hinüber ans Fenster zu Nr. 1 stürzte. Weil meine Augen vom Zur-Seite-Rollen schon schmerzten, schaute ich mir das Ganze aus der Vogelperspektive über mein Holo-Flat-Pad an. Bruder Martin zückte ein weißes Stofftaschentuch aus seinem schwarzen Gewand und schien tatsächlich für einen Moment innerlich mit sich zu ringen, ob er darauf spucken sollte, um damit die Oberlippe von Nr. 1 zu reinigen.

      Vermutlich tauchte dann das Bild, wie ihn seine Mutter oder seine Tante auf diese Art als Kind gereinigt hatte, vor seinem geistigen Auge auf, denn ein fröstelndes Zucken durchlief seinen Körper. Er steckte sein Taschentuch wieder ein und drückte den Rufknopf für die Pfleger, der seitlich in der Wand eingelassen war.

      »Waren das die beiden Pfleger?«, fragte er an Nr. 1 gewandt. »Jonas Mengele und Daniel Becker? Bitte blinzeln Sie zweimal für Ja und einmal für Nein

      »Blöde Frage, wie soll man da antworten, wenn es lediglich einer von beiden war«, dachte ich. Die gleiche Frage stellte sich wohl auch Nr. 1 und schloss die Augen um nachzudenken. Vielleicht stellte er auch die gleichen Überlegungen an wie ich vorhin. Wenn er jetzt petzte, womit würde es Mosquito ihm heimzahlen?

      »Bitte antworten Sie mir! Waren es die beiden Pfleger?«

      Die Tür wurde aufgerissen, Brötchen kam hereingestürzt und befreite damit Nr. 1 aus seinem Dilemma. Als er Bruder Martin sah, fragte er völlig außer Atem: »Ich habe einen Notruf bekommen, was kann ich tun?«

      »Schauen Sie sich mal die Oberlippe von Nr. 1 an, vielleicht erinnern Sie sich dann daran, was Sie tun und vor allem was Sie lassen könnten!«, antwortete Bruder Martin scharf.

      »Ach Du Sch…, Entschuldigung, das ist mir gerade nur so rausgerutscht. Das war ich nicht, ich schwör's!«

      »Bei wem?«, fragte Bruder Martin.

      »Ich schwör‘s bei Gott – ich schwör's bei allem, was mir heilig ist. Bitte glauben Sie mir, Bruder Martin.«

      »Na, das hört sich schon besser an, aber helfen Sie jetzt diesem Mann.«

      »Das ist ja furchtbar! Bin schon dabei«, sagte Brötchen gehetzt und stürmte zur Tür hinaus, um gleich darauf mit seinem Servicewägelchen wieder hereinzustürzen.

      »Bin schon dabei, bin schon dabei.« So gehetzt und devot hatte ich Brötchen noch nie erlebt. Er musste einen Heidenbammel vor dem Priester oder dessen Macht haben.

      »Ja, ja, schon gut, nur machen Sie, machen Sie schnell!« Während er das sagte, ließ Bruder Martin seinen Blick über seine anderen Schäfchen gleiten. Die anderen hatten die Holografien über ihren Betten abgeschaltet und wollten wohl ebenfalls mitbekommen, was sich gerade abspielte.

      »Mein Gott – vergib mir Vater – sehen Sie nur! Nr. 4 und Nr. 5 haben auch Sch… äh sind auf die gleiche Art beschmutzt wie Nr. 1!«

      »Das ist doch wohl kein Zufall, Herr Becker? Oder? Also was ist passiert? In dieser Schicht hatten nur Sie und Herr Mengele Zutritt zu diesem Trakt! Ich werde Sie wohl der Gefängnisleitung melden müssen!«

      »Bruder Martin, bitte tun Sie das nicht«, sagte Brötchen mit gesenktem Kopf. »Bitte tun Sie das nicht! Ich weiß wirklich nicht, was passiert ist, aber ich werde mir Mosquito, äh Herrn Mengele, höchstpersönlich vorknöpfen. Ich fühle mich für ihn verantwortlich, schließlich habe ich ihn auf diesen Posten eingelernt. Ich weiß wirklich nicht, was in ihn gefahren ist! Aber seien Sie sicher, ich kümmere mich umgehend darum. Bitte geben Sie uns, äh, bitte geben Sie mir die Chance das Ganze wieder ins rechte Licht zu rücken.«

      "Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das hinbekommen, Herr Becker? Sie wissen, wenn dies nicht der Fall sein sollte, dann fällt auch ein Schatten auf mich. Und Sie wollen mich doch sicherlich nicht in Schwierigkeiten bringen ... oder Herr Becker?«, fragte Bruder Martin mit einem scharfen, drohenden Unterton.

      »Nein – nein um Himmels willen, wo denken Sie hin«, stammelte Brötchen. Ihr Wohl liegt mir am Herzen, ich werde Sie niemals in Bedrängnis bringen, seien Sie unbesorgt, Bruder Martin. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, dass so etwas nie wieder vorkommt.«

      »Na, dann hoffen wir für uns beide und insbesondere für Sie, dass Ihre Macht tatsächlich ausreicht, hier sofort wieder Ordnung hineinzubekommen. Ich verlasse mich ganz auf Sie. Sollten Sie mich enttäuschen, dann … aber bis dahin haben Sie ja noch etwas Zeit, sich zu bewähren. Ich bin die nächsten vier Wochen nicht im Haus, da ich höhere Aufgaben erfüllen darf. Also enttäuschen Sie mich nicht! Wenn ich zurückkomme, will ich hier alles pikobello vorfinden, haben wir uns verstanden?«

      Trotz seiner massigen Figur stand Brötchen zusammengefallen da wie eine nasse Semmel. Die Schultern hingen schon so weit nach vorne herunter, als wären sie ausgekugelt.

      »Verlassen Sie sich auf mich, Bruder Martin, ich werde Sie nicht enttäuschen, ganz bestimmt nicht.« Bruder Martin stand bereits in der geöffneten Tür.

      »Gott stehe Ihnen bei!«, sagte er mit der tonlosen Doppelzüngigkeit einer Schlange. Die Tür ging zu, um keine zwei Sekunden später wieder aufzuschwingen.

      »Und vergessen Sie nicht, die beiden anderen zu reinigen! Apropos vergessen …« Er griff in seine schwarze Robe und zog seine Fernbedienung aus der Tasche. »Jetzt hätte ich beinahe versäumt, Ihnen allen noch einmal die Chance zu geben, an der Barmherzigkeit des Christentums teilzuhaben. Ich stelle Ihre Holo-Flat-Pads wieder auf die Grundeinstellung um. Ich bin sicher, Sie werden mir dankbar sein! Also dann, wir sehen uns wieder in vier Wochen. Möge Gott mit Ihnen sein.«

      Die Tür schloss sich hinter ihm und wir waren mit Brötchen allein.

      »Mosquito«, sagte er kochend vor Wut. »Ich klatsch Dich an die Wand…«

      Dankbarkeit

      Ich war Bruder Martin tatsächlich überaus dankbar. Zum einen natürlich, weil er Brötchen mit Nachdruck dazu angeleitet hatte, unsere Oberlippen gründlich zu reinigen. Zum anderen hatte er die Holo-Flat-Pads auf die Grundeinstellung zurückgesetzt und damit unbewusst die Blockade der Religionsauswahl aufgehoben. Innerlich triumphierend stellte ich mein Holo-Flat-Pad auf Buddhismus ein, ohne jedoch zu wissen, ob dies tatsächlich die gewünschte Erleichterung bringen würde.

      Mein Nachbar, der Brandstifter, zeigte seine Dankbarkeit völlig anders. Er ließ die Einstellung tatsächlich auf Christentum, zumindest für den Moment.

      An diesem Tag war kein Zwangsprogramm angesagt und das war schön. Wie ich feststellen sollte, war jedes Wochenende frei und man konnte seinen Hobbys nachgehen. Wobei »nachgehen« alles andere als ein treffender Ausdruck war, genauso wie auch »Hobbys« in unserer Situation einen zynischen Beiklang hatte.

      Mein Rücken schmerzte nach wie