Martin Romey

KÖRPER-HAFT


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sah das Kehrwasser für diese Situation aus?

      Der weiße Elefant

      Meine Gedanken rotierten um genau diese Frage wie der Strudel in einem Abfluss. Wie sah dieses Kehrwasser aus? Was sollte ich mit diesem Vergleich anfangen? Wie konnte ich ihn benutzen, um der Hirnwäsche zu entkommen? Wie konnte ich meine Situation etwas erträglicher machen? Fragen über Fragen, meine Schläfen taten mir schon weh und ich merkte, dass ich einfach zu verkrampft an das Thema heranging. Wenn ich mich in der Agentur um eine kreative Lösung bemühte, war es das Beste, eine Nacht darüber zu schlafen oder sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Ich hatte einfach eine Blockade. Das ist wie mit dem berühmten weißen Elefanten: »Denken Sie die nächsten zwei Minuten auf keinen Fall an einen weißen Elefanten! Auf keinen Fall!«

      Sie werden Probleme haben, sich keinen weißen Elefanten vorzustellen! Das ist ein klassisches Beispiel für eine Blockade, die eigentlich nur durch Ablenkung aufgelöst werden kann …

      Gerade als ich mich mit dieser Analogie versuchte abzulenken, sah ich aus den Augenwinkeln, dass Jesus über Bett Nr. 4 zusammenbrach, um als Hinduistischer Brahmane wieder aufzuerstehen. Ich glaubte, die tiefe Zufriedenheit und Genugtuung von Nr. 4 regelrecht zu spüren. Kurz darauf fiel Jesus auch über Bett Nr. 3 in sich zusammen, um sich als Hadsch um die Kaaba wieder zu formieren. Abermals konnte ich die Genugtuung regelrecht fühlen. Die Holografien schienen eine Art Bildschirmschoner ohne Inhalt zu sein. Kurz darauf veränderten sich die Holografien und schienen irgendwelche religiösen Rituale zu zeigen und zu beschreiben. Meine Neugier an diesem Holo-Flat-Dings-Bums war geweckt. Vielleicht sollte ich mich ja auch endlich damit auseinandersetzen …

      … immer noch besser, als weiterhin aktiv an Kehrwasser und weiße Elefanten zu denken. Die Menüführung des Holo-Flat-Pads war intuitiv gestaltet und ich fand mich schnell darin zurecht.

      Neben den Grundeinstellungen für das Sozialisierungsprogramm entdeckte ich auch ein paar virtuelle Nachschlagewerke und ein TV-Programm mit dem man sich in seiner »Freizeit« vergnügen konnte. Vom Nachrichtensender über Spielfilmsender, Musikkanäle und einen Yogasender gab es nahezu alles, was der fernsehsüchtige Durchschnittsbürger zu brauchen glaubt.

      Ich zappte mich durch die Programme, ließ in einem der Pop-Classic-Kanäle Michel Jackson als Holografie einen Moonwalk über meinem Bauch machen. Ich ließ die Titanic über mir versinken, um sie kurz darauf von einer imposanten Weltraumschlacht abzulösen. Alles war bunt, schnell und in phantastischen Holografien verpackt. Aber gerade diese Detailvielfalt ermüdete mich schneller, als ich gedacht hatte, und ich schaltete auf die normale 3-D-Darstellung um. Es war mir schon beinahe übel von all diesem holografischen Gewirr geworden. Die Übelkeit konnte natürlich auch eine Nebenwirkung dieses roten BSS-Serums sein, das meinen Körper in ein bewegungsloses Stück Fleisch verwandelt hatte und vielleicht auch weiterhin veränderte. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich gerade aussah. Kein Spiegel weit und breit!

      3648

      Plötzlich kam mir eine Idee. Wenn ich schon im virtuellen High-Tech-Land als blinzelnde Mumie unter diesem Holo-Dingsda lag, dann brauchte ich doch gar keinen Spiegel! Ich suchte die obere Gerätekante nach einer kleinen Kamera ab. Bingo! Sie war tatsächlich da. Sie konnten mich also Tag und Nacht beobachten, sehen, was ich gerade tat. Zugegeben, ich lag hier wie ein zusammengerollter Teppich in einem Bett, konnte herumblinzeln und vielleicht auch noch schockiert dreinschauen. Aber sonst?! Da gab es nicht viel zu sehen. Ich lag unter einer Bettdecke, konnte zur Zimmerdecke starren oder die Augen schließen. Dass ich unter meiner Bettdecke nichts außer dieser ominösen Latexmanschette anhatte, konnte die Kamera nicht sehen. Dennoch fühlte ich mich nackt, beobachtet und in meiner Privatsphäre gestört.

      Aber mein ursprünglicher Gedanke war ja auch ein gänzlich anderer. Ich wollte sehen, ob ich mich mit diesem Wunderding auch selbst sehen konnte. Nach einigem Herumprobieren fand ich schließlich das Menü Personenstatus. Noch einmal blinzeln und ich konnte mich oben sehen, wie ich da unten in einem weißen Bett lag. War ich das tatsächlich?

      Man hatte mir den Schädel rasiert, aber die ersten Stoppeln kamen schon zum Vorschein. Anhand der Länge meiner Bartstoppeln schätzte ich, dass ich seit circa drei Tagen hier liegen musste. Die Wangen waren eingefallen und irgendwie sah meine Haut grau aus. Meine Augen lagen fiebrig glänzend in dunkel geränderten Höhlen. Selbst wenn ich einmal – was wirklich selten vorkam – dem Alkohol gestattete, bis in die letzten Kapillaren meiner Blutgefäße vorzustoßen, sah ich normalerweise besser aus. Ich wirkte, als hätte man mich zum Sterben in dieses Zimmer geschoben. Ich war geschockt!

      Erst jetzt nahm ich die Informationszeilen wahr, die neben meinem ausgemergelten Konterfei standen. Alter: 36, Gewicht: 82 Kilogramm, Geschlecht: männlich. Zumindest das wusste ich jetzt mit Gewissheit. Die restlichen Informationen wie zum Beispiel den Blutdruck konnte man nach Belieben herunterscrollen.

      Schließlich kam ich an den Punkt Restlaufzeit: 3648. Restlaufzeit? Das hörte sich für mich nach der verbleibenden Laufzeit eines Atomkraftwerks an. Und 3648? Keine Ahnung! Ich fixierte die Zahl und blinzelte mit dem rechten Auge, um in das Untermenü zu gelangen. Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Sekunden standen dort.

      Das Wort Tage war grau unterlegt. Ich begriff und ließ alle Hoffnung fahren. Noch 3648 Tage, die ich auf diese Weise vor mich hinvegetieren sollte. Ich wagte erst gar nicht, die Restlaufzeit auf Stunden oder gar Sekunden umzustellen. Nur um eine riesige Zahlenkolonne wie auf der Uhr der Steuerzahler zu sehen, die immer schneller die Zahlen wechselt? Nein, danke!

      Stattdessen machte ich folgende Formel auf: Jeder Tag weniger Haft, ein Tag weniger meiner Qual = Jeder Tag weniger Qual, ein Tag weniger vom Rest meines Lebens.

      Ich hasse nichts mehr als sentimentales Selbstmitleid. Dennoch badete ich geradezu darin, tauchte ein und ließ mich darin versinken. Das Bild vor mir wurde unscharf, verschwamm wie ein Aquarell und wurde im Bad meiner Tränen vollends aufgelöst.

      Ich schloss völlig deprimiert meine Augen, um mich wenigstens dahin zurückzuziehen, wo ich mich bis dahin sicher fühlte ... in den Schlaf.

      Noch während ich nach dem erlösenden Schlaf suchte, hatte ich in Gedanken ein Plakat zur Szene gestaltet: Es zeigte meinen eigenen Kopf, wie ich ihn kurz zuvor noch über das Holo-Flat-Pad gesehen hatte. Allerdings war er komplett, wie der einer Mumie, in Mullbinden eingewickelt. Lediglich der Ausschnitt meiner Augen blieb ausgespart. Sie blickten panisch zwischen schwarzen Gitterstäben hindurch. Diese steckten im Fleisch meines Gesichtes und vergitterten die dunklen Augenhöhlen. Auf meiner Stirn prangte im Schriftcharakter einer Copperplate der Titel:

       Körper–Haft

      Und unten, wo die Bettdecke das Plakat begrenzte, stand:

       Jetzt im Kino!

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      Doch das Kino in meinem Kopf hörte auch dann nicht auf zu flimmern, als ich endlich eingeschlafen war …

      Die Grube

      Schweißgebadet wachte ich auf. Mein Atem ging schnell, mein Puls raste. Die Tür wurde aufgerissen und zwei Pfleger sprangen auf mich zu. Währenddessen flammte die Deckenbeleuchtung auf und blendete mich wie das stechende Licht bei einer Migräneattacke. Ein ohrenbetäubender Pfeifton erfüllte den Raum. »Sein Vitalometer hat den Alarm ausgelöst – los hau ihm schnell was von dem Beruhigungszeugs in den Arm, bevor der Alarm die anderen auch noch in Panik bringt.«

      Der andere Pfleger nahm grob meinen rechten Arm und schob den Ärmel hoch. Ohne auch nur an eine Desinfizierung zu denken, setzte er die Nadel an und spritze mir eine klare Flüssigkeit in den Arm. »Verdammt noch mal, steh nicht so blöd rum und schalt den