Annah Fehlauer

Worte wie wir


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des Kuchens dann meist mitnehmen und in der Klasse oder beim Hockey-Training verteilen. An manchen Tagen be­hielt auch Catharina einen größeren Teil, um ihn ihren Nach­hilfeschützlingen anzubieten.

      Als Marie, wie üblich hüpfend, die zwei Treppen­absätze nach unten genommen hatte und längst wieder zu Hause war, war Catha­rina noch damit beschäftigt, die Über­reste ihres ge­mein­samen Nachmittags aufzuräumen. Dabei ließ sie einzelne Teile des Nachmittags noch einmal Revue passieren. Bei der Er­in­ne­rung an Maries Erfindungsreichtum schmunzelte sie un­will­kür­lich. Wummelige Würstchen... Wolken­wale, Wolken­drachen und Wol­kenschafe. Irgendwo, weit in den Tiefen ihres Gedächt­nisses ver­nahm sie dabei den Wider­hall einer Gedicht­zeile. Oder war es ein Liedtext gewesen? Natürlich, das war es. Nun kam auch die Melo­die Ton für Ton zu ihr zurück, und leise summte sie die Zeilen, die aus den Untiefen ihrer Erinnerung an die Oberfläche drangen. Mit dir würd’ ich glatt über den Eissee geh’n, jederzeit mit dir Wolkenschafe stehl’n, dem Meer auf den Grund geh’n und dir auf den Leim, ans andere Ende der Welt, nie zurück....

      Bis dahin kam sie noch, doch der Rest des Textes blieb verschollen. Nun, das war wenig verwunderlich. Wie lange war es jetzt her, dass sie das Lied zum letzten Mal gehört hatte? Sie rechnete nach.... zehn Jahre? Viel verwunderlicher war, dass sie die Stimme, die das Lied gesungen hatte, nach all diesen Jahren noch immer so deutlich hören konnte. Da sang sie, mitten in ihrem Kopf.

      Catharina schüttelte, halb lächelnd, halb unwillig den Kopf über sich selbst und brachte den Nachhall der singenden Stimme zum Verstummen, indem sie das Radio anstellte. In den nächstbesten Song, der gerade gespielt wurde, stimmte sie kraftvoll mit ein.

      ...2...

      „Hast du denn eigentlich noch nie gelogen?“, Marie sah auf­merksam zu Catharina hinüber, die gerade dabei war, Zwiebeln zu schneiden.

      Catharina zögerte einen Augenblick, bevor sie ant­wor­tete. Sollte sie die Wahrheit sagen? Sie verhedderte sich in ihren Gedanken. Nicht, dass sie gezweifelt hätte, ob Marie die Wahr­heit zuzumuten wäre. Marie würde es zweifelsohne ver­kraften zu hören, dass auch ihre verehrte Catharina nicht frei von Fehl und Tadel war.

      Das war es nicht. Nein, Catharina war unsicher, ob sie der Frage, die nahezu zwangsläufig als nächstes gestellt werden würde, gewachsen wäre. Die Frage, warum und in welcher Situation sie gelogen habe. Welchen Inhalt die Lüge gehabt habe.

      Doch die Frage zu verneinen würde bedeuten, Marie zu belügen. Und wie Marie sehr gut wusste, und Catharina eben­so, war Catharina im Grunde ihres Herzens eine heiß­blütige Verfechterin der Wahrheit.

      „Doch, ich habe schon gelogen.“ Catharina sprach die Worte bedächtig aus, halb in der Hoffnung, Marie wäre zu sehr mit Malen beschäftigt, um sich wirklich für ihre Worte zu interes­sieren, halb in der Gewissheit, dass Marie weiter nach­fragen würde.

      „Und warum sagst du dann, dass Lügen nicht gut ist?“ Maries Frage lautete ein klein wenig anders als erwartet, lief aber dennoch in eine Richtung, die der vorhergesehenen gefährlich ähnlich war.

      Diesmal zögerte Catharina noch länger. Sie schnitt die Zwiebel in äußerst feine Stücke und wischte sich anschließend etwas umständlich die Finger an der gestreiften Schürze ab, bevor sie antwortete.

      „Weil ich mir nicht sicher bin, dass es richtig war, zu lügen.“

      Catharina sagte die Wahrheit. Sie gestand sich mit diesen Worten etwas ein, was sie jahrelang versucht hatte, vor sich selbst zu verbergen. Sie zweifelte. Sie zweifelte immer wieder daran, ob die Entscheidung, damals zu lügen, wirklich richtig gewesen war. Oder einer der größten Fehler ihres Lebens.

      „Und weil ich denke, dass die Wahrheit stärker ist als die Lüge. Lügen machen das Leben grau.“ Da war es. Sie hatte es gesagt, ohne weiter nachzudenken.

      „Und einsam. Lügen macht einsam.“

      „Bist du einsam?“, Marie zog fragend die Augenbrauen hoch.

      Catharina riss sich aus den eigenen Gedanken zurück, warf ihren Kopf nach hinten und antwortete: „Nein. Ich hab doch dich! Und Jule.“ Als wisse sie genau, dass von ihr die Rede sei, strich die Katze ihr in diesem Augenblick um die Knie, offensichtlich bereit für eine Streicheleinheit.

      Marie kicherte ein wenig, erhob sich von der Küchenbank, schlenderte zur Anrichte und schmiegte sich schließlich an Catharinas Seite. Nachdenklich schob sie ein paar Zwiebeln auf dem Brett umher.

      „Und wenn ich nicht da bin?“, im Tonfall des Mädchens schwang etwas Sorge mit. „Ich bin doch nur zweimal die Woche da.“

      „Auch wenn du nicht hier bist, geht es mir gut, meine Süße“, bei diesen Worten legte Catharina den Arm um das Mädchen und drückte sie kurz.

      „Also ist dein Leben nicht grau, weil du fast immer die Wahrheit sagst“, Marie nickte zufrieden.

      „Und als du gelogen hast, hattest du da etwas ausgefressen?“, die kleinen Grübelfalten erschienen erneut auf ihrer Stirn.

      Catharina spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog.

      „Nein, Marie. Ich hatte nichts ausgefressen. Es war eher eine Art Not­lüge. Ich wollte jemandem damit helfen.“ Und ich hoffe zu­tiefst, dass es tatsächlich geholfen hat. Wie unser Leben wohl ver­laufen wäre, wenn ich nicht gelogen hätte?

      „Mama sagt, Notlügen sind ganz okay. Sie meint, es gibt schwarze Lügen und graue und weiße. Die weißen sind die Not­lügen. Schwarz ist, wenn man was Schlimmes angestellt hat und es nicht sagt oder wenn man über jemanden petzt, obwohl der gar nichts gemacht hat. Was die grauen sind, weiß ich nicht mehr genau.“

      „Tja weißt du, und genau da bin ich mir nicht mehr sicher, Marie. Ich dachte lange Zeit auch, Notlügen sind zur Not in Ordnung, sind sozusagen weiße Lügen. Wenn es zum Beispiel wirklich darum geht, jemandem zu helfen. Heute weiß ich es nicht mehr so recht.“

      „Wem wolltest du denn eigentlich helfen? Deinem besten Freund?“

      Nein, den habe ich benutzt für meine Lüge, Catharina spürte einen Stich in der Brust. „Nein, nicht meinem besten Freund. Aber eine sehr gute Freundin.“

      „Deine beste Freundin?“

      „Ich hatte eigentlich immer einen besten Freund anstelle einer besten Freundin. Aber ja, so ähnlich wie eine beste Freundin war sie.“ So viel mehr als das.

      „Und was hat sie angestellt, dass du ihr helfen und für sie lügen musstest?“

      „Ich habe nicht für sie gelogen, sondern sie war diejenige, die ich angelogen habe.“

      „Aber sie war doch deine beste Freundin, oder sowas in der Art halt. Wieso hast du sie denn angelogen? Und wem wolltest du dann damit helfen?“

      Catharina schluckte.

      „Ich habe sie angelogen, weil ich ihr helfen wollte. Ich dachte, sie sei dabei, einen großen Fehler zu machen. Und ich habe gelogen, damit sie diesen Fehler nicht macht. Danach habe ich sie nie wieder gesehen. Ich weiß also nicht, ob meine Lüge ihr wirklich geholfen hat. Ich nehme es ganz fest an und ich hoffe es, weil sie mir sehr am Herzen liegt. Aber ich weiß es nicht.“

      Abermals schluckte Catharina hörbar. „Und jetzt würde ich auch lieber nicht mehr weiter davon sprechen.“

      Marie schwieg. Weil sie es an Catharina so mochte, dass sie sie in Ruhe ließ, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollte, hatte sie sich angewöhnt, sich ebenso zu verhalten. Es fiel ihr spür­bar schwer, nicht weiter nachzufragen nach den Hinter­gründen dieser Lüge und dieser ehemals besten Freundin, aber sie kam Catharinas Wunsch nach.

      Catharina konzentrierte sich auf die nächsten Zu­bereitungs­schritte für ihre und Maries Lieblingsspaghetti. Den Knoblauch schnitt sie in ebenso feine Stücke wie zuvor die Zwiebel, gab etwas Olivenöl in den Topf, ließ die Zwiebel dazu