Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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nach vorne, um näher bei Fox zu sein. Sie flüsterte ihm zu: „Frag doch mal unauffällig nach dem Namen unseres Vorgängers. Vielleicht hat es ja was zu bedeuten, dass er überraschend abreisen musste.

      Prancock schob sein Schüsselchen beiseite. Bereits nach einem kleinen Löffel war ihm der Appetit vergangen. Auch er nahm sein Weinglas, trank aber zunächst noch nichts.

      „Du hast recht!“, flüsterte er zurück. „Aber solltest das nicht du machen? Dein Französisch ist viel besser als meines!“

      „Na gut“, seufzte Ilka und legte sich eine Formulierung zurecht.

      Schon wenige Minuten später trat der Ober zu ihnen und fragte, ob er abräumen dürfte. Ilka strahlte den jungen Franzosen so herzlich an, dass Fox ihn am liebsten standrechtlich erschossen hätte.

      „Oui, merci“, flötete Ilka. Der Kellner begann Geschirr und Besteck auf ein Tablett zu legen, als sie ihn fragte: „Sagen Sie, wem haben wir es eigentlich zu verdanken, dass wir hier in dieser wundervollen Pension logieren können?“

      „Ihren guten Finanzen, nehme ich an!“

      „Wie witzig!“, dachte Fox und schnaubte innerlich. Diese Art von Scherzen konnte er nur vertragen, wenn sie von ihm selbst stammten – oder von Ilka. Der Ober begann ihn an Steffens zu erinnern. Noch ärgerlicher fand Fox, dass Ilka den Witz mit einem herzhaften Lachen goutierte.

      „Natürlich!“, sagte sie und lächelte charmant. Als hieße sie Catherine Deneuve, strich sie sich eine imaginäre Haarsträhne aus dem Gesicht, hielt den Rücken gerade und legte den Kopf leicht schräg. In dieser Pose verharrend, hakte sie nach: „Ich kann nur nicht verstehen, dass jemand hier vorzeitig abreist. Was war das denn für ein Gast?“

      „Darüber, Madame, kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben!“

      „Aber deine Augen sprechen Bände, du Schleimer!“, tobte Mr. Eifersucht in Fox. Krampfhaft bemüht, die Form zu wahren, sah Prancock seine Freundin an. Zu seinem Entsetzen schaltete sie auf Flirtstufe zwei: Sie hob die Augenlider mit bedächtigem Schwung und fixierte den jungen Servierer. Ihr Blick verströmte pures Charisma. Der Kellner hatte große Mühe, nicht zu erröten. „Natürlich nicht“, beteuerte sie betont verständnisvoll, „aber leider hat Monsieur etwas in unserem Zimmer vergessen! Wir würden es ihm gerne zukommen lassen!“

      „Nun, Madame“, setzte der Kellner an und lächelte verlegen – das Barometer in Fox’ Magengegend zeigte auf „Langsam reicht’s!“ – „dann deponieren Sie Ihren Fund doch beim Portier. Wenn unser Gast den Verlust bemerkt, wird er sich wahrscheinlich telefonisch in der Rezeption melden. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Madame.“ Er war schon dabei, mit seinem Servierwagen zu enteilen, da wandte er sich noch an Prancock: „Ihnen natürlich auch, Monsieur!“ Dann verschwand er zielstrebig in die Küche.

      „Warum hat er es denn plötzlich so eilig?“, wunderte sich Ilka. Sehr zu Fox’ Missvergnügen starrte sie dem Ober nach.

      „Wahrscheinlich hatte er Angst, dass seine Erektion ihm die Hose sprengt!“, knurrte Fox vor sich hin. Demonstrativ stierte er in sein Weinglas. Gerade wollte er es an den Mund heben, als eine Berührung ihn erschauern ließ: Ilka hatte sachte ihre Hand auf seine gelegt. Er sah sie an. Der Anblick der zarten Finger weckte sein Verlangen. Er hob den Kopf und sah Ilka in die Augen. Fox war wie vom Donner gerührt und von tausend Blitzen elektrisiert: Die Flirtshow mit dem Kellner war nur ein schwacher Abglanz dessen gewesen, was er nun in Ilkas Blick erkannte.

      „Wollen wir die Ermittlung vielleicht lieber morgen fortführen?“, hauchte sie.

      Er trank hastig aus und nickte ihr zu: „In Ordnung, Frau Kommissar, aber den Portier knüpfe ich mir vor!“

      „Alles klar, Jeannie, die Party kann steigen!“, verkündete Jasmin fröhlich und marschierte herein.

      Janine saß am Fenster und sah hinunter auf den Hof. Viele Freunde und Bekannte entfachten dort Grillfeuer, redeten, spielten und musizierten. Die Rührung darüber, dass sie alle gekommen waren, um ihr zu helfen, packte Jeannie. Natürlich wollte sie ihre Lieben nicht enttäuschen – und doch krampfte sich ihr Herz zusammen, wenn sie sich vorstellte, nun zu feiern.

      Als Jeannie nicht reagierte, trat Jasmin zu ihr. „Dir ist das zu viel, oder?“

      Die kleine Hexe war dankbar, dass sie das nicht selbst hatte aussprechen müssen. Sie wandte ihr Gesicht Jassy zu. Diese erkannte neben einem Ausdruck der Hoffnung jede Menge Unsicherheit, Traurigkeit und Angst. Wohl wissend, dass jedes weitere Wort nur eine leere Hülse aus Buchstaben bleiben würde, nahm sie Janine in ihre Arme und zog sie mit sanftem Nachdruck an sich.

      „Gestern wäre ich hier fast gestorben!“, flüsterte die kleine Gestalt mit dem zerschundenen Gesicht.

      Jasmin fühlte, wie sich die Finger ihrer Freundin in die Falten des Stoffes krampften. Jassy ließ ihre Hände langsam an Jeannies Rücken hochkrabbeln und begann dann, sie am Haaransatz im Nacken zu streicheln. Jeannie drückte ihren Kopf noch fester an Jasmins Brust, schlang die Arme nun regelrecht um die Hüften ihrer Freundin. Sie begann das dunkle Gebräu von ängstigenden Bildern in sich aufzulösen und mit ihren Tränen herauszuspülen. Ihr war klar, dass das nicht in diesen Minuten zu schaffen war, vielleicht Monate oder Jahre dauern könnte, aber nun ergab sie sich dankbar in ihre ganz persönliche kleine Ewigkeit.

      Jassy liebkoste Jeannie unermüdlich weiter. Am liebsten wollte sie Angst und Verzweiflung aus ihrer Freundin einfach herausstreicheln. Sie spürte, wie Janine sich entspannte, das Schluchzen nachließ und der Kopf an ihrem Busen leichter zu werden schien.

      „Leg dich schlafen!“, flüsterte Jasmin der noch immer zitternden kleinen Hexe ins Ohr.

      „Alleine? Hier? Ich weiß, ich darf nicht davonlaufen, aber ...“

      „Ich bleibe bei dir!“, sagte Jasmin leise.

      „Aber das Fest! Und die Band! Ihr wolltet doch noch spielen!“

      „Morgen, Jeannie, morgen!“

      Er konnte fast nichts mehr erkennen, da die Sonne mittlerweile komplett in ihr Nachtasyl entschwunden war. Nur noch die Flammen eines kleinen Lagerfeuers strahlten einige Jugendliche und Erwachsene an. Die zunehmende Dunkelheit schien die Schmerzen in seinem gepeinigten Auge zu lindern, aber die Reste eines wehen Pochens trieben ihn weiter an. Wie taktiler Technobeat hämmerte es in seinem Augapfel. Sein Herzschlag schien sich mit jenem dumpfen Rhythmus zu synchronisieren. Gleichförmig artikulierte sich der Sound in einer stimmlosen Trance- und Dancefloor-Tirade: „Hass! Hass! Hass! Hass! Hass!“

      Ja, er hasste sie, alle, die da drüben lachten, aßen und tranken. Sie waren nicht von seinem Blut. Die, die es doch waren, begingen Verrat. Das war sogar Hochverrat! Er konnte Gesichter und Staturen der Menschen im Flackern des Feuers nicht mehr unterscheiden. Egal: Sie waren alle gleich. Ihre Nutzlosigkeit vereinte sie. „Noch lacht ihr in das Feuer“, geiferte er mit unverhohlenem Hass, „aber bald werdet ihr selbst brennen.“

      Trance und Techno änderten den Beat. Zum Hass des Beobachters gesellte sich Hohn. Erst einmal hatte der Gedanke ihn erstaunt, aber nun spürte er bereits Erregung und Vorfreude. Er hielt den Atem an und sprach ein lautloses „Plan zwei!“ in das friedliche Gurren der Nachtvögel hinein.

      Sonntag

      01:36 brannte der Wecker seine Botschaft glutrot und digital in die Dunkelheit. Penny zog energisch ihre Bettdecke hoch ans Kinn und war fest entschlossen, endlich einzuschlafen. Ein kurzes Flackern, dann leuchteten ihr die Ziffern 01:37 entgegen.

      Sie bemühte sich, einen harmonischen Film vor ihrem inneren Auge ablaufen zu lassen: Wie wär’s mit einem Remake von „Bilitis“? Mit ihr selbst in der Hauptrolle – und Steffens als männlichem Star? Der Weichzeichnereffekt wollte sich dabei allerdings nicht so recht einstellen. Ganz unpassend für eine Hommage an Hamiltons Klassiker, hatte der frischgebackene Kommissar seinen alten Trenchcoat an. Die Landschaft hingegen war perfekt: Sanftes Grün waberte auf leicht verschwommenen Baumwipfeln im Wind. Die Musik von Francis Lai schmalzte und triefte wie gewohnt.